Das Universale Haus der Gerechtigkeit | Ein gemeinsamer Glaube
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Eine Veröffentlichung des Bahá’í–Weltzentrums
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Ein gemeinsamer Glaube
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Vorwort
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Zu Riḍván 2002 richteten wir einen offenen Brief an die Repräsentanten der Religionen der Welt. Unser Handeln entsprang der Erkenntnis, dass die Krankheit sektiererischen Hasses grauenvolle Konsequenzen nach sich ziehen wird, die kaum eine Region der Welt unberührt lassen, wenn es nicht gelingt, ihr entschieden entgegenzutreten. Der Brief brachte auch seine hohe Wertschätzung gegenüber den Erfolgen der interreligiösen Bewegung zum Ausdruck. Seit deren frühesten Tagen sind Bahá’í darum bemüht, hier ihren Anteil zu leisten. Trotzdem sahen wir uns genötigt, freimütig Folgendes zu sagen: Wenn die religiöse Krise so ernst genommen werden soll wie andere Vorurteile, die die Menschheit belasten, muss die institutionalisierte Religion aus sich selbst den Mut finden, sich über die festgefahrenen Konzepte zu erheben, die sie aus der Vergangenheit mitschleppen.
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Vor allem gaben wir unserer Überzeugung Ausdruck, dass die Zeit gekommen ist, in der religiöse Führung sich ehrlich und ohne weitere Ausflüchte mit allen Konsequenzen der Wahrheit stellen muss, dass Gott nur einer ist und dass jenseits aller kulturellen Ausdrucksform und menschlicher Interpretation auch Religion nur eine ist. Es war die Ahnung dieser Wahrheit, die ursprünglich die interreligiöse Bewegung inspiriert und sie auch durch alle Wechselbäder der letzten hundert Jahre am Leben erhalten hat. Das Prinzip der Einheit der Religionen stellt den Wahrheitsgehalt keiner einzigen dieser großen Offenbarungen in Frage, es garantiert vielmehr den Fortbestand und die Bedeutung der Religion. Damit dieses Prinzip aber seinen Einfluss wirklich geltend machen kann, muss die Anerkennung dieser Tatsache ins Zentrum des interreligiösen Diskurses rücken, und es war unsere Absicht, dies in unserem Brief auch explizit auszudrücken.
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Die Antworten waren ermutigend. Bahá’í­Institutionen auf der ganzen Welt sorgten dafür, dass Tausende von Exemplaren dieses Dokumentes an die einflussreichsten Vertreter der großen Religionsgemeinschaften versandt wurden.
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Während es vielleicht nicht überrascht, dass der Inhalt dieser Botschaft in einigen Kreisen abgelehnt wurde, berichteten die Bahá’í, dass sie im Großen und Ganzen sehr positiv aufgenommen wurde. Besonders ergreifend war die deutlich spürbare aufrichtige Sorge vieler Empfänger über das Versäumnis religiöser Institutionen, den Menschen bei der Bewältigung der im Grunde geistigen und moralischen Herausforderungen zu helfen. Die Diskussionen drehten sich schnell um die Notwendigkeit, einen fundamentalen Wandel im Denken darüber herbeizuführen, wie die gläubigen Massen zueinander finden sollen. In mehreren Fällen waren diejenigen, die den Brief erhalten haben, bereit, ihn zu vervielfältigen und an andere Amtsträger innerhalb ihrer entsprechenden Institutionen weiterzugeben. Wir hoffen, dass unsere Initiative als Katalysator dienen kann und einen Weg öffnet, den Sinn und Zweck der Religion neu zu verstehen.
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Unabhängig davon, wie schnell oder wie langsam sich dieser Wandel vollzieht, müssen sich die Bahá’í dabei ihrer eigenen Verantwortung stellen. Die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich Menschen überall auf der Welt auf Seine Botschaft einlassen, hat Bahá’u’lláh auf die Schultern derer gelegt, die Ihn erkannt haben. Dafür haben sich die Bahá’í von Anfang an eingesetzt und das hat ihre Glaubensgeschichte geprägt. Der beschleunigte Zusammenbruch der sozialen Ordnung macht es dringend erforderlich, dass der religiöse Geist von den Fesseln befreit wird, die ihn bis jetzt daran gehindert haben, den heilsamen Einfluss auszuüben, dessen er fähig ist.
