‘Abdu’l-Bahá | Ansprachen in Paris
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5:14
Das Mineralreich hat die Kraft des Bestandes. Die Pflanze hat die Kraft des Bestandes und des Wachstums. Das Tier hat außer Bestand und Wachstum die Möglichkeit der freien Bewegung und die Wahrnehmungsfähigkeit der Sinne. Im Menschenreich finden wir alle Eigenschaften der niederen Welten und viele andere, die noch hinzukommen. Der Mensch ist die Summe alles Erschaffenen vor ihm, weil er all das in sich schließt.
5:15
Dem Menschen ist die besondere Gabe der geistigen Fähigkeiten verliehen, durch die er einen größeren Anteil des göttlichen Lichtes zu empfangen vermag. Der Vollkommene Mensch ist ein klargeschliffener Spiegel, der die Sonne der Wahrheit und die in ihr offenbarten Eigenschaften Gottes widerstrahlt.
5:16
Der Herr Christus sagte: »Wer Mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen«Joh. 14:9 – Anm. d. Hrsg.Q – Gott, geoffenbart im Menschen.
5:17
Die Sonne verlässt ihren Platz am Himmel nicht und steigt auch nicht in den Spiegel hernieder, denn Auf- und Abstieg, Kommen und Gehen entsprechen nicht dem Unendlichen, sondern der Eigenart der endlichen Wesen. In der Manifestation Gottes, dem vollkommen geschliffenen Spiegel, erscheinen die Eigenschaften des Göttlichen in einer Form, die der Mensch begreifen kann.
5:18
Dies ist so einfach, dass es alle verstehen können, und was wir verstehen können, müssen wir notwendigerweise auch annehmen.
5:19
Unser Vater wird uns nicht für die Ablehnung von Dogmen verantwortlich machen, die wir weder zu glauben noch zu begreifen imstande sind, denn Er ist unendlich gerecht zu Seinen Kindern.
5:20
Dieses Beispiel ist jedenfalls so logisch, dass es leicht von jedem Verstand begriffen werden kann, der ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken bereit ist.
5:21
Möge jeder von euch zu einer strahlenden Lampe werden, deren Flamme die Liebe Gottes ist! Mögen eure Herzen mit dem Glanz der Einigkeit brennen und eure Augen mit dem Strahl der Sonne der Wahrheit leuchten!
5:22
Paris ist eine sehr schöne Stadt. In der gegenwärtigen Welt kann keine zivilisiertere und mit allen materiellen Errungenschaften besser ausgestattete Stadt gefunden werden. Aber das geistige Licht hat schon lange nicht mehr auf sie herabgeschienen: ihr geistiger Fortschritt ist weit hinter dem ihrer materiellen Zivilisation zurückgeblieben. Eine höchste Macht ist nötig, um sie zur Wirklichkeit geistiger Wahrheit zu erwecken, um den Hauch des Lebens in ihre schlafende Seele einzublasen. Ihr müsst euch alle zusammenschließen, um sie aufzuwecken, um die Menschen darin durch den Beistand jener höchsten Kraft ins Leben zurückzurufen.
5:23
Wenn es sich um eine leichte Erkrankung handelt, genügt eine schwache Arznei, um sie zu heilen, doch wenn die leichte Krankheit zu einer schrecklichen Not wird, dann muss der göttliche Heiler ein sehr starkes Heilmittel verwenden. Manche Bäume bringen Blüten und Früchte in kühlem Klima, andere benötigen die heißesten Sonnenstrahlen, um voll auszureifen. Paris ist einer von den Bäumen, die zur geistigen Entfaltung eine große flammende Sonne himmlischer Macht Gottes brauchen.
5:24
Ich bitte euch alle, jeden einzelnen von euch, dem Lichte der Wahrheit in den Heiligen Lehren wohl zu folgen, und Gott wird euch durch Seinen Heiligen Geist mit Kraft erfüllen, so dass ihr fähig werdet, die Schwierigkeiten zu überwinden und die Vorurteile zu zerstören, die zu Spaltung und Hass unter den Menschen führen. Lasst eure Herzen mit der großen Liebe Gottes erfüllt sein, lasst es alle fühlen, denn jeder Mensch ist ein Diener Gottes und allen ist ein Anteil am göttlichen Segensüberfluss gegeben.
5:25
Erzeigt besonders denen, deren Gedanken materiell und rückschrittlich sind, äußerste Liebe und Geduld und gewinnt sie so durch den Glanz eurer Güte für die Einheit der Gemeinschaft
5:26
Wenn ihr eurem Werke treu seid und unbeirrt der heiligen Sonne der Wahrheit folgt, dann wird sich der gesegnete Tag der allumfassenden Bruderschaft über dieser schönen Stadt erheben.
