Bahá’u’lláh | Sieben Täler – Vier Täler
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1:66
So ist es denn klar, daß diese Stufen je nach dem Standpunkt des Wanderers verschieden erscheinen. Er sieht in jeder Stadt eine Welt, trifft in jedem Tal eine Quelle und hört in jeder Steppe den Klang eines Liedes. Der Falke des geheimnisvollen Himmels jedoch trägt viele wundersame Weisen des Geistes im Herzen, und der persische Vogel birgt manches süße arabische Lied in der Seele, aber sie sind und bleiben verborgen.Bezieht sich auf Bahá’u’lláh, der Seine Sendung damals noch nicht erklärt hatte – Anm. d. Hrsg.A
1:67
»Spräche ich weiter, würd’ mancher Verstand sich verwirren,
und wenn ich schriebe, brächen die Federn.«Rúmí, Mathnaví
Q.
1:68
Friede sei mit dem, der diese herrliche Reise vollendet und dem Wahrhaftigen folgt durch die Lichter der Führung!
1:69
Hat der Wanderer die Höhen seiner himmelanstrebenden Reise durchmessen, so gelangt er zum
Tal des Genügens.
1:69_11
In diesem Tal empfindet er den Windhauch Göttlichen Genügens, der von der Ebene des Geistes her weht. Er verbrennt die Schleier des Mangels und schaut mit dem inneren und dem äußeren Auge das Verborgene und die Erscheinung aller Dinge, das Zeugnis des Tages, an dem »Gott aus Seiner Fülle heraus jedem vergelten wird«Qur’án 4:130.Q. Seine Trübsal schlägt um in Entzücken, sein Kummer in Freude, und seine Bedrückung und Schwermut wird Frohsinn und Wonne.
1:70
Obschon von außen gesehen die Wanderer in diesem Tal auf der Erde verweilen, so thronen sie innerlich doch auf den Höhen des wahren Sinnes. Sie nehmen teil an den unerschöpflichen Gaben der inneren Bedeutung und trinken vom köstlichen Wein des Geistes.
1:71
Die Zunge ist nicht imstande, diese drei letzten Täler zu schildern, und die Sprache ist unzulänglich. Die Feder dringt nicht in ihr Gebiet, und die Tinte hinterläßt nichts als schwärzende Spuren. Auf diesen Stufen hat die Nachtigall des Herzens andere Weisen und Geheimnisse, die das Herz bewegen und die Seele in Erregung versetzen, doch will dieses Rätsel der wahren Bedeutung nur von Herz zu Herz offenbart und von Brust zu Brust anvertraut sein.
1:72
»Herz zu Herz allein kann von der Wonne der (um Gottes Geheimnisse) Wissenden sagen,
kein Bote kann es künden, kein Brief es enthalten«.Shamsu’d-Dín Muḥammad Ḥáfiẓ
Q
1:73
»Ohnmacht zwingt auch, auf vieles zu schweigen,
und wollte ich sprechen, würden Worte versagen.«Arabischer Vers.
Q
1:74
O Freund, ehe du nicht den Garten dieser inneren Bedeutungen erreicht hast, wirst du nicht vom unvergänglichen Wein dieses Tales trinken. Würdest du aber davon kosten, so würdest du alles andere vergessen und aus dem Kelch des Genügens trinken. Du würdest dich von allem anderen lösen, um dich Ihm zu verbinden, dein Leben auf Seinem Wege verschenken und deine Seele Ihm opfern – obwohl in dem Tal nichts anderes mehr ist, das du vergessen müßtest: »Da war Gott und nichts anderes außer Ihm«Ḥadíth .Q. Denn in diesem Tal sieht der Wanderer überall die Schönheit des Freundes. Selbst im Feuer schaut er das Angesicht des Geliebten. Unwirkliches wird ihm zum Zeichen der Wirklichkeit, und die Eigenschaften werden ihm zum Zeugnis für das Geheimnis des göttlichen Wesens; hat er doch mit einem Hauch die Schleier verweht und mit einem einzigen Blick die Hüllen durchdrungen. Mit unterscheidendem Auge wird er die neue Schöpfung gewahr, und mit lichtem Herzen begreift er die sinnreichen Zeichen. Das Wort: »An diesem Tage werden Wir deinen Blick mit Unterscheidung begaben«Qur’án 50:22.Q bezeugt dies und genügt hier.
