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57:10In der Natur der Dinge liegt nichts Böses – alles ist gut. Dies gilt auch für bestimmte tadelnswerte Eigenschaften und Anlagen, die manchen Menschen innezuwohnen scheinen, die aber in Wirklichkeit nicht verwerflich sind. Zum Beispiel kannst du bei einem Säugling vom Beginn seines Lebens an Zeichen von Gier, Zorn und Wut sehen; und so könnte man argumentieren, dass Gut und Böse in der Wirklichkeit des Menschen angeboren sind, und dass dies im Widerspruch zur reinen Güte der Schöpfung und der angeborenen Natur steht. Die Antwort ist, dass Gier, also das Verlangen nach immer mehr, eine lobenswerte Eigenschaft ist, vorausgesetzt, sie zeigt sich unter den richtigen Umständen. Sollte also eine Person Gier zeigen, wenn es um den Erwerb von Wissenschaften und Erkenntnis geht, oder wenn sie Mitgefühl, Aufgeschlossenheit und Gerechtigkeit übt, wäre dies höchst lobenswert. Und sollte er seine Wut und seinen Zorn gegen blutrünstige Tyrannen richten, die wilden Tiere gleichen, wäre auch das höchst lobenswert. Sollte er diese Eigenschaften aber unter anderen Bedingungen zeigen, wäre es tadelnswert.57:11Daraus folgt also, dass es im Dasein und in der Schöpfung nichts Böses gibt, dass es aber wohl zu tadeln ist, wenn die angeborenen Eigenschaften des Menschen in unrechtmäßiger Weise genutzt werden. Wenn also ein wohlhabender und großzügiger Mensch einem armen Mann Almosen zur Deckung seiner Bedürfnisse spendet, und wenn dieser dann die Summe in unangemessener Weise ausgibt, so ist dies tadelnswert. Das Gleiche gilt für alle angeborenen Eigenschaften des Menschen, die den Reichtum des menschlichen Lebens ausmachen: Wenn sie sich in unrechter Weise zeigen und eingesetzt werden, sind sie tadelnswert. Es ist also klar, dass die angeborene Natur uneingeschränkt gut ist.57:12Bedenke, dass der schlimmste Charakterzug, die abscheulichste Eigenschaft und die Grundlage allen Übels die Lüge ist und man sich im gesamten Dasein keine schlimmere oder verwerflichere Eigenschaft vorstellen kann. Sie macht jegliche menschliche Vollkommenheit zunichte und führt zu zahllosen Lastern. Es gibt keine schlechtere Eigenschaft als diese, und sie ist die Grundlage aller Verderbtheit. Trotz alledem sollte ein Arzt einen Patienten trösten und sagen: »Gott sei Dank, es geht dir besser und es gibt Hoffnung auf deine Genesung«, auch wenn diese Worte der Wahrheit widersprechen mögen, aber manchmal werden sie das Gemüt des Patienten beruhigen und zum Mittel werden, die Krankheit zu heilen. Und das ist nicht zu tadeln.57:13Diese Frage wurde nun eindeutig geklärt.Kapitel 58Ausmaß und Grenzen menschlichen Begreifens58:1Frage: Wie weit reicht das menschliche Begreifen und wo liegen seine Grenzen?58:2Antwort: Wisse, dass das Begriffsvermögen variiert. Seine niedrigste Stufe bilden die Sinnesfunktionen des Tierreichs, das heißt die natürlichen Empfindungen, die sich aus den Kräften der nach außen gerichteten Sinne ergeben. Dieses Begriffsvermögen haben Menschen und Tiere gemein, und tatsächlich übertreffen manche Tiere in dieser Hinsicht den Menschen. In der Menschenwelt variiert das Begriffsvermögen jedoch entsprechend dem unterschiedlichen Niveau, auf dem der Mensch sich befindet.58:3Den höchsten Grad an Begriffsvermögen in der Welt der Natur besitzt die vernunftbegabte Seele. Diese Kraft