Die traurigen Ursachen des Krieges und die Pflicht eines jeden, sich um Frieden zu bemühen
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21. Oktober 1911
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ʿAbdu’l-Bahá sprach:
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Ich hoffe, dass ihr alle glücklich und wohlauf seid. Ich bin nicht glücklich, sondern sehr betrübt. Die Nachricht von der Schlacht bei Benghazi bekümmert mein Herz. Ich wundere mich über die menschliche Grausamkeit, die noch in der Welt ist. Wie können Menschen von morgens bis abends kämpfen, einander töten und das Blut ihrer Mitmenschen vergießen? Und wofür? Nur, um die Herrschaft über ein Stück Erde zu gewinnen! Selbst die Tiere haben beim Kampf einen unmittelbaren und vernünftigeren Anlass für den Angriff! Wie schrecklich ist es, dass sich Menschen, die dem höheren Reiche angehören, so erniedrigen, dass sie ihre Mitgeschöpfe um den Besitz eines Landstrichs willen erschlagen und ihnen Elend bringen!
6:2
Das höchste der erschaffenen Wesen kämpft um die niederste Form des Stoffes: Erde. Das Land gehört nicht einem Volke, sondern allen. Diese Erde ist nicht des Menschen Heim, sondern sein Grab. Es ist um ihre Gräber, worum diese Menschen kämpfen. Nichts in dieser Welt ist so schrecklich wie das Grab, die Stätte der verwesenden Menschenleiber.
6:3
Wie groß auch der Eroberer sein mag, wie viele Länder er auch versklavt, er kann von diesen verwüsteten Ländern nichts behalten als ein winziges Stück: sein Grab. Wenn zur Verbesserung der Zustände eines Volkes, zur Verbreitung der Zivilisation (damit gerechte Gesetze an die Stelle unmenschlicher Bräuche treten) mehr Land benötigt wird, so müsste es gewiss auch möglich sein, die erforderliche Gebietserweiterung auf friedlichem Wege zu erreichen.
6:4
Aber der Krieg wird geführt, um den menschlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Um des weltlichen Gewinnes einiger weniger willen wird schreckliches Elend über ungezählte Heime gebracht und das Herz von Hunderten von Männern und Frauen gebrochen.
6:5
Wie viele Witwen trauern um ihre Gatten, wie viele Berichte über wilde Grausamkeiten werden laut! Wie viele verwaiste kleine Kinder schreien nach ihren toten Vätern, wie viele Frauen weinen um ihre erschlagenen Söhne!
6:6
Nichts ist so herzzerbrechend und schrecklich, wie ein Ausbruch der menschlichen Wildheit.
6:7
Ich heiße euch alle und jeden von euch, alles, was ihr im Herzen habt, auf Liebe und Einigkeit zu richten. Wenn ein Kriegsgedanke kommt, so widersteht ihm mit einem stärkeren Gedanken des Friedens. Ein Hassgedanke muss durch einen mächtigeren Gedanken der Liebe vernichtet werden. Kriegsgedanken zerstören alle Eintracht, Wohlfahrt, Ruhe und Freude.
6:8
Gedanken der Liebe schaffen Kameradschaftlichkeit, Frieden, Freundschaft und Glückseligkeit.
6:9
Wenn Soldaten der Welt den Säbel ziehen, um zu töten, so schütteln die Soldaten Gottes einander die Hände. So mag durch die Gnade Gottes, die sich durch die reinen Herzen und aufrichtigen Seelen auswirkt, alle menschliche Wildheit schwinden. Haltet den Frieden der Welt nicht für ein unerreichbares Idealbild!
6:10
Nichts ist für Gottes Güte unmöglich.
6:11
Wenn ihr von ganzem Herzen Freundschaft mit allen Völkern auf Erden wünscht, so werden sich eure Gedanken geistig und aufbauend verbreiten, sie werden zum Wunsche anderer werden, wachsen und wachsen, bis sie alle Menschen erreichen.
6:12
Verzweifelt nicht! Wirkt ständig! Aufrichtigkeit und Liebe werden den Hass besiegen. Wie viel ereignet sich in diesen Tagen, das unmöglich schien! Wendet beständig euren Blick dem Licht der Welt zu! Erzeiget allen Liebe, »Liebe ist der Hauch des Heiligen Geistes im Menschenherzen«. Fasset Mut! Gott verlässt Seine Kinder, die streben, arbeiten und beten, nicht. Lasst eure Herzen vom innigen Wunsch erfüllt sein, dass Ruhe und Einklang diese streitende Welt umfangen mögen. So wird euer Bemühen von Erfolg gekrönt sein und mit der allumfassenden Bruderschaft das Gottesreich in Frieden und Wohlwollen erscheinen.
6:13
In diesem Raum sind heute Angehörige vieler Völker, französische, amerikanische, englische, deutsche, italienische Brüder und Schwestern, in Freundschaft und Harmonie beisammen. Lasst diese Zusammenkunft eine Ahnung dessen sein, was sich wahrhaftig in dieser Welt ereignen wird, wenn jedes Gotteskind erkennt, dass sie alle Blätter eines Baumes, Blumen eines Gartens, Tropfen eines Meeres und Söhne und Töchter eines Vaters sind, dessen Name Liebe ist!
