‘Abdu’l-Bahá | Briefe und Botschaften
weiter nach oben ...
221:7
Gottes heilige Manifestationen wurden herniedergesandt, die Einheit der Menschheit sichtbar zu machen. Sie erduldeten unzählige Übel und grenzenloses Leid, damit sich eine Gemeinde aus den auseinanderstrebenden Völkern der Menschheit im Schatten des Gotteswortes sammle, als ein Ganzes bestehe und auf Erden voll Freude und Anmut die Einheit der Menschheit vorlebe. Deshalb muss es das Verlangen der Freunde sein, alle Völker zusammenzubringen und zu vereinen, auf dass alle einen tiefen Zug reinen Weines aus dem Kelch tun, der »gekühlt ward an der Kampferquelle«Qur’án 76:5.Q. Lasst sie die unterschiedlichen Volksgruppen zu einem Ganzen verschmelzen und die feindlichen, mordlustigen Geschlechter auf Erden dazu bringen, dass sie einander lieben. Lasst sie die Sklaven sinnlicher Wünsche aus ihren Fesseln lösen und die Ausgestoßenen mit den Geheimnissen vertraut machen. Lasst sie den Beraubten ihren Anteil an dem Segen dieser Tage geben, lasst sie die Mittellosen zu dem unerschöpflichen Schatz führen. Zustandekommen kann diese Gnade durch Worte, Lebensweisen und Taten, die dem Unsichtbaren Gottesreich zugehören; anders wird nichts daraus.
221:8
Gottes Bestätigungen sind die Bürgschaft für diesen Segen. Gottes heilige Freigebigkeit schenkt diese großen Gaben. Die Freunde Gottes werden vom Reich der Höhe unterstützt; sie erringen ihre Siege durch die Heeresmacht der höchsten Führung. So wird für sie jede Schwierigkeit erleichtert, jedes Problem einfach zu lösen.
221:9
Beachtet, wie leicht sich die Angelegenheiten einer Familie regeln lassen, wenn Einheit herrscht, welche Fortschritte die Familienmitglieder dann machen, wie erfolgreich sie in der Welt sind. Ihre Beziehungen sind geordnet, sie erfreuen sich behaglicher Ruhe. Sie sind ohne Sorge, ihre Stellung ist gesichert, sie werden von allen beneidet. Mit jedem Tag festigt eine solche Familie ihre Stellung und mehrt ihre dauernde Ehre. Und wenn wir den Bereich der Einheit ein wenig ausweiten, um die Bewohner eines Dorfes einzubeziehen, die sich bemühen, liebevoll und einig zu sein, die miteinander verkehren und freundlich zueinander sind, was für große Fortschritte werden sie machen, wie sicher und behütet werden sie sein! Dann lasst uns den Kreis noch ein bisschen weiter ziehen, lasst uns die Bewohner einer Stadt nehmen, alle zusammen: Wenn sie untereinander starke Bande der Einheit aufrichten, wie groß werden dann selbst in kurzer Zeit ihre Fortschritte sein! Welche Macht werden sie ausüben! Wird der Bereich der Einheit noch weiter ausgedehnt, stimmen also die Einwohner eines ganzen Landes ihre Herzen friedvoll, sehnen sie sich mit Herz und Seele danach, zusammenzuarbeiten und in Einheit zu leben, werden sie zueinander freundlich und liebevoll, so wird dieses Land unvergängliche Freude und bleibenden Ruhm erlangen. Es wird Frieden haben und Wohlstand im Überfluss.
221:10
Beachtet: Kämen alle Sippen, Stämme, Gemeinden, Nationen, Länder und Gebiete auf Erden im einfarbigen Zelt der Einheit der Menschheit zusammen, verkündeten sie im blendend hellen Sonnenlicht der Wahrheit die Welteinheit der Menschen, könnten sie alle Nationen und Glaubensgemeinschaften dazu bringen, weit die Arme füreinander zu öffnen, einen Weltrat einzuberufen und dazu überzugehen, die Gesellschaftsmitglieder durch feste gegenseitige Bande aneinanderzubinden, was würde dann geschehen? Ohne jeden Zweifel erschiene dann der göttliche Geliebte in all Seiner liebreizenden Schönheit, in all Seiner Herrlichkeit vor der Versammlung der Welt, und in Seinem Gefolge eine starke Heerschar himmlischer Bestätigungen sowie menschlicher Segnungen und Gnadengaben.
