Bahá’u’lláh | Sieben Täler – Vier Täler
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1:58
Auch die Wege der Liebe werden mit vier angegeben, von denen einer vom Geschöpf hin zu Gott, der zweite von Gott zum Geschöpf, der dritte von Geschöpf zu Geschöpf, der vierte dagegen von Gott zu Gott führt.
1:59
Viel haben die Weisen und Gelehrten vor Mir darüber geschrieben, was Ich hier nicht erwähne, denn Ich möchte nicht weiter auf früher Geschriebenes eingehen, da über die Worte anderer zu reden ein Zeichen erworbenen Wissens und nicht der Göttlichen Gabe wäre. Selbst das, was hier gesagt ist, fand nur entsprechend dem menschlichen Brauch und der Weise der Freunde Erwähnung. Solche Erklärungen überschreiten auch die diesem Schreiben gezogenen Grenzen. Nicht aus Stolz unterlasse Ich, von ihren Worten zu sprechen, sondern um Weisheit zu bekunden und Gunst zu erweisen.
1:60
»Wenn KhiḍrEigentlich ›der Grüne‹. Meist mit der im Qur’án (18:59–81) erwähnten Person gleichgesetzt. Er soll den Quell des Lebens entdeckt und davon getrunken haben, daher dessen ›Wächter‹ genannt. Er steht für die wahre Führung, der man unbedingt zu folgen verpflichtet ist – Anm. d. Hrsg.A das Schiff auf dem Meer dem Untergang preisgab,
so lag tausendfach Recht in diesem Unrecht.«Rúmí, Mathnaví.
Q
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Dieser Diener erachtet Sich völlig als Nichts neben einem Geliebten Gottes, wieviel mehr noch in der Gegenwart Seiner Erwählten. Preis sei Meinem Herrn, dem Höchsten! Unser Ziel ist überdies, die Wegstrecken des Wanderers zu erklären und nicht, die widerstreitenden Worte der Mystiker zu erwähnen.
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Wenn auch ein kurzes, Anfang und Ende der Welt der Beziehung und der Eigenschaften betreffendes Beispiel schon gegeben worden ist, so sei ein weiteres noch genannt, um vollends den Sinn des Gesagten zu erläutern: Sinne über dich selbst nach, wie du in bezug auf deinen Sohn der Erste, in Hinsicht auf deinen Vater dagegen der Letzte, als Erscheinung nach außen hin Ausdruck für die Macht des Göttlichen Schöpfungswillens und nach innen das verborgene Geheimnis bist, das in dich als Göttliche Gabe gelegt ward. So läßt sich sagen, daß sich in dir als Anfang und Ende, Erscheinung und Verborgenes, jene erwähnten vier Weisen äußern, so daß du in diesen vier Zuständen, womit du begnadet worden bist, die vier Zustände Gottes gleichermaßen zu verstehen imstande bist, und die Nachtigall deines Herzens von allen Zweigen des Rosengartens des verborgenen wie des sichtbaren Seins singt: »Gott wahrlich ist der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene«Qur’án 57:3.Q.
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Das Gesagte gilt nur für die Stufen der Welt der Beziehung entsprechend der menschlichen Begrenzung. Diejenigen aber, die sich mit einem Schritt über die Welt der Beziehung und Begrenzung erhoben haben und auf dem beglückenden Boden des Unumschränkten verweilen, die ihr Zelt in der Welt der höchsten Macht und des Gebotes errichten, haben alle diese Beziehungen getilgt mit einem einzigen Funken und alle diese Worte gelöscht mit einem einzigen Tautropfen. Sie schwimmen im Meer des Geistes und durchschweben die heiligen Lüfte des Lichtes. Wie können auf dieser Stufe Worte bestehen, die Unterscheidungen wie »Erster« und »Letzter« oder dergleichen schaffen? In diesem Reich fällt der Erste mit dem Letzten und der Letzte mit dem Ersten zusammen.