und dieses Begriffsvermögen haben alle Menschen gemein, ob sie nun achtlos oder aufmerksam sind, ob sie vom Weg abgekommen oder treu sind. In der Schöpfung Gottes umfasst die vernunftbegabte Seele des Menschen alle anderen erschaffenen Dinge und zeichnet sich ihnen gegenüber aus: Da sie edler und vornehmer ist, umfasst sie alle. Durch die Kraft der vernunftbegabten Seele kann der Mensch die Wirklichkeit der Dinge entdecken, ihre Merkmale begreifen und die Geheimnisse des Daseins durchdringen. Alle Wissenschaften, Wissensgebiete, Künste, Erfindungen, Einrichtungen, Unternehmungen und Entdeckungen entspringen dem Begriffsvermögen der vernunftbegabten Seele. Einst handelte es sich um undurchdringliche Geheimnisse, verborgene Mysterien und unbekannte Wirklichkeiten, doch die vernunftbegabte Seele entdeckte sie nach und nach und brachte sie aus dem Unsichtbaren in das Reich des Sichtbaren. Dies ist die höchste Kraft des Begreifens in der Welt der Natur; und die äußerste Grenze, zu der es sich aufzuschwingen vermag, ist das Erfassen der Wirklichkeiten, Zeichen und Eigenschaften des Bedingten.58:4Aber der umfassende göttliche Verstand, der die Natur transzendiert, ist die überströmende Gnade der präexistenten Macht. Er umfasst alle existierenden Wirklichkeiten und empfängt seinen Anteil am Licht und an den Geheimnissen Gottes. Er ist eine allwissende Kraft, keine Kraft des Erforschens oder der Sinneswahrnehmung. Die geistige Kraft in der Welt der Natur ist die Kraft des Forschens, und durch das Erforschen entdeckt sie die Wirklichkeit und die Eigenschaften der Dinge. Aber die über die Natur hinausgehende himmlische Verstandeskraft umfasst, kennt und begreift alle Dinge; sie ist sich der göttlichen Geheimnisse, Wahrheiten und inneren Bedeutungen bewusst und entdeckt die verborgenen Wahrheiten des Königreichs. Diese göttliche Verstandeskraft ist auf die heiligen Manifestationen und die Aufgangsorte des Prophetentums beschränkt. Ein Strahl dieses Lichts fällt auf die Spiegel der Herzen der Rechtschaffenen, damit sie durch die heiligen Manifestationen einen Anteil und Nutzen aus dieser Kraft empfangen.58:5Für die heiligen Manifestationen gibt es drei Seinsebenen: die Ebene des Körpers, die Ebene der vernunftbegabten Seele und die Ebene, auf der sich der göttliche Glanz vollkommen manifestiert. Ihre Körper nehmen Dinge nur im Rahmen der Fähigkeit der materiellen Welt wahr, und so kommt es, dass sie zu bestimmten Zeiten körperliche Schwäche zeigten. Zum Beispiel: »Ich schlief auf Meinem Lager, siehe, da wehte der Windhauch Meines Herrn, des Allbarmherzigen, über Mich, erweckte Mich aus Meinem Schlummer und befahl Mir, Meine Stimme zu erheben«Vergleiche: Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs, Kapitel 41; und Bahá’u’lláh, Súriy-i-Haykal, in: Anspruch und Verkündigung 1:192A; oder als Christus in Seinem dreißigsten Lebensjahr getauft wurde und auf Ihn der Heilige Geist herabkam, der sich zuvor nicht in Ihm offenbart hatte. All dies bezieht sich auf die körperliche Ebene der Manifestationen, aber ihre himmlische Ebene umfasst alle Dinge und Sie sind sich aller Geheimnisse bewusst, wissen um alle Zeichen und herrschen über alle Dinge. Und das gilt sowohl vor dem ersten Anzeichen Ihrer Sendung als auch danach in gleicher Weise. Deshalb sagte Christus: »Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte«Vergleiche: Offenbarung 22:13A – das heißt, es gab nie und wird niemals einen Wechsel oder Wandel in Mir geben.Kapitel 59Was der Mensch von Gott begreifen kann59:1Frage: In welchem Ausmaß kann die menschliche Wahrnehmung Gott begreifen?59:2Antwort: Dieses Thema benötigt Zeit und es bei Tisch zu erklären, wird schwierig sein. Dennoch soll es kurz erläutert werden.59:3Wisse, dass es zwei Arten von Wissen gibt: das Wissen um das Wesen von etwas und das Wissen um dessen Eigenschaften. Das Wesen von etwas lässt sich nur durch seine Eigenschaften erkennen; darüber hinaus ist sein Wesen unbekannt und unergründlich.59:4Da sogar unser Wissen um die erschaffenen und begrenzten Dinge nur ihre Eigenschaften und nicht ihr Wesen berührt, wie sollte es dann möglich sein, das Wesen der unumschränkten Wirklichkeit des Göttlichen zu begreifen? Denn das innerste Wesen von etwas kann niemals erkannt werden, nur seine Eigenschaften. Zum Beispiel ist die innere Wirklichkeit der Sonne unbekannt, aber sie wird durch ihre Eigenschaften – Hitze und Licht – verstanden. Das innere Wesen des Menschen ist unbekannt und unergründet, aber es wird durch seine Eigenschaften charakterisiert und erkannt. So wird alles durch seine Eigenschaften und nicht durch sein Wesen erkannt: Auch wenn der menschliche Verstand alles umfasst und alle äußeren Dinge begreift, so sind sie doch in ihrem Wesen unbekannt und können nur in ihren Eigenschaften erkannt werden. Wie kann dann der Herr, der immer war und immer sein wird, der über alles Begreifen und über jede Vorstellung geheiligt ist, in Seinem Wesen erkannt werden? Wenn also alles Erschaffene nur durch seine Eigenschaften und nicht durch sein Wesen erkannt werden kann, bleibt auch die Wirklichkeit des Göttlichen im Wesen unbekannt und wird nur hinsichtlich ihrer Eigenschaften erkannt.59:5Wie kann darüber hinaus eine Wirklichkeit, die erschaffen wurde, jene Wirklichkeit umfassen, die schon seit aller Ewigkeit existiert? Denn Begreifen ist das Ergebnis des Umfassens – Letzteres muss geschehen, damit Ersteres eintritt –, das göttliche Wesen hingegen ist allumfassend und kann niemals umfasst werden.59:6Überdies verhindern Stufenunterschiede in der Welt der Schöpfung die Erkenntnis. Weil zum Beispiel dieses Mineral zum Mineralreich gehört, kann es, soweit es auch emporsteigen mag, niemals die Wachstumskraft begreifen. Pflanzen und Bäume, wie weit sie sich auch entwickeln mögen, können sich weder die Sehkraft noch die übrigen Sinneskräfte vorstellen. Das Tier kann sich die Stufe des Menschen, das heißt seine Geisteskräfte, nicht vorstellen. So verhindern Stufenunterschiede die Erkenntnis: Die niedrigere Stufe kann die höhere nicht erfassen. Wie sollte dann eine erschaffene Wirklichkeit jene Wirklichkeit begreifen können, die seit aller Ewigkeit existiert?59:7Gott zu erkennen bedeutet daher, Seine Attribute, nicht aber Sein Wesen zu begreifen und zu erkennen. Und selbst diese Erkenntnis Seiner Attribute bleibt völlig unzulänglich und reicht nur so weit, wie es menschliche Möglichkeiten und Fähigkeiten zulassen. In der Philosophie geht es darum, die innere Wirklichkeit von Dingen soweit zu erfassen, wie es dem Menschen möglich ist. Für die erschaffene Wirklichkeit gibt es keinen anderen Weg, als die präexistenten Attribute innerhalb der Grenzen menschlicher Fassungskraft zu begreifen. Das