221:11
Deshalb, o ihr Geliebten des Herrn, strengt euch an, tut alles, was in eurer Macht steht, damit ihr eins seid und jeder mit den anderen in Frieden lebt; denn ihr seid alle Tropfen eines Meeres, Blätter eines Baumes, Perlen einer Muschel, Blumen und Kräuter eines Gartens. Und während ihr das erreicht, bemüht euch, die Herzen der Anhänger anderer Glaubensrichtungen zu vereinen.
221:12
Selbst das Leben müsst ihr füreinander geben. Zu jedem menschlichen Wesen müsst ihr unendlich freundlich sein. Nennt keinen einen Fremdling, haltet keinen für euren Feind. Verhaltet euch, als wären alle Menschen eure engen Verwandten und verehrten Freunde. Wandelt in einer Weise, dass sich diese vergängliche Welt in Herrlichkeit verklärt, dieser elende Haufen Staub zum Palast der Freude wird. Das ist der Rat ‘Abdu’l-Bahás, des unglücklichen Dieners.
222
222:1
O ihr heimatlosen Wanderer auf dem Pfade Gottes! Wohlstand, Zufriedenheit und Freiheit, so wünschenswert und förderlich sie für das Glück des Menschenherzens auch sind, lassen sich auf keine Weise mit den Prüfungen der Heimatlosigkeit und des Ungemachs auf dem Pfade Gottes vergleichen; denn solche Vertreibung und Verbannung sind mit göttlicher Gnade gesegnet und ziehen sicherlich die Barmherzigkeit der Vorsehung nach sich. Das Wohlbefinden im eigenen Heim und die süße Freiheit von allen Sorgen werden vergehen, aber der Segen der Heimatlosigkeit wird ewig währen; seine weitreichenden Folgen werden eines Tages offenbar.
222:2
Abrahams Auszug aus Seinem Heimatland offenbarte die segensreichen Gaben des Allherrlichen, und der Untergang von Kanaans hellstem Stern enthüllte Josefs Strahlenglanz vor aller Augen. Die Flucht Mose, des Propheten am Sinai, offenbarte die Feuerflamme des Herrn, und Jesu Aufstieg hauchte der Welt den Odem des Heiligen Geistes ein. Der Aufbruch Muḥammads, des Geliebten Gottes, aus Seiner Geburtsstadt führte zur Erhöhung von Gottes heiligem Wort, und die Verbannung der Geheiligten Schönheit bewirkte, dass das Licht Seiner göttlichen Offenbarung sich allenthalben ausbreitete.
222:3
Merke auf, o Volk der Einsicht!
223
223:1
O ihr Söhne und Töchter des Königreichs! Euer Brief ist angekommen. Sein Inhalt zeigt, dass eure Herzen – Preis sei Gott – überaus rein sind und eure Seelen sich Gottes froher Botschaft erfreuen. Die Masse des Volkes ist mit ihrem Selbst und mit weltlichen Wünschen beschäftigt, eingetaucht in das Meer der niederen Welt, gefangen in der Welt der Natur. Ausgenommen sind die Seelen, die von den Ketten und Fesseln der stofflichen Welt befreit sind und pfeilschnell wie die Vögel in dieses Reich grenzenloser Weite emporsteigen. Sie sind erweckt und achtsam; sie meiden das Dunkel der Naturwelt. Ihr höchster Wunsch ist darauf gerichtet, den Kampf ums Dasein zwischen den Menschen auszurotten, Geistigkeit und Liebe zum Reich der Höhe auszustrahlen, innigste Zuneigung unter den Völkern zu üben, eine enge, vertraute Verbindung zwischen den Religionen zu verwirklichen und das Ideal der Selbstaufopferung in die Tat umzusetzen. So wird die Menschenwelt in das Reich Gottes verwandelt.
223:2
O ihr Freunde! Bemüht euch mit ganzer Kraft! Jede Ausgabe setzt eine Einnahme voraus. In der heutigen Menschenwelt machen die Leute unaufhörlich nur Ausgaben; denn Krieg ist nichts als fortwährender Verbrauch an Menschen und Wohlstand. Ihr aber sollt euch mit dem befassen, was der Menschenwelt Gewinn einbringt, damit ihr diesen großen Verlust zu einem Teil ausgleicht. Durch die göttlichen Bestätigungen werdet ihr von ungefähr Beistand erhalten, wenn ihr Freundschaft und Eintracht unter den Menschen verbreitet, Feindschaft durch Liebe ersetzt, dem Weltkrieg den Weltfrieden folgen lasst und Verlust und Hass in Gewinn und Liebe umformt. Dieser Wunsch wird durch die Macht des Gottesreiches verwirklicht werden.