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»Entflamme in deiner Seele ein Feuer der Liebe und verbrenne alle Gedanken und Worte!«Rúmí, Mathnaví .Q
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Schau in dich, o mein Freund. Wenn du nicht Vater geworden wärest und keinen Sohn gezeugt hättest, so würden dir diese Worte nicht einmal bekannt sein. Darum vergiß all dies, damit du in der Schule der Einheit unter der Leitung des Meisters der Liebe lernest und wieder zu Gott zurückkehrest. So magst du dich aus dem Zustand der inneren Unwirklichkeit lösenDies bezieht sich auf die Ṣúfí-Idee von der inneren Ebene, die im Vergleich zur geoffenbarten Wahrheit unwirklich ist.A und zu deiner wahren Bestimmung gelangen, um im Schatten des Baumes der Erkenntnis zu wohnen.
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O du Hochgeliebter! Werde arm, damit du den hehren Hof des Reichtums betretest, beuge deinen Rücken in Demut, damit du aus dem Strom der Herrlichkeit trinkest und den Sinn der Gedichte verstehest, um den du gefragt hast.
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So ist es denn klar, daß diese Stufen je nach dem Standpunkt des Wanderers verschieden erscheinen. Er sieht in jeder Stadt eine Welt, trifft in jedem Tal eine Quelle und hört in jeder Steppe den Klang eines Liedes. Der Falke des geheimnisvollen Himmels jedoch trägt viele wundersame Weisen des Geistes im Herzen, und der persische Vogel birgt manches süße arabische Lied in der Seele, aber sie sind und bleiben verborgen.Bezieht sich auf Bahá’u’lláh, der Seine Sendung damals noch nicht erklärt hatte – Anm. d. Hrsg.A
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»Spräche ich weiter, würd’ mancher Verstand sich verwirren,
und wenn ich schriebe, brächen die Federn.«Rúmí, Mathnaví
Q.
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Friede sei mit dem, der diese herrliche Reise vollendet und dem Wahrhaftigen folgt durch die Lichter der Führung!
1:69
Hat der Wanderer die Höhen seiner himmelanstrebenden Reise durchmessen, so gelangt er zum
Tal des Genügens.
1:69_11
In diesem Tal empfindet er den Windhauch Göttlichen Genügens, der von der Ebene des Geistes her weht. Er verbrennt die Schleier des Mangels und schaut mit dem inneren und dem äußeren Auge das Verborgene und die Erscheinung aller Dinge, das Zeugnis des Tages, an dem »Gott aus Seiner Fülle heraus jedem vergelten wird«Qur’án 4:130.Q. Seine Trübsal schlägt um in Entzücken, sein Kummer in Freude, und seine Bedrückung und Schwermut wird Frohsinn und Wonne.
1:70
Obschon von außen gesehen die Wanderer in diesem Tal auf der Erde verweilen, so thronen sie innerlich doch auf den Höhen des wahren Sinnes. Sie nehmen teil an den unerschöpflichen Gaben der inneren Bedeutung und trinken vom köstlichen Wein des Geistes.
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Die Zunge ist nicht imstande, diese drei letzten Täler zu schildern, und die Sprache ist unzulänglich. Die Feder dringt nicht in ihr Gebiet, und die Tinte hinterläßt nichts als schwärzende Spuren. Auf diesen Stufen hat die Nachtigall des Herzens andere Weisen und Geheimnisse, die das Herz bewegen und die Seele in Erregung versetzen, doch will dieses Rätsel der wahren Bedeutung nur von Herz zu Herz offenbart und von Brust zu Brust anvertraut sein.
1:72
»Herz zu Herz allein kann von der Wonne der (um Gottes Geheimnisse) Wissenden sagen,
kein Bote kann es künden, kein Brief es enthalten«.Shamsu’d-Dín Muḥammad Ḥáfiẓ
Q
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»Ohnmacht zwingt auch, auf vieles zu schweigen,
und wollte ich sprechen, würden Worte versagen.«Arabischer Vers.