1:75
Wenn die Gefilde des lauteren Genügens vom Wanderer durchmessen sind, so gelangt er zum
Tal des Staunens.
1:75_12
Er taucht ein in die Meere erhabener Größe, und mit jedem Augenblick wächst sein Staunen. Bald scheint ihm der Reichtum reine Armut und das Wesen der Freiheit völlige Ohnmacht, bald wieder vergeht er vor der Schönheit des allherrlichen Gottes oder wird er seines eigenen Daseins müde. Wie viele Bäume der inneren Bedeutung hat der Windstoß des Staunens entwurzelt, wie viele Seelen des Atems beraubt! Denn in diesem Tal wird der Wanderer in Verwirrung gestürzt. Aber all diese Wunder sind dem, der zum Ziel kam, höchst willkommen. Jeder Augenblick zeigt ihm Welten des Wunders und eine neue Schöpfung. Er wandert von Verwunderung zu Verwunderung und vergeht aus Ehrfurcht vor den Werken des Herrn der Einheit.
1:76
Ja, mein Bruder, wenn wir über irgendeines der erschaffenen Dinge nachdenken, so werden wir hunderttausend vollkommene Weisheiten finden und ungezähltes wundersames und neues Wissen erfahren. Eine der erschaffenen Erscheinungen ist der Traum: Sieh, wie viele Geheimnisse er birgt, welche Weisheiten er enthält, und wie groß die Zahl der Welten ist, die er einschließt. Du schläfst in einer verschlossenen Wohnung und weilst doch plötzlich weitab in einer Stadt, in die du eintrittst, ohne die Glieder zu rühren oder dich des Körpers zu bedienen, du siehst ohne Augen, hörst ohne Ohren und sprichst ohne Zunge. Und vielleicht geschieht es, daß du zehn Jahre danach in der äußeren Welt dem, was du nächtlich im Traum geschaut hast, begegnest.
1:77
Viele Weisheiten sind im Traum, dessen wahren Sinn niemand sonst als der Wanderer in diesem Tale wirklich verstehen kann. Vor allem, was ist das für eine Welt, in der wir uns ohne Auge, Ohr, Hand oder Zunge dieser Sinne bedienen? Sodann, wie kommt es, daß sich dir heute in der äußeren Welt ein Traum verwirklicht, den du vielleicht zehn Jahre vorher geträumt hast? Denke über den Unterschied zwischen diesen beiden Welten nach und über die Geheimnisse, die darin verborgen liegen, damit dir göttliche Bestätigung und himmlische Entdeckung zuteil werden und du die Welten der Heiligkeit begreifest.
1:78
Gott, der Erhabene, hat diese Zeichen in die Menschen gelegt, damit die Philosophen die Geheimnisse des Fortlebens nicht zu leugnen vermögen, noch herabsetzen, was ihnen verheißen ist. Denn einige stützen sich allein auf die Vernunft und leugnen, was von ihr nicht erfaßt wird, obwohl außer der Göttlichen, Höchsten Vernunft nie die schwache Vernunft die eben geschilderten Dinge zu begreifen imstande ist.
1:78_13
»Wie kann die schwache Vernunft den Qur’án begreifen
oder die Spinne einen Phönix im Netz erjagen?«Mystischer persischer Vers.
Q
1:79
Alle diese Welten erleben wir im Tal des Staunens, und der Wanderer begehrt jeden Augenblick, mehr zu erschauen. Nie wird er dessen müde. Darum hat der ›Herr der Ersten und Letzten‹Ehrenname ʿAlís – Anm. d. Hrsg.A über die Stufen des Sinnens und den Ausdruck des Staunens gesprochen: »O Herr, laß mein Staunen über Dich wachsen!«ʿAlí, Ḥadíth – Anm. d. Hrsg.Q
1:80
Denke gleicherweise über die Vollkommenheit in der Schöpfung des Menschen nach, in der alle diese Welten und Stufen verborgen und versiegelt sind:
1:81
»Wähnst du dich nur eine schwächliche Form,
wo in dir doch das Weltall im Kleinen verborgen ruht?«.ʿAlí, Ḥadíth
Q
1:81_14
Bemühen wir uns darum, in uns das Tierhafte zu vernichten, damit sich die wahre Bedeutung des Menschen offenbare.