224
224:1
O du Diener Gottes! Dein Brief ist angekommen. Sein Inhalt war edel und erhaben, sein Ziel hochgesteckt und weitreichend. Die Menschenwelt bedarf umfassender Verbesserungen; denn sie ist ein materieller Urwald, in dem Bäume ohne Frucht und nutzlose Unkräuter wuchern. Wenn es darin überhaupt einen fruchtbaren Baum gibt, überschatten ihn die fruchtlosen Bäume, und wenn eine Blume in diesem Urwald wächst, ist sie versteckt und verborgen. Die Welt der Menschheit braucht fachkundige Gärtner, die diese Wälder in herrliche Rosengärten verwandeln, die wilden Bäume durch fruchtbare ersetzen und statt des nutzlosen Unkrauts Rosen und duftende Kräuter pflanzen. Diese tatkräftigen, umsichtigen Seelen ruhen weder bei Tag noch bei Nacht; sie streben danach, eng mit dem Reich Gottes verbunden zu sein. So werden sie für diese Wälder zu Offenbarungen grenzenloser Wohltat und zu idealen Gärtnern. Auf diese Weise wird die Menschenwelt völlig verwandelt, und die segensreichen Gnadengaben werden sichtbar.
225
225:1
O Heerscharen des Reiches Abhá! Zwei Aufrufe zu Erfolg und Wohlfahrt erschallen von den Höhen des Glücks für die Menschheit. Sie erwecken die Schläfer, sie verleihen den Blinden Sehkraft, den Achtlosen Bewusstheit, den Tauben Gehör, sie lösen den Stummen die Zunge und rufen die Toten ins Leben zurück.
225:2
Der eine ist der Ruf der Zivilisation, des Fortschritts in der stofflichen Welt. Er betrifft die Welt der Erscheinung; er fördert die Grundlagen materieller Errungenschaften und ist der Lehrmeister für die naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Menschheit. Er umfasst die Gesetze, Ordnungen, Künste und Wissenschaften, durch die sich die Menschenwelt entwickelt. Diese Gesetze und Ordnungen sind die Folge edler Ideale und das Ergebnis des gesunden Menschenverstands; auf das Feld des Daseins sind sie durch die Bemühungen der Weisen und Gebildeten aus früher und späterer Zeit getreten. Verkünder und Vollstrecker dieses Rufes ist die gerechte Staatsmacht.
225:3
Das andere ist der seelenbewegende Ruf Gottes, dessen geistige Lehren die ewige Herrlichkeit, das ewige Glück und die ewige Erleuchtung der Menschenwelt sichern und die Eigenschaften der Barmherzigkeit in der Menschenwelt wie auch im jenseitigen Leben offenbaren.
225:4
Dieser zweite Ruf beruht auf den Lehren und Ermahnungen des Herrn, auf den Warnungen und selbstlosen Empfindungen aus dem Reich der Sittlichkeit, die wie ein helles Licht die Lampe menschlicher Wirklichkeiten zum Strahlen bringen. Seine durchdringende Kraft ist das Wort Gottes.
225:5
Solange jedoch materielle Errungenschaften, naturwissenschaftliche Kenntnisse und menschliche Tugenden noch nicht durch geistige Vollkommenheiten, strahlende Eigenschaften und Kennzeichen der Barmherzigkeit verstärkt sind, bringen sie keine Frucht und kein Ergebnis; auch bewirken sie nicht der Menschheit Glück, welches doch das letzte Ziel ist. Denn obwohl einerseits die materiellen Errungenschaften und die Entwicklung der stofflichen Welt zu einem Wohlstand führen, der die gesteckten Ziele vorzüglich offenbart, drohen daraus doch andererseits Gefahren, schweres Unheil und gewaltige Not.
