‘Abdu’l-Bahá | Briefe und Botschaften
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104
104:1
O ihr Geliebten Gottes und Dienerinnen des Barmherzigen! Ein großer Teil der Gelehrten ist der Ansicht, dass Abweichungen bei den Verstandeskräften und verschiedenartige Stufen der Wahrnehmungsfähigkeit auf Unterschiede der Erziehung, Ausbildung und Kultur zurückgehen. Sie glauben also, dass die Verstandeskräfte anfangs gleich sind, dass jedoch Ausbildung und Erziehung geistige Unterschiede und Abstufungen der Intelligenz hervorbringen und dass solche Unterschiede kein angeborener Teil der Person, sondern Ergebnis der Erziehung sind, dass also niemand von Geburt an anderen überlegen ist…
104:2
Die Manifestationen Gottes stimmen darin überein, dass die Erziehung den größtmöglichen Einfluss auf die Menschheit ausübt. Sie betonen jedoch, dass Unterschiede im Grad der Intelligenz angeboren sind. Diese Tatsache ist offensichtlich, sie braucht nicht diskutiert zu werden. Wir sehen, wie Kinder desselben Alters, desselben Landes, derselben Rasse, ja sogar derselben Familie, die durch dieselbe Person ausgebildet werden, trotzdem verschieden in ihrer Aufnahmefähigkeit und Intelligenz sind. Der eine macht schnelle Fortschritte, der zweite nimmt die Anleitungen nur allmählich auf, ein dritter bleibt auf der niedersten Stufe stehen. Wie sehr man auch eine Muschelschale poliert, es wird keine glänzende Perle daraus. Auch kann man keinen stumpfen Kiesel in einen Edelstein verwandeln, dessen reines Funkeln die Welt erleuchtet. Niemals wird sich der Bitterapfel und der HöllenbaumKoloquinte und Baum Zaqqúm (vgl. Qur’án 37:62).A durch Erziehung und Kultivierung in den Baum des Segensvgl. Qur’án 24:35.A verwandeln. Das heißt, Erziehung kann das innere Wesen des Menschen nicht ändern; aber sie übt gewaltigen Einfluss aus, und mit dieser Kraft kann sie aus dem einzelnen hervorbringen, was an Vollkommenheiten und Fähigkeiten in ihm angelegt ist. Ein Weizenkorn wird eine ganze Ernte bringen, wenn es vom Bauern kultiviert wird, und ein Samenkorn wird durch die Pflege des Gärtners zu einem großen Baum heranwachsen. Dank den liebevollen Bemühungen eines Lehrers können Grundschulkinder die höchsten Stufen der Vollendung erreichen; seine Wohltat kann tatsächlich manches unscheinbare Kind auf einen hehren Thron heben. Das zeigt klar, dass die Verstandeskräfte von Natur aus in ihrer Leistungsfähigkeit voneinander abweichen, die Erziehung aber für ihre Entwicklung eine große Rolle spielt und machtvollen Einfluss ausübt.
105
105:1
Der Unterschied zwischen der heute herrschenden materiellen Zivilisation und der göttlichen Kultur, die eine der vom Haus der Gerechtigkeit ausgehenden Wohltaten sein wird, besteht im Folgenden: Die materielle Zivilisation schreckt das Volk durch den Zwang vergeltender Strafgesetze von Verbrechen ab, und obwohl diese vergeltenden Strafgesetze ständig weiter wuchern, gibt es, wie ihr seht, keine Gesetze, die den Menschen belohnen. In allen Städten Europas und Amerikas wurden riesige Gebäude errichtet, die als Gefängnisse für Straffällige dienen.
105:2
Die göttliche Kultur indessen erzieht jedes Glied der Gesellschaft so, dass außer ganz wenigen niemand ein Verbrechen begeht. Es besteht daher ein großer Unterschied zwischen der Verbrechensverhütung durch gewalttätige, vergeltende Maßnahmen und derartiger Erziehung, Aufklärung und Vergeistigung, dass die Menschen ohne Angst vor Strafe oder Rache Verbrechen unterlassen. Sie werden fürwahr schon das Begehen eines Verbrechens als eine große Schande und als die härteste Strafe ansehen. Sie werden sich in die menschlichen Vollkommenheiten verlieben und ihr Leben dem weihen, was der Welt Licht bringt und die an der heiligen Schwelle Gottes annehmbaren Tugenden fördert.