Q
1:74
O Freund, ehe du nicht den Garten dieser inneren Bedeutungen erreicht hast, wirst du nicht vom unvergänglichen Wein dieses Tales trinken. Würdest du aber davon kosten, so würdest du alles andere vergessen und aus dem Kelch des Genügens trinken. Du würdest dich von allem anderen lösen, um dich Ihm zu verbinden, dein Leben auf Seinem Wege verschenken und deine Seele Ihm opfern – obwohl in dem Tal nichts anderes mehr ist, das du vergessen müßtest: »Da war Gott und nichts anderes außer Ihm«Ḥadíth .Q. Denn in diesem Tal sieht der Wanderer überall die Schönheit des Freundes. Selbst im Feuer schaut er das Angesicht des Geliebten. Unwirkliches wird ihm zum Zeichen der Wirklichkeit, und die Eigenschaften werden ihm zum Zeugnis für das Geheimnis des göttlichen Wesens; hat er doch mit einem Hauch die Schleier verweht und mit einem einzigen Blick die Hüllen durchdrungen. Mit unterscheidendem Auge wird er die neue Schöpfung gewahr, und mit lichtem Herzen begreift er die sinnreichen Zeichen. Das Wort: »An diesem Tage werden Wir deinen Blick mit Unterscheidung begaben«Qur’án 50:22.Q bezeugt dies und genügt hier.
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Wenn die Gefilde des lauteren Genügens vom Wanderer durchmessen sind, so gelangt er zum
Tal des Staunens.
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Er taucht ein in die Meere erhabener Größe, und mit jedem Augenblick wächst sein Staunen. Bald scheint ihm der Reichtum reine Armut und das Wesen der Freiheit völlige Ohnmacht, bald wieder vergeht er vor der Schönheit des allherrlichen Gottes oder wird er seines eigenen Daseins müde. Wie viele Bäume der inneren Bedeutung hat der Windstoß des Staunens entwurzelt, wie viele Seelen des Atems beraubt! Denn in diesem Tal wird der Wanderer in Verwirrung gestürzt. Aber all diese Wunder sind dem, der zum Ziel kam, höchst willkommen. Jeder Augenblick zeigt ihm Welten des Wunders und eine neue Schöpfung. Er wandert von Verwunderung zu Verwunderung und vergeht aus Ehrfurcht vor den Werken des Herrn der Einheit.
1:76
Ja, mein Bruder, wenn wir über irgendeines der erschaffenen Dinge nachdenken, so werden wir hunderttausend vollkommene Weisheiten finden und ungezähltes wundersames und neues Wissen erfahren. Eine der erschaffenen Erscheinungen ist der Traum: Sieh, wie viele Geheimnisse er birgt, welche Weisheiten er enthält, und wie groß die Zahl der Welten ist, die er einschließt. Du schläfst in einer verschlossenen Wohnung und weilst doch plötzlich weitab in einer Stadt, in die du eintrittst, ohne die Glieder zu rühren oder dich des Körpers zu bedienen, du siehst ohne Augen, hörst ohne Ohren und sprichst ohne Zunge. Und vielleicht geschieht es, daß du zehn Jahre danach in der äußeren Welt dem, was du nächtlich im Traum geschaut hast, begegnest.
1:77
Viele Weisheiten sind im Traum, dessen wahren Sinn niemand sonst als der Wanderer in diesem Tale wirklich verstehen kann. Vor allem, was ist das für eine Welt, in der wir uns ohne Auge, Ohr, Hand oder Zunge dieser Sinne bedienen? Sodann, wie kommt es, daß sich dir heute in der äußeren Welt ein Traum verwirklicht, den du vielleicht zehn Jahre vorher geträumt hast? Denke über den Unterschied zwischen diesen beiden Welten nach und über die Geheimnisse, die darin verborgen liegen, damit dir göttliche Bestätigung und himmlische Entdeckung zuteil werden und du die Welten der Heiligkeit begreifest.
1:78
Gott, der Erhabene, hat diese Zeichen in die Menschen gelegt, damit die Philosophen die Geheimnisse des Fortlebens nicht zu leugnen vermögen, noch herabsetzen, was ihnen verheißen ist. Denn einige stützen sich allein auf die Vernunft und leugnen, was von ihr nicht erfaßt wird, obwohl außer der Göttlichen, Höchsten Vernunft nie die schwache Vernunft die eben geschilderten Dinge zu begreifen imstande ist.
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»Wie kann die schwache Vernunft den Qur’án begreifen
oder die Spinne einen Phönix im Netz erjagen?«Mystischer persischer Vers.