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Wenn die Bahá’í eine Antwort auf die Nöte unserer Zeit geben wollen, müssen sie verstehen, wie sich das spirituelle Leben der Menschheit entwickelt. Bahá’u’lláhs Schriften bieten Einsichten, die helfen können, die Diskussion um religiöse Fragen über sektiererische und zeitbedingte Überlegungen zu erheben. Die Verpflichtung von diesen spirituellen Quellen Gebrauch zu machen, ist untrennbar mit dem Geschenk des Glaubens selbst verbunden. »Religiöser Fanatismus und Hass«, warnt Bahá’u’lláh, »sind ein weltverzehrendes Feuer, dessen Gewalt niemand löschen kann. Nur die Hand Göttlicher Macht kann die Menschheit von dieser verheerenden Plage erlösen.«Ährenlese 132:2Q Mehr und mehr erkennen die Bahá’í, dass ihr Glaube die vorderste Front eines allgemeinen Erwachens darstellt, das Menschen überall auf der Welt ergreift – unabhängig von deren religiösem Hintergrund – und sogar viele Menschen ohne religiöse Neigung einbezieht.
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Die Reflexion dieser Herausforderung war der Anlass, die nachfolgende Erklärung in Auftrag zu geben. Der Text Ein gemeinsamer Glaube wurde unter unserer Leitung erstellt. Es werden Passagen aus den Schriften Bahá’u’lláhs und anderer Religionen auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise beleuchtet. Wir empfehlen ihn dem sorgfältigen Studium der Freunde.
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Das Universale Haus der Gerechtigkeit
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Naw­Rúz 2005
Ein gemeinsamer Glaube
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Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, dass die Periode der Geschichte, die jetzt beginnt, sehr viel empfänglicher sein wird für das Bemühen, die Botschaft Bahá’u’lláhs zu verbreiten, als dies in dem Jahrhundert der Fall war, das gerade hinter uns liegt. Alles deutet darauf hin, dass eine grundlegende Veränderung im menschlichen Bewusstsein begonnen hat.
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Im frühen zwanzigsten Jahrhundert hat eine materialistische Interpretation der Wirklichkeit sich so durchgesetzt, dass sie für die Ausrichtung der Gesellschaft zur beherrschenden Weltreligion wurde. Dadurch wurde der Prozess der Zivilisation gewaltsam aus einer Bahn geworfen, der er über Jahrhunderte gefolgt war. Die göttliche Autorität bildete einst – trotz allen Unterschieden der Interpretation – den Mittelpunkt geistiger Führung. Für viele im Westen scheint sich diese Autorität aufgelöst zu haben. Im Großen und Ganzen war es dem Einzelnen nun selbst überlassen, die Beziehung zu pflegen, die seiner Meinung nach sein Leben mit der geistigen Welt verband. Die Gesellschaft als Ganze aber schritt mit wachsender Selbstsicherheit darin fort, eine Konzeption des Universums aufzugeben, die für sie bestenfalls Fiktion, schlimmstenfalls aber Opium war – in jedem Fall aber ein Hemmnis für den Fortschritt. Die Menschheit hatte ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und hat durch Experimente und Diskussionen alle fundamentalen gesellschaftlichen Fragen auf rationalem Weg gelöst – so hat man die Menschen es zumindest glauben lassen.
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Diese Haltung wurde noch verstärkt durch die Annahme, dass die Werte, die Ideale und die Disziplin, die über Jahrhunderte kultiviert worden waren, nun fest verankert seien und zu beständigen Eigenschaften der menschlichen Natur würden. Sie müssten nur noch auf dem Bildungsweg verfeinert und durch gesetzgebende Maßnahmen in Kraft gesetzt werden. Das moralische Vermächtnis der Vergangenheit war eben dieses: Das unantastbare Erbe der Menschheit benötigt keine weitere religiöse Einmischung mehr. Allerdings könnten undisziplinierte Individuen, Gruppen oder sogar ganze Nationen darin fortfahren, die soziale Ordnung zu bedrohen, was bestraft werden müsste. Doch die universale Zivilisation, zu der all die Kräfte der Geschichte beigetragen hatten, würde unweigerlich entstehen und wäre inspiriert von einer rein säkularen Weltsicht. Das Glück des Menschen wäre künftig das natürliche Ergebnis von besserer Gesundheit, besserer Ernährung, besserer Erziehung und Bildung und besseren Lebensbedingungen. Diese zweifelsohne wünschenswerten Ziele schienen nun für eine Gesellschaft, die sich zielstrebig darum bemühte, erreichbar zu sein.