105:3
Sieh nun, wie groß der Unterschied zwischen der materiellen Zivilisation und der göttlichen Kultur ist. Die materielle Zivilisation will das Volk durch Gewalt und Strafe abschrecken, Unheil zu stiften, der Gesellschaft Schaden zuzufügen und Verbrechen zu begehen. In einer göttlichen Kultur wird der Mensch jedoch so erzogen sein, dass er ohne Angst vor Strafe vor dem Verbrechen zurückschaudert, das Verbrechen als die größte Pein ansieht und sich mit freudiger Dienstbereitschaft anschickt, die Tugenden der Menschheit zu erwerben, den menschlichen Fortschritt zu fördern und Licht über die Welt zu verbreiten.
106
106:1
Zu den größten Diensten, die der Mensch dem allmächtigen Gott je erweisen kann, gehört die Erziehung und Ausbildung von Kindern, jungen Pflanzen im Paradies Abhá, so dass diese Kinder wie Perlen göttlicher Großmut in der Muschel der Erziehung wachsen, gehegt in Gnade auf dem Pfade des Heils, bis sie schließlich juwelengleich die Krone ewiger Herrlichkeit schmücken.
106:2
Es ist jedoch sehr schwierig, diesen Dienst zu leisten, und noch schwerer ist es, darin Erfolg zu haben. Ich hoffe, du wirst dich bei dieser wichtigsten Aufgabe bewähren, den Sieg davontragen und zum Banner der überfließenden Gnade Gottes werden. Auch hoffe ich, dass diese Kinder, allesamt in den heiligen Lehren gehegt und behütet, Charaktere wie die süßen Lüfte aus den Gärten des Allherrlichen entwickeln und ihren Duft über die ganze Welt verbreiten.
107
107:1
ʿAbdu’l-Bahá hofft, dass jene jungen Seelen im Schulsaal vertieften Wissens von einem Lehrer geführt werden, der sie lieben lehrt. Mögen sie in allen Bereichen des Geistes viel über die verborgenen Geheimnisse lernen, so viel, dass jeder im Königreich des Allherrlichen wie eine sprachbegabte Nachtigall die Geheimnisse des Himmelreiches kündet und wie ein sehnsüchtig Liebender seine brennende Not, sein heißes Verlangen nach dem Geliebten hervorstößt.
108
108:1
Der Charakterfrage solltet ihr die größte Bedeutung zumessen. Es ist die Pflicht jeden Vaters und jeder Mutter, ihre Kinder lange Zeit zu beraten und sie zu den Dingen zu führen, die zu ewiger Ehre gereichen.
108:2
Ermutigt die Schulkinder von Jugend auf, wohlgesetzte Reden zu halten, so dass sie in ihrer Freizeit damit beschäftigt sind, überzeugende, wirksame Ansprachen zu halten und sich dabei klar und beredt auszudrücken.
109
109:1
O ihr, die ihr Gottes Gunst empfanget! Die unerschütterliche Grundlage dieses neuen, wunderbaren Zeitalters ist das Lehren der Wissenschaften und Künste. Nach den ausdrücklichen Heiligen Worten muss jedes Kind in ausreichendem Maß in Kunst und Handwerk unterwiesen werden. Deshalb müssen in jeder Stadt und jedem Dorf Schulen errichtet werden, und jedes Kind dieser Stadt oder dieses Dorfes muss im nötigen Umfang lernen.
109:2
Es folgt daraus, dass jede Seele, die mithilft, das zu verwirklichen, an der himmlischen Schwelle mit Sicherheit aufgenommen und von den himmlischen Heerscharen gepriesen wird.
109:3
Da ihr euch um dieses überragend wichtige Ziel so sehr bemüht habt, hoffe ich, dass ihr euren Lohn vom Herrn klarer Zeichen und Beweise erntet und die Blicke himmlischer Gnade sich auf euch richten.