Q
1:79
Alle diese Welten erleben wir im Tal des Staunens, und der Wanderer begehrt jeden Augenblick, mehr zu erschauen. Nie wird er dessen müde. Darum hat der ›Herr der Ersten und Letzten‹Ehrenname ʿAlís – Anm. d. Hrsg.A über die Stufen des Sinnens und den Ausdruck des Staunens gesprochen: »O Herr, laß mein Staunen über Dich wachsen!«ʿAlí, Ḥadíth – Anm. d. Hrsg.Q
1:80
Denke gleicherweise über die Vollkommenheit in der Schöpfung des Menschen nach, in der alle diese Welten und Stufen verborgen und versiegelt sind:
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»Wähnst du dich nur eine schwächliche Form,
wo in dir doch das Weltall im Kleinen verborgen ruht?«.ʿAlí, Ḥadíth
Q
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Bemühen wir uns darum, in uns das Tierhafte zu vernichten, damit sich die wahre Bedeutung des Menschen offenbare.
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So gab LuqmánEin Weiser, nach dem die 31. Súrah des Qur’án benannt ist. Rúmí sieht in ihm einen Sklaven. Oft wird er mit Aesop gleichgesetzt – Anm. d. Hrsg.A, der aus der Quelle der Weisheit trank und aus dem Meere der Gnade kostete, seinem Sohne Nathan den Traum als Beispiel und Beweis für die Auferstehung und den Tod an. Wir erwähnen dies hier, damit die Erinnerung an jenen Jüngling in der Schule der Göttlichen Einheit, an jenen Älteren in der Kunst der Belehrung und Vergeistigung durch diesen demütigen Diener bewahrt bleibe. Er sagte: »O Sohn! Vermagst du den Schlaf zu bezwingen, so kannst du auch den Tod besiegen, und vermagst du dein Erwachen aus dem Schlaf zu verhüten, so kannst du auch deine Auferstehung vom Tode verhindern.«
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O Freund! Dein Herz ist der Sitz ewiger Geheimnisse, mache es nicht zur Heimstatt sterblicher Gedanken und vergeude den Schatz deines kostbaren Lebens nicht, indem du ihn dieser vergänglichen Welt preisgibst. Du kommst aus der Welt der Heiligkeit, hänge dein Herz nicht an die Erde. Du bist ein Bewohner des Hofes der Nähe, erwähle dir nicht die Welt des Staubes zur Heimat.
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Kurz, diese Stufen zu beschreiben ist noch kein Ende, doch ist dieser Diener um der vielen Schläge willen, die ihm die Bewohner dieser Welt versetzt haben, nicht gestimmt fortzufahren.
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»Unvollendet blieb diese Rede, und ich habe nicht das Herz dazu.
Bitte, verzeih mir!«Rúmí, Mathnaví .
Q
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Die Feder klagt und die Tinte weint, und der StromEigentlich ›Jayhún‹, ein Fluß in Turkistán.A des Herzens wälzt Wogen des Blutes. »Nichts, als was Gott uns bestimmt hat, wird uns begegnen«Qur’án 9:51.Q. Friede sei mit dem, der den Rechten Weg geht!
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Hat der Wanderer die Höhen des Staunens erstiegen, so betritt er
das Tal der wahren Armut und des völligen Vergehens.
1:86
Dies ist die Stufe, auf der das Ich stirbt und in Gott lebt, arm in sich selbst und reich durch den Ersehnten. Wenn wir auf dieser Stufe von Armut sprechen, so ist damit die Armut von allem gemeint, was in der erschaffenen Welt ist, und Reichtum durch alles, was in der Welt Gottes ist. Denn wenn ein aufrichtig Liebender und ergebener Freund in die Gegenwart des Geliebten tritt, so werden die leuchtende Schönheit des Geliebten und die Herzglut des Liebenden ein Feuer entzünden, durch das alle Hüllen und Schleier, ja alles, was er hat, vom Herzen bis zur Haut, verbrennen, und nichts verbleibt außer dem Freunde.
1:87
»Als sich die Eigenschaften des Urewigen offenbarten,
verbrannte Moses die Eigenschaften der vergänglichen Dinge.«Rúmí, Mathnaví .
Q
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