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In den Teilen der Erde, wo die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, blieb die Schlagzeile, dass Gott tot sei, größtenteils unbeachtet. Die Erfahrungen der Völker in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Pazifik hatten sie schon lange in ihrer Auffassung bestätigt, dass nicht nur die menschliche Natur tief beeinflusst ist von geistigen Kräften, sondern dass ihre eigentliche Identität spirituell ist. Folglich fungierte die Religion weiter so wie seit jeher als letztendliche Autorität im Leben. Zwar gerieten diese Überzeugungen nicht unmittelbar in die Schusslinie der ideologischen Revolution im Westen, aber im täglichen Umgang der Völker und Nationen wurden sie höchst erfolgreich verdrängt. Nachdem der dogmatische Materialismus auf globaler Ebene alle wesentlichen Zentren der Macht und der Information erobert hatte, sorgte er dafür, dass konkurrierende Meinungen kein Gehör mehr fanden, wenn sie ihre Stimme erhoben, um Projekte weltweiter ökonomischer Ausbeutung anzuzweifeln. Zu dem kulturellen Schaden, der durch zwei Jahrhunderte kolonialer Herrschaft verursacht wurde, kam noch eine quälende Diskrepanz zwischen der inneren und äußeren Erfahrung der betroffenen Massen, in nahezu allen Bereichen des Lebens. Hilflos, einen wirklichen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Zukunft oder auch nur die Chance zu haben, die moralische Unversehrtheit ihrer Kinder zu bewahren, wurden diese Völker in eine Krise gestürzt. Diese unterschied sich von der sich verschärfenden Krise in Europa und Nordamerika, aber sie wirkte sich oftmals weit verheerender aus. Obwohl er seine zentrale Rolle im Bewusstsein der Menschen behielt, schien der Glaube dennoch machtlos, den Gang der Ereignisse zu beeinflussen.
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Als das 20. Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, schien daher das plötzliche Wiederaufleben der Religion völlig unwahrscheinlich, schon gar nicht als ein Thema von globaler Bedeutung. Doch genau das passiert jetzt in Form einer plötzlichen Woge von Angst und Unzufriedenheit, wobei das Bewusstsein darüber, dass gerade die spirituelle Leere diese Woge ausgelöst hat, nach wie vor schemenhaft ist. Uralte sektiererische Konflikte, die offensichtlich nicht zugänglich sind für die geduldige Kunst der Diplomatie, tauchten nun plötzlich mit einer Heftigkeit auf, die alles bislang Bekannte in den Schatten stellt. Motive aus den Heiligen Schriften, übernatürliche Phänomene und theologische Dogmen, die noch in jüngster Zeit als Relikte einer Epoche der Ignoranz abgetan worden waren, wurden auf einmal mehr oder weniger willkürlich von einflussreichen Medien aufgegriffen und ausführlich behandelt. In vielen Ländern wurde jetzt der Nachweis der eigenen Religiosität zu einer zwingenden Notwendigkeit, um sich für ein politisches Amt bewerben zu können. Eine Welt, die davon ausging, dass mit dem Zusammenbruch der Mauer in Berlin eine Epoche internationalen Friedens beginnen würde, muss sich nun sagen lassen, dass sie sich mitten in einem Kampf der Kulturen befindet, der seine Wurzeln in unversöhnlicher religiöser Feindschaft hat. Buchhandlungen, Zeitungsläden, Webseiten und Büchereien wetteifern darin, ein offensichtlich unerschöpfliches öffentliches Interesse an Information über religiöse und spirituelle Themen zu befriedigen. Der vielleicht nachhaltigste Faktor für diesen Wandel ist die Tatsache, dass man, wenn auch mit Widerwillen, zugeben muss, dass es keinen wirklich glaubwürdigen Ersatz für religiöse Überzeugung gibt, der die Kraft hätte, Selbstdisziplin hervorzubringen und in der Lage wäre, menschliches Verhalten wieder an moralische Vorgaben zu binden.