225:6
Wenn du demnach dein Augenmerk auf das geordnete Muster der Königreiche, Städte und Dörfer richtest und siehst, wie reizvoll sie geschmückt sind, wie frisch ihre natürlichen Hilfsquellen sind, wie hoch ihre Technik entwickelt ist, wie leicht ihr Verkehr fließt, welch umfangreiches Wissen über die Welt der Natur verfügbar ist, wie groß die Erfindungen, wie riesig die Unternehmen, wie vortrefflich die Entdeckungen und wissenschaftlichen Forschungen sind, so magst du daraus schließen, dass die Zivilisation der Menschenwelt zu Glück und Fortschritt gereicht. Wendest du die Augen jedoch darauf, dass Höllenmaschinen entwickelt, Zerstörungskräfte entfaltet und Kriegsgeräte erfunden werden, die den Baum des Lebens mit der Wurzel ausreißen, so wird dir klar und offenbar, wie eng die Zivilisation mit der Barbarei verbunden ist. Fortschritt und Barbarei gehen Hand in Hand, es sei denn, die materielle Zivilisation wird bestätigt durch göttliche Führung, durch die Offenbarungen des Allbarmherzigen und durch göttliche Tugenden, verstärkt durch geistiges Verhalten, durch die Ideale des Gottesreiches und die Ausgießungen aus dem Reich der Macht.
225:7
Überlege, dass heute die fortschrittlichsten, zivilisiertesten Länder der Welt in Pulverfässer, die Kontinente des Erdballs in riesige Heerlager und Schlachtfelder verwandelt sind, dass die Völker der Welt sich zu waffenstarrenden Nationen formiert haben, dass die Regierungen der Welt miteinander wetteifern, wer den ersten Schritt auf das Feld des Gemetzels und Blutvergießens tut und so die Menschheit ins tiefste Elend stürzt.
225:8
Deshalb müssen Zivilisation und materieller Fortschritt mit der Größten Führung verbunden sein, so dass diese niedere Welt der Schauplatz für die Segnungen des Gottesreiches werde und die stofflichen Errungenschaften sich mit dem Glanz des Barmherzigen vereinigen, damit die Menschenwelt ihre Schönheit und Vollkommenheit enthülle und in hell strahlender Anmut vor allen offenbare. So wird sich immerwährende Herrlichkeit und Glückseligkeit zeigen.
225:9
Preis sei Gott, im Verlauf vieler Jahrhunderte und Zeitalter wurde der Ruf der Zivilisation erhoben. Die Menschenwelt machte täglich Fortschritte. Manche Länder entwickelten sich in gewaltigen Sprüngen. Materielle Verbesserungen nahmen ständig zu, bis die Welt des Daseins die umfassende Fähigkeit erlangte, die geistigen Lehren aufzunehmen und auf den göttlichen Ruf zu hören. Der Säugling durchläuft verschiedene Entwicklungsstufen. Er wächst und entwickelt sich auf jeder Stufe, bis sein Körper das Reifealter erreicht. Auf dieser Stufe erwirbt er die Fähigkeit, geistige und intellektuelle Vollkommenheiten zu offenbaren. Das Licht des Begreifens, des Verstandes und der Erkenntnis wird an ihm sichtbar; seine Seelenkräfte entfalten sich. So hat in der bedingten Welt auch die Gattung Mensch fortschreitend körperliche Veränderungen durchgemacht und ist in einem langsamen Prozess die Leiter der Zivilisation emporgestiegen. Sie verkörperte somit die Wunder, Vortrefflichkeiten und Gaben des Menschseins in ihrer herrlichsten Gestalt, bis sie die Fähigkeit erlangte, die Pracht geistiger Vollkommenheiten und göttlicher Ideale auszudrücken, und den Ruf Gottes vernehmen konnte. Der Ruf zum Reich Gottes wurde schließlich erhoben, die geistigen Tugenden und Vollkommenheiten wurden offenbart, die Sonne der Wirklichkeit ist aufgegangen, die Lehren über den Größten Frieden, die Einheit der Menschheit und die Allgemeingültigkeit alles Menschlichen wurden verkündet. Wir hoffen, dass diese Strahlen ihren Glanz immer stärker verbreiten, dass vollkommene Tugenden diesen Strahlenglanz immer mehr widerspiegeln, bis das Ziel dieses allumfassenden menschlichen Entwicklungsprozesses erreicht ist, bis die Liebe Gottes in höchster Anmut und Schönheit erscheint und alle Herzen in ihren Bann schlägt.