110
110:1
Was die Organisation der Schulen betrifft: Wenn möglich, sollten die Kinder alle dieselbe Art Kleidung tragen, selbst wenn der Stoff verschieden ist. Am besten wäre auch der Stoff einheitlich; ist das aber unmöglich, so schadet es auch nicht. Je sauberer die Schüler sind, desto besser. Sie sollten makellos sein. Die Schule muss an einem Ort mit guter, reiner Luft sein. Die Kinder müssen sorgfältig dazu erzogen werden, äußerst höflich zu sein und sich gut zu betragen. Sie müssen fortwährend ermutigt und begeistert werden, zu den Gipfeln menschlicher Vervollkommnung zu streben, so dass sie von frühester Kindheit an gelehrt werden, sich hohe Ziele zu setzen, sich richtig zu verhalten, keusch, rein und makellos zu sein, und dass sie lernen, in jeder Hinsicht starke Entschlusskraft und festen Vorsatz zu zeigen. Lasst sie nicht spaßen und tändeln, sondern ihre Ziele gewissenhaft verfolgen, dass sie in jeder Lage entschlossen und gefestigt sind.
110:2
Moralische Erziehung und gutes Benehmen sind viel wichtiger als Bücherwissen. Ein sauberes, anmutiges Kind mit gutem Charakter und richtigem Benehmen ist – selbst dann, wenn es nicht viel weiß – einem Kind vorzuziehen, das unhöflich, ungewaschen und boshaft, doch in allen Künsten und Wissenschaften bewandert ist. Der Grund ist, dass das Kind, das sich gut benimmt, auch wenn es nicht viel weiß, für andere zum Gewinn wird, während das boshafte, ungezogene Kind verderbt ist und anderen schadet, selbst wenn es viel weiß. Wenn jedoch das Kind so erzogen wird, dass es beides ist, gebildet und gut, so führt das zum strahlendsten Licht.
110:3
Kinder sind wie ein frischer, grüner Zweig; sie werden in diejenige Richtung wachsen, in die ihr sie biegt. Verwendet die allergrößte Sorgfalt darauf, ihnen hohe Ideale und Ziele zu vermitteln, so dass sie als Erwachsene ihre Lichtstrahlen wie leuchtende Kerzen über die Welt ergießen und sich nicht achtlos-unwissend durch tierische Gelüste und Leidenschaften entehren. Sie sollen stattdessen ihre Herzen darauf richten, ewigwährende Ehre zu erlangen und sich alle Vollkommenheiten der Menschheit anzueignen.
111
111:1
Die Wurzel schlechter Taten ist Unwissenheit; wir müssen uns deshalb fest an die Werkzeuge der Wahrnehmung und Erkenntnis halten. Ein guter Charakter muss gelehrt werden. Das Licht muss weithin verbreitet werden, damit alle in der Schule der Menschlichkeit die himmlischen Eigenschaften des Geistes erwerben und zweifelsfrei erkennen, dass es keine heißere Hölle, keinen feurigeren Abgrund gibt als einen unzuverlässigen, verderbten Charakter. Es gibt keine dunklere Grube, keine abscheulichere Qual als verdammungswürdige Eigenschaften.
111:2
Jeder Mensch muss zu einer so hohen Stufe erzogen werden, dass er sich lieber die Kehle durchschneiden lässt, als eine Lüge auszusprechen, und dass es für ihn leichter ist, vom Schwert geteilt oder vom Speer durchbohrt zu werden, als eine Verleumdung zu äußern oder dem Jähzorn zu verfallen.
111:3
So wird der Sinn für Würde und Stolz entzündet, damit er die Ernten wollüstiger Begierden verbrenne. Dann wird jeder Geliebte Gottes wie ein leuchtender Mond mit den Tugenden des Geistes erstrahlen, und die Beziehung jedes einzelnen zur Heiligen Schwelle seines Herrn wird kein Trug sein, sondern echt und wahr; sie wird die Grundmauer des Bauwerks sein, kein Zierrat an der Fassade.