unsichtbare Reich des Göttlichen ist geheiligt und erhaben über das Begreifen aller Wesen, und alles, was man sich vorstellen kann, entspricht nur dem menschlichen Verständnis. Die Kraft menschlichen Verstehens umfasst nicht die Wirklichkeit des göttlichen Wesens: Alles, was der Mensch je erreichen kann, ist die Attribute des Göttlichen zu erfassen, deren Licht sich in der Welt und in den Seelen glänzend manifestiert.59:8Bei genauer Betrachtung der Welt und der Seele des Menschen erscheinen die deutlichen Zeichen der Vollkommenheit des Göttlichen klar und offenbar, denn die Wirklichkeit aller Dinge zeugt von der Existenz einer allumfassenden Wirklichkeit. Die Wirklichkeit des Göttlichen gleicht der Sonne, die von ihren geheiligten Höhen auf alle Lande scheint und von deren Strahlen jedes Land und jede Seele einen Anteil erhält. Ohne dieses Licht und dieses Strahlen könnte nichts existieren. Alles Erschaffene kündet von diesem Licht, bekommt seinen Anteil an den Strahlen, aber die ganze Pracht der Vollkommenheit, der Gnadengaben und der Attribute des Göttlichen erstrahlt aus der Wirklichkeit des Vollkommenen Menschen, jener einzigartigen Person, die die allumfassende Manifestation Gottes ist. Denn alle anderen Wesen haben jeder für sich nur einen Teil jenes Lichtes empfangen, die allumfassende Manifestation Gottes hingegen ist der Spiegel, der vor diese Sonne gehalten wird und Letztere zeigt sich darin mit all ihrer Vollkommenheit, mit all ihren Eigenschaften, Zeichen und Wirkungen.59:9Die Erkenntnis der Wirklichkeit des Göttlichen ist in keiner Weise möglich, die Erkenntnis der Manifestationen Gottes hingegen ist die Erkenntnis Gottes, denn die Gnadengaben, der Strahlenglanz und die Eigenschaften Gottes sind in Ihnen offenbar. Wer also zur Erkenntnis der Manifestationen Gottes gelangt, gelangt zur Erkenntnis Gottes, und wer achtlos bleibt, beraubt sich dieser Erkenntnis. Somit steht fest, dass die Heiligen Manifestationen himmlische Gaben, Zeichen und jegliche Vollkommenheit in sich vereinigen. Gesegnet sind, die das Licht göttlicher Gnadengaben von diesen leuchtenden Sonnenaufgängen empfangen!59:10Wir hegen die Hoffnung, dass die Geliebten Gottes wie eine magnetische Kraft diese Gaben direkt aus ihrer Quelle schöpfen und sich so strahlend erheben und einen solchen Einfluss üben, dass sie zu unübersehbaren Zeichen der Sonne der Wahrheit werden.Kapitel 60Die Unsterblichkeit des Geistes (1)60:1Nachdem die Existenz des menschlichen GeistesVergleiche: Kapitel 48A feststeht, sollten wir nun seine Unsterblichkeit nachweisen.60:2In den himmlischen Büchern wird die Unsterblichkeit des Geistes erwähnt, die wahre Grundlage göttlicher Religionen. Denn es wird gesagt, dass es zwei Arten von Lohn und Strafe gebe – zum einen Lohn und Strafe im Dasein und zum anderen Lohn und Strafe in der nächsten Welt. Das Paradies und die Hölle des Daseins ist in allen Welten Gottes zu finden, ob in dieser Welt oder in den himmlischen Welten des Geistes, und den Lohn zu bekommen bedeutet das ewige Leben zu erlangen. Deshalb sagte Christus: Handelt so, dass ihr ewiges Leben erlangt, aus Wasser und Geist geboren werdet und so in das Königreich eintretet.Vergleiche: Johannes 3:5A60:3Den Lohn des Daseins bilden Tugenden und Vollkommenheit, die Zierde der menschlichen Wirklichkeit. Zum Beispiel war der Mensch in Dunkelheit