225:10
O ihr Geliebten Gottes! Wisst wahrlich, dass der Menschheit ganzes Glück in der Einheit und Eintracht des Menschengeschlechts beschlossen liegt, dass die geistigen wie materiellen Entwicklungen von Liebe und Freundschaft zwischen allen Menschen abhängen. Betrachtet die Lebewesen: die Tiere, die sich auf der Erde fortbewegen und jene, die fliegen; solche, die weiden, und solche, die andere verschlingen. Bei den Raubtieren lebt jede Art getrennt von den anderen Arten ihrer Gattung; sie beobachten einander mit größter Feindseligkeit und Gegnerschaft. Wenn sie aufeinandertreffen, kämpfen sie sofort bis aufs Blut, fletschen die Zähne und zeigen ihre Krallen. So benehmen sich wilde Bestien und blutrünstige Wölfe, fleischfressende Tiere, Einzelgänger, die um ihr Leben kämpfen. Aber die gelehrigen, gutmütigen, freundlichen Tiere, ob sie nun zu den fliegenden oder zu den grasenden Arten gehören, gesellen sich voll Zutrauen zueinander; sie sind vereint in ihren Herden, sie leben froh, glücklich und zufrieden. So etwa die Vögel, die mit ein paar Körnern zufrieden und dafür dankbar sind; sie leben in vollkommener Freude und stimmen herrliche Lieder an, wenn sie sich aufschwingen über Fluren und Steppen, Hügel und Berge. Genauso gesellen sich Weidetiere wie Schafe, Antilopen und Gazellen in größtem Einvernehmen, Vertrautheit und Eintracht zueinander. Sie leben zusammen auf Ebenen, im Zustand völliger Zufriedenheit. Hunde, Wölfe, Tiger, Hyänen und die anderen Raubtiere hingegen wenden sich voneinander ab; denn sie jagen und streifen allein umher. Die Tiere auf dem Felde und die Vögel in den Lüften meiden sich weder noch belästigen sie einander, wenn sie auf ihren Weiden oder Rastplätzen zusammentreffen; sie nehmen sich gegenseitig in Freundlichkeit an, ganz anders als die reißenden Bestien, die sich sofort zerfleischen, wenn einer in des anderen Höhle oder Lager eindringt. Ja, wenn einer nur an der Behausung des anderen vorbeigeht, stürzt dieser sofort heraus, um jenen anzugreifen und möglichst zu töten.
225:11
Hier wird deutlich, dass auch im Tierreich Liebe und Einvernehmen die Früchte einer freundlichen Gesinnung, eines reinen Wesens und eines lobenswerten Charakters sind, Uneinigkeit und Abgrenzung dagegen Kennzeichen der Raubtiere in der Wildnis.
225:12
Der Allmächtige hat den Menschen nicht mit den Klauen und Zähnen wilder Tiere erschaffen, vielmehr wurde die menschliche Gestalt mit den anmutigsten Eigenschaften versehen und mit den vollkommensten Tugenden geschmückt. Aus Ehrerbietung vor dieser Schöpfung, aus Wertschätzung für dieses Gewand muss der Mensch Liebe und Zuneigung für seine eigene Art aufbringen, nein, alle Lebewesen muss er gerecht und unparteiisch behandeln.
225:13
Überlegt, wie Freundschaft und Eintracht bei der Menschheit zu Wohlergehen, Glück, Freude und Behagen führen, wogegen Streit und Missklang fast immer Not, Erniedrigung, Unruhe und Versagen bewirken.
225:14
Aber wehe, tausendmal wehe! Der Mensch ist gleichgültig und dieser Tatsache unbewusst. Täglich brüstet er sich mit den Merkmalen einer wilden Bestie. Siehe! Plötzlich verwandelt er sich in einen grausamen Tiger; im nächsten Augenblick wird er zur kriechenden Giftschlange! Doch die erhabenen menschlichen Errungenschaften liegen in solchen Tugenden und Eigenschaften, die ausschließlich den Engeln der himmlischen Heerscharen zugehören. So wird der Mensch, wenn lobenswerte Eigenschaften und hohe sittliche Werte von ihm ausgehen, ein himmlisches Wesen, ein Engel des Gottesreichs, eine göttliche Wirklichkeit von überirdischem Glanz. Befasst er sich hingegen mit Kriegsführung, Streit und Blutvergießen, so wird er gemeiner als das grausamste Raubtier; denn ein blutrünstiger Wolf frisst in einer Nacht nur ein Lamm, der Mensch aber mordet Hunderttausende auf dem Schlachtfeld, übersät den Boden mit ihren Leibern und tränkt die Erde mit ihrem Blut.