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Neben der Aufmerksamkeit, die traditionelle Religion wieder auf sich zieht, gibt es eine weit verbreitete Wiederbelebung spiritueller Suche. Sie hat meist die Form einer persönlichen Identitätssuche, die das rein Materielle übersteigt. Diese Bewegung fördert eine Vielzahl von Beschäftigungen sowohl positiver als auch negativer Art zu Tage. Einerseits fördert die Suche nach mehr Gerechtigkeit und die Unterstützung internationaler Friedensinitiativen auch neue Vorstellungen über die Rolle des Individuums innerhalb der Gesellschaft. Ähnlich führen auch Bewegungen wie die Umweltschutz- und die Frauenbewegung dazu, dass Menschen ihr Selbstverständnis und den Sinn ihres Lebens neu überdenken, auch wenn solche Bewegungen sich eigentlich mehr darauf konzentrieren, einen Wandel in den gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen herbeizuführen. Eine Umorientierung vollzieht sich in allen bedeutenden religiösen Gemeinschaften durch ein beschleunigtes Abwandern der Gläubigen von den traditionellen Richtungen ihres Ursprungsglaubens hin zu Sekten, die die geistige Suche und das persönliche Erleben ihrer Mitglieder betonen. Auf der anderen Seite locken außerirdische Erscheinungen, Selbsterfahrungsmethoden, Rückzug in die Wildnis, charismatische Begeisterung, New­Age­Schwärmerei unterschiedlichster Art und die bewusstseinserweiternde Wirkung, die Drogen und Halluzinogenen zugeschrieben wird, Anhänger in weit größerem Maße als alles, was ein Jahrhundert zuvor an einem vergleichbaren historischen Wendepunkt Menschen an spiritistischen und theosophischen Bewegungen angezogen hatte. Die starke Zunahme sogar von Kulten, Ritualen und Methoden, die bei vielen Menschen Aversionen hervorrufen können, erinnert die Bahá’í an eine Einsicht aus der alten Geschichte von Majnún, der den Staub siebte bei seiner Suche nach seiner geliebten Laylí, obwohl er doch wusste, dass sie reiner Geist war: »Ich suche sie überall, vielleicht, dass ich sie irgendwo finde.«Bahá’u’lláh, Die Sieben Täler, S. 19Q
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Das wiedererwachte Interesse an Religion ist offensichtlich noch weit von seinem Höhepunkt entfernt, sei es in seiner explizit religiösen oder einer mehr undefinierbaren spirituellen Ausdrucksform. Ganz im Gegenteil. Das Phänomen ist das Ergebnis von Kräften aus der Vergangenheit, die stetig an Schwungkraft gewinnen. Gemeinsam ist ihnen der Effekt, dass sie die Sicherheit untergraben, die die Welt im 20. Jahrhundert erworben hat: die materielle Existenz sei die höchste Realität.
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Der offensichtlichste Anlass für diese Neubewertung war wohl der Bankrott des materialistischen Projekts selbst. Für weit über hundert Jahre war die Vorstellung von Fortschritt eng verbunden mit wirtschaftlichem Wachstum und der Annahme, ihm sei die Fähigkeit eigen, gesellschaftlichen Aufschwung in Gang zu bringen und zu gestalten. Die vorhandenen Meinungsverschiedenheiten konnten diese Weltsicht nicht verunsichern, allenfalls einzelne Konzepte, die sich damit beschäftigten, wie ihre Ziele am besten zu erreichen wären. Seine extremste Form, das ›eherne Gesetz‹ des ›wissenschaftlichen Materialismus‹, suchte alle Aspekte der Geschichte und des menschlichen Verhaltens mit den eigenen eng gefassten Begriffen neu zu interpretieren. Ganz gleich, welche humanitären Ideale einige seiner frühen Befürworter auch inspiriert haben mögen, die Folge überall in der Welt waren totalitäre Systeme, die bereit waren, sich aller nur möglichen Zwangsmaßnahmen zu bedienen, um das Leben ihrer unglücklichen Untertanen zu reglementieren. Das Ziel, so suchte man diesen Missbrauch zu rechtfertigen, sei die Schaffung einer völlig neuen Art von Gesellschaft, die nicht nur die Befreiung von jeglicher materieller Not garantierte, sondern auch dem menschlichen Geist Erfüllung versprach. Am Ende, nach acht Jahrzehnten stetig steigender Torheit und Brutalität, scheiterte die Bewegung in ihrem Anspruch, für die Zukunft der Welt glaubwürdige Führung geben zu können.