gehüllt und wird erleuchtet; er war unwissend und erlangt Wissen; er war achtlos und wird achtsam; er schlief und ist erwacht; er war tot und ist zum Leben erweckt; er war blind und wird sehend; er war taub und wird hörend; er war irdisch und wird himmlisch; er war materialistisch und wird geistig. Durch diesen Lohn wird er im Geist wiedergeboren, wird neu erschaffen und er wird zur Manifestation des Verses im Evangelium, in dem es heißt, dass die Apostel »nicht aus Blut, aus Fleisch oder aus dem Willen des Menschen geboren wurden, sondern aus Gott«Vergleiche: Johannes 1:13A – das bedeutet, sie wurden befreit von den tierischen Eigenschaften und Merkmalen, die der menschlichen Natur innewohnen, und erlangten himmlische Eigenschaften, die der Gnade Gottes entströmen. Dies ist die wahre Bedeutung der Wiedergeburt. Für solche Seelen gibt es keine größere Qual, als wie durch Schleier von Gott getrennt zu sein, und keine schmerzlichere Strafe als selbstsüchtige und böse Eigenschaften, niedrige Gesinnung und Verstrickung in fleischliche Begierden. Wenn diese Seelen durch das Licht des Glaubens aus der Dunkelheit dieser Laster befreit werden, wenn sie durch die Strahlen der Sonne der Wahrheit erleuchtet und mit jeder menschlichen Tugend begabt sind, betrachten sie dies als höchsten Lohn und als das wahre Paradies. In gleicher Weise betrachten sie es als geistige Strafe, das heißt existenzielle Qual und Pein, sollten sie der Welt der Natur unterworfen sein; wie durch Schleier von Gott getrennt; unwissend und unachtsam; ungezügelten Begierden verhaftet; ganz in tierischen Lastern aufgehend; von bösen Eigenschaften wie Tyrannei und Ungerechtigkeit gekennzeichnet; weltlichen Dingen verhaftet und in satanische Vorstellungen eingetaucht – all dies schätzen sie als die größte aller Qualen und Strafen ein.60:4Der höchste Lohn, das ewige Leben, ist in allen heiligen Schriften ausdrücklich verzeichnet. Er ist himmlische Vollkommenheit, ewige Gnade und immerwährende Freude. Der höchste Lohn sind die Gaben und die Vollkommenheit, die der Mensch in den geistigen Welten erlangt, nachdem er diese Welt verlassen hat. Der Lohn im Diesseits indessen sind jene wahren und strahlenden vollkommenen Eigenschaften, die noch zu Lebzeiten erlangt werden und die Ursache ewigen Lebens sind. Denn der Lohn im Diesseits besteht im Fortschritt des Daseins selbst – vergleichbar mit dem Fortschritt des Menschen von der Stufe des Embryos zur Reife, wenn er zur Verkörperung des Verses wird: »Gepriesen sei der Herr, der vortrefflichste aller Schöpfer!«Qur’án 23:14A Der höchste Lohn sind geistige Gnaden und Gunstbezeigungen, wie die vielfältigen Gaben für die Seele nach ihrem Aufstieg ins Königreich Gottes, die Erfüllung der Herzenssehnsucht und die Wiedervereinigung mit Ihm im ewigen Reich. In gleicher Weise besteht Vergeltung und Strafe in der nächsten Welt darin, der besonderen Gunstbezeigungen und unerschöpflichen Gaben Gottes beraubt zu sein und auf die niedrigsten Stufen des Daseins herabzusinken. Und wer dieser Gnadengaben beraubt ist, gilt in den Augen des Volkes der Wahrheit als tot, auch wenn er nach dem Tode weiter existiert.60:5Ein Vernunftbeweis für die Unsterblichkeit des Geistes ist, dass etwas nicht Existentes keine Wirkung hervorbringen kann; das heißt es ist unmöglich, dass aus dem absoluten Nichts irgendeine Wirkung