‘Abdu’l-Bahá | Ansprachen in Paris
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44:4
Die Einheit Gottes ist logisch, und dieser Gedanke steht nicht im Widerspruch zu den Forschungsergebnissen der Wissenschaft.
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Alle Religionen lehren uns, das Gute zu tun, großmütig, aufrichtig, wahrhaftig, gesetzestreu und ehrlich zu sein. Dies alles ist vernünftig und logischerweise der einzige Weg, auf dem die Menschheit vorwärts kommen kann.
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Alle religiösen Gesetze entsprechen der Vernunft und sind den Menschen angemessen, für welche sie geschaffen wurden, sowie dem Zeitalter, in dem ihnen gehorcht werden muss.
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Die Religion umfasst zwei Hauptteile:
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(1) den geistigen Teil,
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(2) den praktischen Teil.
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Der geistige Teil bleibt immer unverändert. Alle Manifestationen Gottes und Seine Propheten lehrten die gleichen Wahrheiten und gaben das gleiche geistige Gesetz. Sie alle lehren das eine Buch der Gesittung. In der Wahrheit gibt es keine Spaltung. Die Sonne hat viele Strahlen ausgesandt, um den menschlichen Verstand zu erleuchten; das Licht ist immer das gleiche.
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Der praktische Teil der Religion hat es mit äußeren Formen und Gebräuchen zu tun und mit der Art, gewisse Vergehen zu bestrafen. Dies ist die materielle Seite des Gesetzes, und sie leitet die Gewohnheiten und Sitten der Menschen.
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Zu Zeiten Mose wurden zehn Verbrechen mit dem Tod bestraft. Dies änderte sich, als Christus kam. Der alte Grundsatz »Auge um Auge, Zahn um Zahn«Ex. 21:24, Lev. 24:20 – Anm. d. Hrsg.Q wurde zu »Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen«Lk. 6:27 – Anm. d. Hrsg.Q, und das starre, alte Gesetz wurde in Liebe, Erbarmen und Duldsamkeit umgewandelt.
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In früheren Zeiten wurde Diebstahl mit dem Verlust der rechten Hand bestraft. In unserer Zeit wäre dieses Gesetz nicht anwendbar. In diesem Zeitalter darf ein Mensch, der seinen Vater verflucht, noch weiterleben, während man ihn früher zum Tod verurteilt hätte. Darum ist es klar, dass sich das geistige Gesetz niemals wandelt, während die praktischen Vorschriften ihre Anwendung entsprechend den Erfordernissen der Zeit verändern müssen. Die geistige Seite der Religion ist die größere, die bedeutsamere von beiden, und sie ändert sich niemals. Sie bleibt die gleiche gestern, heute und immer! »Wie im Anfang, so auch heute und immerdar.«Vgl. Ps. 119:160, Spr. 8:22–23 – Anm. d. Hrsg.Q
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Nun sind alle im geistigen, unveränderlichen Gesetz jeder Religion enthaltenen sittlichen Fragen logisch richtig. Stünde die Religion im Gegensatz zur logischen Vernunft, so würde sie aufhören, Religion zu sein und wäre lediglich Überlieferung. Religion und Wissenschaft sind die beiden Flügel, auf denen sich die menschliche Geisteskraft zur Höhe erheben und mit denen die menschliche Seele Fortschritte machen kann. Mit einem Flügel allein kann man unmöglich fliegen: Wenn jemand, versuchen wollte, nur mit dem Flügel der Religion zu fliegen, so würde er rasch in den Sumpf des Aberglaubens stürzen, während er andererseits nur mit dem Flügel der Wissenschaft auch keinen Fortschritt machen, sondern in den hoffnungslosen Morast des Materialismus fallen würde. Alle gegenwärtigen Religionen sind zu abergläubischen Bräuchen herabgesunken und stimmen nicht mehr mit den wahren Grundsätzen der von ihnen vertretenen Lehre und auch nicht mit den wissenschaftlichen Entdeckungen unserer Zeit überein. Viele religiöse Führer sind zu der Auffassung gekommen, dass die Bedeutung der Religion hauptsächlich darin besteht, an einer Sammlung von bestimmten Dogmen und an der Ausübung von Riten und Zeremonien festzuhalten. Sie lehren diejenigen, für deren Seelenheil zu sorgen sie behaupten, in gleicher Art zu glauben wie sie selbst, und diese halten sich hartnäckig an die äußeren Formen und verwechseln diese mit der inneren Wahrheit.