225:15
Kurz gesagt, dem Menschen sind zwei Wesensarten gegeben: Die eine strebt nach Verfeinerung der Sitten und geistiger Vollkommenheit, während die andere zu tierischer Erniedrigung und fleischlichen Unvollkommenheiten neigt. Wenn ihr durch die Länder dieses Erdballs reist, seht ihr einerseits die Überreste von Verfall und Zerstörung, andererseits die Zeichen der Kultur und der Entwicklung. Verfall und Zerstörung sind das Ergebnis von Krieg, Zank und Streit, Entwicklung und Fortschritt hingegen die glänzenden Früchte der Tugend, der Zusammenarbeit und der Eintracht.
225:16
Wer durch die Wüsten Mittelasiens reist, der sieht, wie viele Städte, die einst groß und blühend waren wie Paris und London, heute zerstört und dem Erdboden gleichgemacht sind. Vom Kaspischen Meer bis zum Oxus erstrecken sich wilde, öde Steppen, Wüsten, Einöden und Täler. Zwei Tage und zwei Nächte lang fährt die russische Eisenbahn an den zerstörten Städten und unbewohnten Dörfern dieses Ödlandes vorbei. Früher trugen in dieser Ebene die vortrefflichsten Zivilisationen der Vergangenheit ihre Frucht. Die Zeichen der Entwicklung und Verfeinerung waren überall zu erkennen, Künste und Wissenschaften wurden geschützt und gefördert, Berufe und Gewerbe blühten auf, Handel und Landwirtschaft hatten einen hohen Leistungsgrad erreicht, Verwaltung und Regierungskunst fußten auf starker, kraftvoller Grundlage. Heute ist der größte Teil dieses ausgedehnten Landes Zuflucht für turkmenische Stämme und Kampfbahn für wilde Tiere. Die alten Städte dieser Ebene wie Gurgán, Nissá, Ábívard und Shahristán waren in der ganzen Welt berühmt für ihre Künste, Wissenschaften, Kultur und Gewerbe, bekannt für ihren Wohlstand, ihre Größe und Vornehmheit. Sie sind einer Wildnis gewichen, in der sich keine Stimme erhebt außer dem Brüllen wilder Tiere, und in der blutrünstige Wölfe frei umherziehen. Diese Zerstörung und Verwüstung hatte ihre Ursache in Krieg und Streit, Zwietracht und Uneinigkeit zwischen Persern und Türken, die sich in Religion und Sitten unterschieden. So unnachgiebig war der Geist religiösen Vorurteils, dass die Führer ohne wahren Glauben es richtig fanden, unschuldiges Blut zu vergießen, Eigentum zu vernichten und Familienehre zu schänden. Das ist nur ein Beispiel von vielen.
225:17
Wenn du die Weltgegenden durchstreifst, wirst du zu dem Ergebnis kommen, dass aller Fortschritt auf Vereinigung und Zusammenarbeit beruht, Niedergang jedoch von Feindseligkeit und Hass herrührt. Trotzdem lässt sich die Menschenwelt nicht belehren, sie erwacht auch nicht aus dem Schlummer der Achtlosigkeit. Nach wie vor verursacht der Mensch Zwietracht, Zank und Streit, damit er Kriegsscharen aufstellen und sich dann mit Heeresmacht auf das Schlachtfeld des Blutvergießens stürzen kann.