hervorgeht. Denn die Wirkung einer Sache ist seiner Existenz untergeordnet; und das Untergeordnete hängt von der Existenz des Übergeordneten ab. So können von einer nicht existenten Sonne keine Strahlen ausgehen; auf einem nicht existenten Meer können keine Wellen wogen; aus einer nicht existenten Wolke kann kein Regen fallen; ein nicht existenter Baum kann keine Frucht tragen; ein nicht existenter Mensch kann nichts hervorbringen. Solange also die Wirkungen der Existenz sichtbar sind, beweisen sie, dass der Urheber dieser Wirkung existiert.60:6Sieh, wie die Herrschaft Christi bis zum heutigen Tage besteht. Wie kann eine so bedeutende Herrschaft von einem nicht existenten Herrscher herrühren? Wie können sich hohe Wogen aus einem nicht existenten Meer erheben? Wie können solch himmlische Brisen aus einem nicht existenten Garten herüberwehen? Bedenke: Zerfällt etwas in seine Bestandteile und löst sich die Zusammensetzung seiner Elemente auf – seien es Mineralien, Pflanzen oder Tiere –, so verschwindet jede Wirkung, jeder Einfluss und jede Spur davon. Das ist jedoch ganz anders mit dem menschlichen Geist und der menschlichen Wirklichkeit, die weiterhin ihre Zeichen offenbaren, Einfluss üben und Wirkung zeigen – auch nach der Auflösung und Zersetzung der verschiedenen Teile und Glieder des Körpers.60:7Diese Frage ist sehr tiefgründig: Denke sorgfältig darüber nach. Dies ist ein rationaler Beweis, wir bringen ihn vor, damit rational denkende Menschen ihn auf der Waage der Vernunft und Unparteilichkeit prüfen können. Wenn aber der Geist des Menschen von Freude erfüllt und zum Königreich hingezogen ist, wenn sich das innere Auge öffnet, das geistige Ohr sich einstimmt und wenn geistige Empfindungen vorherrschen, dann wird die Unsterblichkeit des Geistes so deutlich erkennbar sein wie die Sonne und die himmlischen Botschaften und Andeutungen werden diesen Geist erfüllen.60:8Morgen werden wir weitere Beweise anführen.Kapitel 61Die Unsterblichkeit des Geistes (2)61:1Gestern haben wir über die Unsterblichkeit des Geistes gesprochen. Wisse, dass es für den menschlichen Geist zwei Wege gibt, wahrzunehmen und Einfluss zu üben; das heißt, der menschliche Geist kann auf zweierlei Art wirken und verstehen. Eine Art nutzt die Mittel und Organe des Körpers. So sieht er mit dem Auge, hört mit dem Ohr und spricht mit der Zunge. Dies sind Wirkungen des Geistes und Vorgänge in der menschlichen Wirklichkeit, aber sie erfolgen durch körperliche Mittel. So ist es der Geist, der sieht, aber mit Hilfe des Auges; es ist der Geist, der hört, aber durch das Ohr; es ist der Geist, der spricht, aber mittels der Zunge.61:2Die andere Art, wie der Geist wirkt und Einfluss übt, erfolgt ohne diese körperlichen Mittel und Organe. Zum Beispiel sieht er im Schlaf ohne Augen, hört ohne Ohren, spricht ohne Zunge, läuft ohne Füße – kurz gesagt, alle diese Kräfte wirken ohne körperliche Mittel und Organe. Wie oft kommt es vor, dass der Geist in der Welt des Schlafes einen Traum hat, dessen Inhalt zwei Jahre später genau eintritt! Und wie oft kommt es vor, dass der Geist in der Traumwelt ein Problem löst, das er im wachen Zustand nicht lösen konnte. Im Wachzustand sieht das Auge nur über eine kurze Entfernung, aber in der Traumwelt kann jemand, der sich im Osten befindet, den Westen sehen. Im Wachzustand sieht er nur die Gegenwart; im Schlaf