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Diese Formen und Riten weichen nun in den verschiedenen Kirchen und bei den verschiedenen Sekten voneinander ab und widersprechen sogar einander, wodurch sie Anlass zu Uneinigkeit, Hass und Spaltung geben. Die Folge aller dieser Zwietracht ist die Meinung vieler gebildeter Menschen, dass Religion und Wissenschaft einander widersprechende Begriffe seien, dass die Religion keiner Überlegungskraft bedürfe und in keiner Weise durch die Wissenschaft gelenkt werden sollte, sondern dass beide notwendigerweise im Gegensatz zueinander stehen müssten. Die unglückliche Folge davon ist, dass die Wissenschaft abseits von der Religion dahintreibt und die Religion nichts als ein blindes und mehr oder minder gleichgültiges Befolgen der Vorschriften gewisser Religionslehrer ist, die auf Annahme ihrer eigenen Lieblingsdogmen dringen, selbst wenn sie der Wissenschaft widersprechen. Das ist eine Torheit, denn es ist völlig klar, dass Wissenschaft Licht ist, und daher steht Religion, die zu Recht so genannt wird, nicht in Widerspruch zur Wissenschaft.
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Wir sind vertraut mit den Ausdrücken »Licht und Finsternis«, »Religion und Wissenschaft«. Religion jedoch, die nicht mit der Wissenschaft Hand in Hand geht, befindet sich selbst in der Dunkelheit des Aberglaubens und der Unwissenheit.
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Viel an Zwietracht und Uneinigkeit in der Welt wird durch diese menschengemachten Gegensätzlichkeiten und Widersprüche hervorgerufen. Stünde die Religion im Einklang mit der Wissenschaft und würden sie miteinander gehen, so würde viel von dem Hass und der Bitternis vergehen, die die Menschenwelt jetzt ins Elend stürzen.
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Bedenket, was den Menschen von den übrigen erschaffenen Wesen unterscheidet und ihn zu einem besonderen Geschöpf macht. Ist es nicht seine Urteilsfähigkeit, seine Intelligenz, und sollte er sich nicht in seinem religiösen Forschen ihrer bedienen? Ich sage euch: wäget alles, was euch als Religion geboten wird, sorgfältig auf der Waage der Vernunft und Wissenschaft. Wenn es die Probe besteht, so nehmt es an, denn es ist die Wahrheit. Stimmt es hingegen nicht damit überein, so weist es zurück, denn es ist dann Unwissenheit.
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Blicket um euch und erkennet, wie die heutige Welt in Aberglauben und äußeren Formen untergeht!
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Manche beten das Werk ihrer eigenen Einbildung an; sie machen sich einen selbsterdichteten Gott und verehren ihn, obwohl das Erzeugnis ihres endlichen Verstandes nicht der unendliche, mächtige Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren sein kann. Andere beten die Sonne oder Bäume und Steine an. In früheren Zeiten gab es Menschen, die das Meer, die Wolken und selbst den Staub verehrten.
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Heute sind die Menschen in ihrer Verehrung derartig von äußeren Formen und Zeremonien abhängig geworden, dass sie so lange über einzelne kirchliche Bräuche oder besondere Übungen streiten, bis man allerseits über ermüdende Streitgespräche und Spannungen klagen hört. Es gibt Menschen, die einen schwachen Intellekt besitzen, und ihre Verstandeskräfte sind nicht entwickelt; aber man darf nicht etwa die Kraft und Macht der Religion wegen der Begriffsunfähigkeit dieser Menschen in Zweifel ziehen.
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Ein kleines Kind kann die Gesetze, die die Natur beherrschen, nicht verstehen, das rührt jedoch vom unreifen Verstand dieses Kindes her. Wenn es älter geworden und erzogen ist, so wird es auch die ewigen Wahrheiten verstehen. Ein Kind begreift nicht, dass sich die Erde um die Sonne dreht; wenn aber seine Intelligenz erwacht, so ist für ihn diese Tatsache ganz klar und eindeutig.
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Die Religion kann unmöglich im Gegensatz zur Wissenschaft stehen, wenn auch mancher Verstand zu schwach oder nicht reif genug ist, um die Wahrheit zu begreifen.