1:82
So gab LuqmánEin Weiser, nach dem die 31. Súrah des Qur’án benannt ist. Rúmí sieht in ihm einen Sklaven. Oft wird er mit Aesop gleichgesetzt – Anm. d. Hrsg.A, der aus der Quelle der Weisheit trank und aus dem Meere der Gnade kostete, seinem Sohne Nathan den Traum als Beispiel und Beweis für die Auferstehung und den Tod an. Wir erwähnen dies hier, damit die Erinnerung an jenen Jüngling in der Schule der Göttlichen Einheit, an jenen Älteren in der Kunst der Belehrung und Vergeistigung durch diesen demütigen Diener bewahrt bleibe. Er sagte: »O Sohn! Vermagst du den Schlaf zu bezwingen, so kannst du auch den Tod besiegen, und vermagst du dein Erwachen aus dem Schlaf zu verhüten, so kannst du auch deine Auferstehung vom Tode verhindern.«
1:83
O Freund! Dein Herz ist der Sitz ewiger Geheimnisse, mache es nicht zur Heimstatt sterblicher Gedanken und vergeude den Schatz deines kostbaren Lebens nicht, indem du ihn dieser vergänglichen Welt preisgibst. Du kommst aus der Welt der Heiligkeit, hänge dein Herz nicht an die Erde. Du bist ein Bewohner des Hofes der Nähe, erwähle dir nicht die Welt des Staubes zur Heimat.
1:84
Kurz, diese Stufen zu beschreiben ist noch kein Ende, doch ist dieser Diener um der vielen Schläge willen, die ihm die Bewohner dieser Welt versetzt haben, nicht gestimmt fortzufahren.
1:84_15
»Unvollendet blieb diese Rede, und ich habe nicht das Herz dazu.
Bitte, verzeih mir!«Rúmí, Mathnaví .
Q
1:84_16
Die Feder klagt und die Tinte weint, und der StromEigentlich ›Jayhún‹, ein Fluß in Turkistán.A des Herzens wälzt Wogen des Blutes. »Nichts, als was Gott uns bestimmt hat, wird uns begegnen«Qur’án 9:51.Q. Friede sei mit dem, der den Rechten Weg geht!
1:85
Hat der Wanderer die Höhen des Staunens erstiegen, so betritt er
das Tal der wahren Armut und des völligen Vergehens.
1:86
Dies ist die Stufe, auf der das Ich stirbt und in Gott lebt, arm in sich selbst und reich durch den Ersehnten. Wenn wir auf dieser Stufe von Armut sprechen, so ist damit die Armut von allem gemeint, was in der erschaffenen Welt ist, und Reichtum durch alles, was in der Welt Gottes ist. Denn wenn ein aufrichtig Liebender und ergebener Freund in die Gegenwart des Geliebten tritt, so werden die leuchtende Schönheit des Geliebten und die Herzglut des Liebenden ein Feuer entzünden, durch das alle Hüllen und Schleier, ja alles, was er hat, vom Herzen bis zur Haut, verbrennen, und nichts verbleibt außer dem Freunde.
1:87
»Als sich die Eigenschaften des Urewigen offenbarten,
verbrannte Moses die Eigenschaften der vergänglichen Dinge.«Rúmí, Mathnaví .
Q
1:87_17
Wer diese Stufe erreicht hat, ist über alles, was von der Welt ist, geheiligt. Wenn darum die, die zu diesem Meer Seiner Gegenwart hingefunden, nichts mehr von den vergänglichen Dingen in der sterblichen Welt besitzen, sei es äußeres Gut oder eigene Meinung, so ist darin kein Harm, denn was immer die Geschöpfe besitzen, ist begrenzt durch ihre eigene Begrenzung, doch was Gottes ist, ist darüber geheiligt; viel Nachdenken erfordern diese Worte, damit ihr Sinn klar wird. »Wahrlich, der Gerechte wird aus einem Kelche trinken, dem Kampfer beigemischt ist«Qur’án 76:5.Q. Würdet ihr begreifen, was »Kampfer« bedeutet, so würde der wahre Sinn euch klar sein. Diese Stufe ist jene Art Armut, von der gesagt ist: »Die Armut gereicht mir zum Ruhm«Muḥammad.Q. Es gibt mancherlei Stufen und Bedeutungen der äußeren und der inneren Armut, deren Erwähnung Ich hier nicht für zweckmäßig halte und die Ich darum, so Gott will und es die Vorsehung befiehlt, für ein andermal zurückhalte.