225:18
Betrachte sodann die Erscheinungen der Verbindung und der Auflösung, des Seins und des Nichtseins. Alles Erschaffene in der bedingten Welt ist aus vielen verschiedenartigen Atomen zusammengesetzt. Sein Dasein hängt von der Verbindung dieser Atome ab. Mit anderen Worten, durch Gottes Schöpferkraft werden einfache Urstoffe zusammengefügt, so dass aus dieser Verbindung ein bestimmter Organismus entsteht. Das Dasein aller Dinge beruht auf diesem Prinzip. Wenn aber die Ordnung gestört wird, bewirkt dies Auflösung, und Verfall setzt ein. Dann hört das betroffene Ding zu bestehen auf. Das bedeutet, die Vernichtung aller Dinge hat ihre Ursache im Zerfall und in der Auflösung. Deshalb bewirkt Anziehung und Verbindung zwischen den verschiedenen Elementen Leben; Uneinigkeit, Zerfall und Teilung verursachen Tod. So führen die Kräfte des Zusammenhalts und der Anziehung dazu, dass ertragreiche Ergebnisse und Wirkungen entstehen, während Entfremdung und Abkehr zur Verwirrung und Vernichtung der Dinge führen. Durch Verbindungsfähigkeit und Anziehung wird alles Lebendige – Pflanzen, Tiere und Menschen – ins Dasein gerufen, während Teilung und Uneinigkeit Zerfall und Zerstörung herbeiführen.
225:19
Deshalb ist alles, was der Vereinigung, Anziehung und Einheit unter den Menschenkindern dient, Mittel zum Lebenserhalt für die Menschenwelt; alles, was Teilung, Abneigung und Entfremdung bewirkt, führt die Menschheit in den Tod.
225:20
Und wenn du an Feldern und Anpflanzungen vorbeikommst, siehst du die Pflanzen, Blumen und duftenden Kräuter reich und fruchtbar zusammen wachsen und ein Muster für die Einheit abgeben. Das ist ein Beweis dafür, dass diese Anpflanzung, dieser Garten unter der Fürsorge eines erfahrenen Gärtners gedeiht. Siehst du diesen Garten aber in einem Zustand der Unordnung und Verwahrlosung, so schließest du daraus, dass ihm die Pflege eines erfahrenen Landmanns fehlt und er demzufolge Wicken und Unkraut hervorbringt.
225:21
Das zeigt, dass Freundschaft und Zusammenhalt auf die Ausbildung durch einen wahren Erzieher hindeuten, Auflösung und Trennung jedoch Beweise für Barbarei und Mangel an göttlicher Erziehung sind.
225:22
Ein Kritiker mag einwenden, die Völker, Rassen, Stämme und Gemeinden der Welt hätten verschiedene, voneinander abweichende Gebräuche, Gewohnheiten, Geschmacksrichtungen, Charaktere, Neigungen und Ideen; ihre Ansichten und Gedanken seien gegensätzlich. Wie könnte da wahre Einheit offenbar werden und vollkommener Gleichklang zwischen den Menschenseelen eintreten?
225:23
Wir antworten, dass es zwei Arten von Verschiedenheit gibt. Die eine Art bewirkt Vernichtung und gleicht der Abneigung zwischen kriegführenden Nationen und kämpfenden Stämmen, die sich gegenseitig zerstören, die Familien entwurzeln, einander die Ruhe und den Wohlstand rauben und ein Blutbad anrichten wollen. Die andere Art ist ein Zeichen der Mannigfaltigkeit; sie ist das Wesen der Vollkommenheit und bewirkt, dass die Segnungen des Allherrlichsten Herrn erscheinen.
225:24
Betrachte die Blumen eines Gartens. Obwohl sie nach Art, Farbe, Form und Gestalt verschieden sind, werden sie doch vom Wasser einer Quelle erfrischt, vom selben Windhauch belebt, von den Strahlen einer Sonne gestärkt, und so erhöht die Vielfalt ihren Reiz und steigert ihre Schönheit. Wenn die vereinende Kraft, der durchdringende Einfluss von Gottes Wort dergestalt wirkt, verschönern die unterschiedlichen Gebräuche, Verhaltensweisen, Ideen, Ansichten und Veranlagungen die Menschenwelt. Diese Mannigfaltigkeit, diese Verschiedenheit entspricht der naturgeschaffenen Ungleichheit und Vielfalt der Glieder und Organe des Menschenleibs; denn jedes trägt zur Schönheit, Wirksamkeit und Vollkommenheit des Ganzen bei. Wenn diese verschiedenen Körperteile und Organe unter den Einfluss der souveränen Seele des Menschen kommen, wenn die Macht der Seele die Gliedmaßen und Körperteile, die Venen und Schlagadern des Körpers durchpulst, dann verstärkt die Unterschiedlichkeit den Einklang, die Verschiedenartigkeit vermehrt die Liebe und die Vielfalt ist der wichtigste Antrieb für das Zusammenwirken.
weiter nach unten ...