nimmt er die Zukunft wahr. Im Wachzustand reist er nicht schneller als 120 Kilometer pro Stunde; im Schlaf durchquert er in einem Augenblick den Osten und den Westen. Denn der Geist hat zwei Möglichkeiten zu reisen: ohne Hilfsmittel als geistige Reise und mit Hilfsmitteln als körperliche Reise – so wie wenn ein Vogel fliegt oder in einem Fahrzeug transportiert wird.61:3Im Schlaf ist dieser physische Körper gleichsam tot. Er sieht nicht, hört nicht, fühlt nicht und hat weder Bewusstsein noch Wahrnehmung – seine Kräfte sind aufgehoben. Aber der Geist ist nicht nur lebendig und beständig, sondern er übt auch einen größeren Einfluss aus, erhebt sich in erhabenere Höhen und besitzt ein tieferes Verständnis. Anzunehmen, dass der Geist beim Tod des Körpers zugrunde ginge, ist wie die Vorstellung, dass ein in einem Käfig eingesperrter Vogel umkäme, wenn der Käfig zerbräche, obwohl der Vogel vom Zerbrechen des Käfigs nichts zu befürchten hat. Dieser Körper ist dem Käfig und der Geist dem Vogel vergleichbar. Wir beobachten, dass der Vogel ohne seinen Käfig frei durch die Welt des Schlafes fliegt. Sollte der Käfig zerbrochen werden, würde der Vogel nicht nur weiterleben, sondern seine Sinne würden geschärft, seine Wahrnehmung würde erweitert und seine Freude würde intensiver werden. In der Tat würde er einen qualvollen Ort verlassen um in ein herrliches Paradies einzutreten; denn für die dankbaren Vögel gibt es kein größeres Paradies als von ihrem Käfig befreit zu sein. Und so kommt es, dass die Märtyrer das Feld des Opfers frohlockend und in höchster Freude betreten.61:4Im Wachzustand sieht das Auge des Menschen höchstens bis zu einer Entfernung von einer Wegstunde, denn der Einfluss des Geistes reicht mit körperlichen Mitteln nur so weit; aber mit dem Auge des Verstandes und der Vorstellungskraft sieht er Amerika, versteht dieses Land, erfährt von seinem Zustand und ordnet die Dinge dementsprechend. Wäre der Geist mit dem Körper identisch, so könnte seine Sehkraft nicht weiter reichen. Somit liegt auf der Hand, dass der Geist vom Körper verschieden ist, dass der Vogel vom Käfig verschieden ist und dass Kraft und Einfluss des Geistes ohne die Vermittlung des Körpers ausgeprägter sind. Wenn nun das Mittel nicht mehr gebraucht wird, bleibt sein Anwender weiter bestehen. Wenn der Stift beispielsweise nicht benutzt wird oder zerbrochen ist, bleibt der Schriftsteller dennoch gesund und lebendig; und wenn ein Haus zerstört wird, lebt sein Besitzer weiter. Dies ist einer der Vernunftbeweise für die Unsterblichkeit der Seele.61:5Ein weiterer Beweis ist folgender: Der Körper des Menschen kann schwach oder stark, krank oder gesund, müde oder ausgeruht sein; er kann eine Hand oder ein Bein verlieren; seine körperlichen Kräfte können nachlassen; er kann blind, taub, stumm oder bewegungsunfähig werden – kurz gesagt, er kann schwer beeinträchtigt sein. Trotzdem behält der Geist seinen ursprünglichen Zustand und seine geistigen Wahrnehmungen bei und erleidet keine Beeinträchtigung oder Störung. Wenn der Körper jedoch von einer schweren Krankheit oder einem großen Unglück heimgesucht wird, ist er der Segnungen des Geistes beraubt, wie ein Spiegel, der zerbrochen oder mit Staub bedeckt das Licht der Sonne nicht mehr reflektieren und ihre Gaben nicht mehr offenbaren kann.
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