1:88
Dies ist eine Stufe, auf der im Wanderer die Kennzeichen aller Dingearabisch Kull-i-Shay’ – Anm. d. Hrsg.A vergehen und sich das Angesicht Gottes am Morgen der Ewigkeit aus dem Dunkel heraushebt und die Bedeutung des »alles auf Erden ist vergänglich außer Seinem Angesicht«Qur’án 55:26–27.Q offenbar wird.
1:89
O mein Freund! Lausche der Weise des Geistes mit Herz und Seele und schätze sie wie das Licht deiner Augen, denn nicht immer werden die göttlichen Weisheiten wie Frühlingsregen auf die Schollen der menschlichen Herzen strömen. Wenn auch des Allgütigen Gnade ohne Unterlaß strömt, so ist doch jeder Zeit und jedem Abschnitt ein bestimmter Anteil verordnet und eine gewisse Gabe bereitgehalten, die nach festgesetztem Maße gespendet wird. »Nichts ist, dessen Fülle nicht in Unserer Hand liegt, und Wir teilen davon nur das gesetzte Maß aus«Qur’án 15:21.Q. Die Wolke der Gnade des Geliebten strömt nur auf den Garten des Geistes hernieder und spendet ihre Gunst nur im Frühling. Die übrigen Jahreszeiten sind dieser größten Gnade beraubt, und unfruchtbare Gebiete haben keinen Anteil an ihrer Gunst.
1:90
O mein Bruder! Nicht jedes Meer enthält Perlen, nicht an jedem Zweig erblühen Rosen, noch wird die Nachtigall überall singen. Darum bemühe dich, ehe die Nachtigall des Paradieses der inneren Bedeutung sich wieder zum Garten Gottes aufschwingt und die Strahlen des himmlischen Morgens zur Sonne der Wahrheit heimkehren – vielleicht vermagst du dann auf diesem vergänglichen Haufen Staubes einen Hauch aus dem ewigen Garten zu eratmen und im Schatten der Bewohner dieser ewigen Stadt zu verbleiben. Wenn du einmal diese höchste Stufe erreicht hast und zu dieser mächtigen Ebene gelangt bist, wirst du auf den Geliebten schauen und alles andere vergessen.
1:91
»An Tor und Mauer schaut der Freund hervor
entschleiert, o ihr, die ihr Sehkraft habt.«Farídu’d-Dín ‘Aṭṭár (ca. 1150–1230 A.D.), der berühmte persische Ṣúfí-Dichter.
Q
1:92
So hast du nun den Tropfen des Lebens geopfert und dafür das Meer Dessen, Der das Leben spendet, gewonnen. Das ist das Ziel, nach dem du gefragt hast. So Gott will, wirst du es erreichen.
1:93
In dieser Stadt zerreißen und vergehen selbst die Schleier des Lichtes. »Nichts umschleiert Seine Schönheit außer dem Licht, und nichts umhüllt Sein Antlitz außer der Offenbarung«Ḥadíth .Q. Wie seltsam, daß die Achtlosen nach Flitter und unedlem Metall jagen, während der Geliebte gleich der Sonne offenbar ist! Ja, durch die Stärke Seiner Offenbarung ist Er verdeckt, und im Überfluß Seines Glanzes bleibt Er verborgen.
1:94
»Mit dem Glanz der Sonne hat er geleuchtet, doch ach, in die Stadt der Blinden ist er gekommen«Rúmí, Mathnaví .Q.
1:95
In diesem Tal läßt der Wanderer die Stufen der ›Einheit des Wesens und der Erscheinung‹Pantheismus, eine Ṣúfí-Lehre, abgeleitet von der Formel: »Nur Gott ist; Er ist in allen Dingen, und alle Dinge ruhen in Ihm.«.A hinter sich liegen und gelangt zu einer Einheit, die über beide geheiligt ist. Verzückung allein kann das Gesagte begreifen, nicht Erörterungen oder Wortstreit. Nur wer auf dieser Ebene geweilt oder den Hauch dieses Gartens eratmet hat, weiß, was Wir meinen.
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