Die Sonne der Wahrheit
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22. Oktober 1911
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ʿAbdu’l-Bahá sprach:
7:1
Heute ist ein schöner Tag, die Sonne scheint hell hernieder und gibt allen Geschöpfen Licht und Wärme. Auch die Sonne der Wahrheit scheint und gibt den Menschenseelen Licht und Wärme. Die Sonne ist der Lebensspender für die stofflichen Körper aller Geschöpfe auf Erden. Ohne ihre Wärme würde deren Wachstumskraft gehemmt und ihre Entwicklung aufgehalten werden, sie würden verkommen und sterben. In gleicher Weise bedürfen die Menschenseelen der Sonne der Wahrheit, damit sie ihre Strahlen über die Seelen ausgießt, um sie zu entwickeln, zu erziehen und zu ermutigen. Was für den Körper des Menschen die Sonne ist, das ist die Sonne der Wahrheit für seine Seele.
7:2
Ein Mensch mag es zu einem hohen Grad von materiellem Fortschritt bringen, doch ohne das Licht der Wahrheit verkümmert und verhungert seine Seele. Ein anderer mag ohne materielle Gaben sein, sich auf der untersten Sprosse der Gesellschaftsleiter befinden, wenn er jedoch die Wärme der Sonne der Wahrheit empfängt, wird seine Seele groß und sein geistiges Begreifen erleuchtet sein.
7:3
Ein griechischer Philosoph, der in der Jugendfrühe der Christenheit lebte und von der christlichen Art erfüllt war, ohne doch selber Christ zu sein, schrieb: »Ich glaube, dass die Religion die eigentliche Grundlage der wahren Zivilisation ist.« Denn erst, wenn die Sittlichkeit eines Volkes genauso ausgebildet ist wie sein Verstand und seine Begabung, wird auch die Zivilisation eine sichere Grundlage besitzen.
7:4
Da die Religion Gesittung einschärft, ist sie die wahrste Philosophie, und auf ihr baut sich die einzige ausdauernde Zivilisation auf. Als Beispiel dafür nennt er die damaligen Christen, deren Sittlichkeit auf einer sehr hohen Stufe stand. Der Glaube dieses Philosophen entspricht der Wahrheit, denn die Zivilisation der Christenheit war die beste und erleuchtetste der Welt. Die christliche Lehre war durchdrungen vom Lichte der göttlichen Sonne der Wahrheit, weshalb ihre Anhänger gelehrt wurden, alle Menschen als Brüder zu lieben, nichts, auch nicht den Tod, zu fürchten, den Nächsten wie sich selbst zu lieben und die eigenen selbstischen Belange im Bemühen um das höchste Wohlergehen der Menschheit zu vergessen. Es war das große Ziel der Religion Christi, die Herzen aller Menschen der strahlenden Wahrheit Gottes näher zu bringen.
7:5
Hätten die Anhänger des Herrn Christus diese Grundsätze auch weiterhin mit unerschütterlicher Treue befolgt, so wäre keine Erneuerung der christlichen Botschaft, keine Wiedererweckung Seines Volkes erforderlich gewesen, weil dann eine große und herrliche Zivilisation die Welt beherrschen würde und das Himmelreich auf Erden wäre.
7:6
Was aber ist stattdessen geschehen? Die Menschen haben sich von den göttlich erleuchteten Geboten ihres Meisters abgewandt, und über die Menschenherzen ist der Winter hereingebrochen. Denn wie das Leben des menschlichen Körpers von den Sonnenstrahlen abhängt, so können auch die himmlischen Tugenden in der Seele nicht ohne den Glanz der Sonne der Wahrheit wachsen.
7:7
Gott lässt Seine Kinder nicht ohne Tröstung. Wenn aber die Dunkelheit des Winters über sie kommt, sendet Er wieder Seine Boten, die Propheten, mit einer Erneuerung des gesegneten Frühlings. Die Sonne der Wahrheit erscheint aufs Neue am Horizont der Welt, scheint in die Augen derer, die schlafen, und erweckt sie, dass sie den Glanz eines neuen Tagesanbruchs schauen. Dann wird der Baum der Menschheit wieder blühen und zum Heil der Völker die Frucht der Rechtschaffenheit hervorbringen. Weil der Mensch unter Vernachlässigung des Gesetzes Gottes seine Ohren vor der Stimme der Wahrheit und seine Augen vor dem heiligen Licht verschlossen hat, darum hat das Dunkel des Krieges und des Aufruhrs, der Unruhe und der Not die Erde zur Öde werden lassen. Ich bete darum, dass ihr alle danach strebt, jedes der Kinder Gottes ins Licht der Sonne der Wahrheit zu geleiten, damit die Finsternis von den durchdringenden Strahlen ihrer Herrlichkeit aufgelöst und die Strenge und Kälte des Winters durch die barmherzige Wärme ihres Scheins hinweggeschmolzen werde.
Das Licht der Wahrheit scheint jetzt auf Ost und West
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