111:4
Daraus folgt, die Schule für Kinder sollte eine Stätte höchster Disziplin und Ordnung sein, eine gründliche Unterweisung bieten und für die Verbesserung und Verfeinerung des Charakters Sorge tragen, so dass von klein auf im Wesen des Kindes die göttliche Grundlage gelegt und das Bauwerk der Heiligkeit errichtet wird.
111:5
Wisse, dass diese Fragen des Unterrichts, der Charakterformung und -bildung, der Freude und Ermutigung des Kindes von allergrößter Bedeutung sind; denn sie sind Leitgrundsätze Gottes.
111:6
So werden, wenn Gott will, aus diesen geistigen Schulen erleuchtete Kinder hervorgehen, geschmückt mit den herrlichsten Tugenden der Menschheit. Nicht nur auf Persien werden sie ihr Licht ergießen, sondern auf die ganze Welt.
111:7
Es ist äußerst schwierig, nach der Pubertät den Menschen zu lehren und seinen Charakter zu verbessern. Dann nämlich, so zeigt uns die Erfahrung, nützt alles nichts mehr, auch wenn noch so große Anstrengungen unternommen werden, seine Neigungen zu verändern. Er wird sich heute vielleicht etwas bessern. Aber einige Tage später vergisst er alles wieder und fällt zurück in seinen gewohnten Trott, seine eingefahrenen Geleise. Deshalb muss in frühester Kindheit eine feste Grundlage gelegt werden. Solange der Zweig grün und zart ist, kann er leicht gerade gebogen werden.
111:8
Unserer Meinung nach sind die Eigenschaften des Geistes die erste, die göttliche Grundlage. Sie schmücken das wahre Wesen des Menschen, und Wissen ist die Ursache menschlichen Fortschritts. Die Geliebten Gottes müssen dieser Angelegenheit große Bedeutung beimessen und sie mit Eifer und Begeisterung vorantreiben.
112
112:1
In dieser heiligen Sache hat die Frage der Waisen besondere Bedeutung. Waisen muss größte Beachtung geschenkt werden. Sie müssen gelehrt, ausgebildet und erzogen werden. Insbesondere müssen ihnen, soweit möglich, die Lehren Bahá’u’lláhs vermittelt werden.
112:2
Ich flehe zu Gott, dass du den Waisenkindern eine gütige Mutter werdest und sie mit den Düften des Heiligen Geistes belebst, so dass sie das Alter der Reife als wahrhafte Diener der Menschenwelt, als leuchtende Kerzen in der Versammlung der Menschheit erreichen werden.
113
113:1
O Dienerin Gottes! … Den Müttern müssen die göttlichen Lehren und wirksame Ratschläge gegeben werden, sie müssen ermutigt und begeistert werden, ihre Kinder auszubilden, denn die Mutter ist die erste Erzieherin des Kindes. Sie ist es, die zunächst das Neugeborene an der Brust des Gottesglaubens und des Gottesgesetzes stillt. So soll das Kind göttliche Liebe schon mit der Muttermilch saugen und bis zum letzten Atemzug bewahren.
113:2
Wenn die Mutter in der Erziehung ihrer Kinder versagt und sie nicht auf eine ordentliche Lebensbahn lenkt, wird auch alle spätere Erziehung nicht voll zur Wirkung kommen. Es obliegt den Geistigen Räten, den Müttern ein wohldurchdachtes Programm für die Kindererziehung zu vermitteln und ihnen zu zeigen, wie das Kind vom Säuglingsalter an behütet und belehrt werden muss. Diese Anweisungen müssen jeder Mutter gegeben werden, so dass sie sich danach richten und ihre Kinder nach den göttlichen Lehren bilden und hegen kann.
113:3
So werden diese jungen Pflanzen im Garten der Liebe Gottes in der warmen Sonne der Wahrheit, den sanften Frühlingswinden des Himmels und an der führenden Hand ihrer Mutter wachsen und blühen, bis jede im Paradies Abhá zu einem Baum wird, der reiche Frucht trägt und in dieser neuen, wundersamen Jahreszeit durch den Frühlingssegen alle Schönheit und Anmut empfängt.
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