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Gott hat Religion und Wissenschaft gewissermaßen zum Maßstab unseres Verstehens gemacht. Seid achtsam, eine so wunderbare Kraft nicht zu vernachlässigen. Wägt alles auf dieser Waage.
44:25
Für den, der Fassungskraft besitzt, ist die Religion wie ein offenes Buch. Wie aber könnte ein Mensch ohne Vernunft und Verstandeskraft die göttlichen Wirklichkeiten verstehen?
44:26
Bringt euren ganzen Glauben in Übereinstimmung mit der Wissenschaft. Es kann keinen Gegensatz geben, weil es nur eine Wahrheit gibt. Wenn die Religion, befreit von Aberglauben, Überlieferungen und unverständlichen Dogmen, ihre Übereinstimmung mit der Wissenschaft dartut, so wird eine große einigende, reinigende Kraft in der Welt sein, die alle Kriege, Uneinigkeiten, Missklänge und Streitigkeiten vor sich herkehrt, und dann wird die Menschheit in der Macht der Gottesliebe vereinigt werden.
Fünftes Prinzip: Die Aufhebung der Vorurteile
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Paris, Avenue de Camoëns 4, 13. November 1911
45:1
Alle Vorurteile, seien sie religiöser, rassistischer, politischer oder nationaler Natur, müssen aufgegeben werden, denn diese Vorurteile haben die Krankheit der Welt verursacht. Es ist eine schwere Krankheit, die, wenn ihr nicht Einhalt geboten wird, die ganze Menschheit vernichten kann. Alle verderblichen Kriege mit ihrem furchtbaren Blutvergießen und Elend wurden durch das eine oder andere dieser Vorurteile hervorgerufen.
45:2
Die traurigen Kriege, die sich in diesen Tagen ereignen, werden durch den fanatischen religiösen Hass der Menschen untereinander oder durch die Vorurteile gegenüber der Herkunft oder Hautfarbe hervorgerufen.
45:3
Ehe nicht alle diese durch Vorurteile errichteten Schranken hinweggefegt sind, ist die Menschheit nicht in der Lage, Frieden zu halten. Darum sagte Bahá’u’lláh: »Diese Vorurteile wirken zerstörend auf die Menschheit.« Vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese 132:2 – Anm. d. Hrsg. Q
45:4
Denkt einmal über das Vorurteil der Religionen nach: Schauet euch die Nationen der sogenannten frommen Völker an. Würden sie wirklich Gott verehren, so würden sie Seinem Gesetz gehorchen, das ihnen untersagt, einander zu töten.
45:5
Würden die Priester der Religionen wirklich den Gott der Liebe verehren und dem göttlichen Lichte dienen, so würden sie ihre Anhänger lehren, das Hauptgebot zu befolgen, das heißt, »mit allen Menschen in Liebe und Barmherzigkeit zu verkehren« Vgl. Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Aqdas 144, Ährenlese 5:1 – Anm. d. Hrsg. Q. Doch wir begegnen dem Gegenteil, denn oft sind es die Priester, die die Nationen zum Kampf ermuntern. Der religiöse Hass ist immer der grausamste.
45:6
Alle Religionen lehren, dass wir einander lieben und unsere eigenen Fehler herausfinden sollten, bevor wir uns erkühnen, die Fehler anderer zu verdammen, und dass wir uns nicht über unseren Nächsten erheben dürfen. Wir müssen auf der Hut sein, uns nicht zu erhöhen, um nicht erniedrigt zu werden.
45:7
Wer sind wir, dass wir richten sollten? Wie können wir wissen, welcher Mensch vor Gott der rechtschaffenste ist? Gottes Gedanken gleichen nicht unseren Gedanken. Wie viele Menschen, die den Freunden wie Heilige schienen, sind in die tiefste Erniedrigung gefallen. Denket an Judas Ischariot. Anfangs stand es gut um ihn, doch erinnert euch seines Endes. Paulus, der Apostel, hingegen war in seinem früheren Leben ein Gegner Christi und wurde später Sein getreuester Diener. Wie können wir uns dann wohl selber schmeicheln und andere niedrig schätzen?
45:8
Lasset uns darum demütig und ohne Vorurteile sein und die Wohlfahrt der anderen vor unsere eigene stellen. Lasset uns niemals sagen: »Ich bin ein Gläubiger, der aber ist ein Ungläubiger.« »Ich bin Gott nahe, der aber ist ausgestoßen.« Wir können niemals wissen, welches das endgültige Urteil sein wird. Darum lasset uns allen helfen, die irgendwie Beistand brauchen.
45:9
Lasset uns die Unwissenden lehren und uns dem kleinen Kinde widmen, bis es reif ist. Finden wir einen Menschen, der in den Tiefen des Elends und der Sünde versunken ist, so müssen wir gut zu ihm sein, ihn bei der Hand nehmen und ihm helfen, dass er wieder Boden unter den Füßen findet und seine Kräfte zurückgewinnt. Wir müssen ihn mit Liebe und Zartheit leiten und ihn als Freund und nicht als Feind behandeln.
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Wir haben kein Recht, auf irgendeinen unserer sterblichen Gefährten als böse herabzuschauen.
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Was das Rassenvorurteil anbetrifft, so ist es eine Täuschung, reiner, bloßer Aberglaube, hat Gott doch uns alle als eine Spezies erschaffen. Im Anfang gab es keine Unterschiede, denn wir stammen alle von Adam ab. Es gab also im Anfang keine Schranken und Grenzen zwischen den verschiedenen Ländern. Kein Teil der Erde gehörte dem einen Volke mehr als dem anderen. Im Angesicht Gottes besteht kein Unterschied zwischen den Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Warum sollte der Mensch ein solches Vorurteil erfinden? Wie können wir einen Krieg unterstützen, dessen Ursache eine Einbildung war?
45:12
Gott hat die Menschen nicht erschaffen, damit sie einander vernichten. Alle Völker, Stämme, Sekten und Klassen haben gleichen Anteil an der Güte ihres himmlischen Vaters.
45:13
Der einzige Unterschied liegt im Ausmaß ihrer Treue, ihres Gehorsams gegenüber den Gesetzen Gottes. Einige sind wie brennende Fackeln, andere wie Sterne, die am Himmel der Menschheit leuchten. Die Freunde der Menschheit sind die hochstehenden Menschen, gleichviel welcher Nation, welchem Bekenntnis und welcher Farbe sie angehören mögen, denn sie sind es, zu denen Gott die gesegneten Worte sprechen wird: »Wohlgetan, meine guten und getreuen Knechte!«Mt. 25:21 – Anm. d. Hrsg.Q An jenem Tage wird er nicht fragen: »Bist du Engländer, Franzose oder vielleicht Perser? Kommst du vom Osten oder vom Westen?«
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Die einzige wirkliche Unterscheidung ist diese: Es gibt himmlische und irdische Menschen, aufopferungsvolle Diener der Menschheit in der Liebe des Höchsten, die Harmonie und Einigkeit bringen, indem sie die Menschen Frieden und guten Willen lehren. Auf der anderen Seite stehen jene selbstischen Menschen, Bruderhasser, in deren Herzen Vorurteil statt liebender Güte ist und deren Einfluss Uneinigkeit und Streit hervorruft.
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Welcher Rasse oder Farbe gehören diese beiden Teile der Menschheit an, der weißen, gelben, schwarzen, dem Osten oder dem Westen, dem Norden oder dem Süden? Wenn das die Unterscheidungen Gottes sind, warum dann sollten wir andere erfinden? Das politische Vorurteil ist ebenso verderblich. Es ist eine der größten Ursachen bitteren Streites unter den Menschenkindern. Es gibt Menschen, die sich freuen, wenn sie Zwietracht stiften, die sich dauernd bemühen, ihr Land in den Krieg mit anderen Nationen zu hetzen. Und warum? Sie vermeinen, ihrem eigenen Land zum Nachteil aller übrigen einen Vorteil zu verschaffen. Sie entsenden Heere, um das Land zu erschöpfen und zu zerstören, um in der Welt berühmt zu werden und aus Freude am Erobern, damit gesagt werden kann: »Solch ein Land hat ein anderes vernichtet und es seiner stärkeren, überlegeneren Herrschaft unterworfen.« Dieser Sieg, der um den Preis von vielem Blutvergießen errungen wurde, hat keine Dauer. Eines Tages wird der Sieger besiegt sein, und der Besiegte siegen. Erinnert euch der verflossenen Geschichte: War Frankreich nicht mehr als einmal über Deutschland siegreich, und hat die deutsche Nation nicht später Frankreich besiegt?
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