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Andere Systeme auf dem Feld des gesellschaftlichen Experimentierens, die den Rückgriff auf unmenschliche Methoden ablehnten, leiteten dennoch ihre moralische und intellektuelle Stoßkraft von den gleichen begrenzten Vorstellungen der Realität ab. Die Auffassung setzte sich durch, dass der Aufbau von gerechten und wohlhabenden Gesellschaften durch das eine oder andere System der so genannten Modernisierung gewährleistet werden könnte, da Menschen im Grunde stets an sich selbst denken, wenn es um ihr wirtschaftliches Wohlergehen geht. Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts versanken jedoch unter einem stetig wachsenden Berg von Beweisen für das Gegenteil: der Zusammenbruch des Familienlebens, steigende Kriminalität, nicht funktionierende Erziehungssysteme und eine Fülle weiterer gesellschaftlicher Krankheiten. Das alles ruft die düsteren Worte Bahá’u’lláhs in Erinnerung, mit denen er auf den bedrohlichen Zustand der Gesellschaft hinweist: »Ihr Zustand wird so werden, dass es nicht angemessen und schicklich wäre, ihn jetzt zu enthüllen.«Bahá’u’lláh, Ährenlese 61Q
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Die Geschichte dessen, was man ›sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt‹ genannt hat, lässt keinen Zweifel daran: auch die edelsten Motive können die fundamentalen Fehler des Materialismus nicht korrigieren. Entstanden nach dem Chaos am Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde ›Entwicklung‹ das bei weitem größte und ehrgeizigste Unternehmen, das die Menschheit jemals gemeinsam begonnen hat. Der enorme materielle und technologische Aufwand entsprach der humanitären Motivation. Fünfzig Jahre später muss das Vorhaben trotz der beeindruckenden Wohltaten, die die Entwicklung gebracht hat, an seinen eigenen Kriterien gemessen, als entmutigender Fehlschlag eingestuft werden. Weit davon entfernt, die Kluft zwischen dem kleinen Teil der Menschheitsfamilie, der sich der Segnungen der Moderne erfreuen kann, und der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung, die tief in hoffnungsloser Not versinkt, zu verringern, hat die gemeinsame Bemühung, die mit so viel Hoffnung begonnen hatte, nur dazu geführt, dass die Lücke zu einem Abgrund wurde.
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Der konsumorientierte Lebensstil, heute das Erbe des materialistischen Prinzips von humanitärem Fortschritt, schämt sich keineswegs für die flüchtige Natur der Ziele, die ihn inspiriert haben. Für die kleine Minderheit, die es sich leisten kann, liegen die Vorzüge auf der Hand und müssen nicht weiter gerechtfertigt werden. Der Vormarsch dieses neuen Credos, bestärkt durch den Zusammenbruch traditioneller Moralvorstellungen, ist in Wirklichkeit nicht mehr als der Triumph animalischer Triebe – genauso instinktiv und blind wie der Hunger –, die sich endlich aus den Zwängen übernatürlicher Sanktionen befreit sehen. Das augenfälligste Opfer war die Sprache. Neigungen, die früher allgemein als moralische Verfehlungen gegeißelt wurden, mutierten zu Voraussetzungen des sozialen Fortschritts. Selbstsucht wurde zu einer wertvollen wirtschaftlichen Ressource. Lüge definierte sich neu als öffentliche Information. Perversionen unterschiedlichster Art beanspruchten unverfroren den Status eines Bürgerrechts. Unter entsprechenden Beschönigungen erwarben Gier, Lust, Trägheit, Hochmut, ja sogar Gewalttätigkeit nicht nur eine weit verbreitete Akzeptanz, sondern sozialen und ökonomischen Wert. So wie die Begriffe ihrer Bedeutung beraubt wurden, haben ironischerweise auch die materiellen Bequemlichkeiten und Errungenschaften, für die die Wahrheit geopfert wurde, ihren Sinn verloren.
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Offensichtlich lag der Fehler des Materialismus nicht in dem lobenswerten Bemühen, die Bedingungen des Lebens verbessern zu wollen, sondern in der Beschränktheit des Ansatzes und dem ungerechtfertigten Selbstvertrauen in seine Mission. Die Bedeutung des materiellen Wohlstandes, wie des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zur Erlangung desselben, ist ein Thema, das sich durch die Schriften des Bahá’ítums zieht. Es kam, wie es kommen musste: Jedwede Bemühung, das physische und materielle Wohlergehen der Menschheit von ihrer spirituellen und moralischen Entwicklung zu trennen, endete mit dem Verlust der Loyalität eben jener Völker, deren Interesse der materielle und kulturelle Fortschritt angeblich dient. »Sei Zeuge, wie die Welt täglich von einem neuen Unheil heimgesucht wird«, warnt Bahá’u’lláh, »Ihr Siechtum nähert sich einem Zustand völliger Hoffnungslosigkeit, weil der wahre Arzt gehindert wird, das Heilmittel zu reichen, während ungeschickte Quacksalber begünstigt werden und volle Handlungsfreiheit genießen.«Bahá’u’lláh, Ährenlese 16:3Q
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An der Schwelle zum 21. Jahrhundert verstärkte die globale Vernetzung mit ihrer alles verändernden Dynamik die Ernüchterung der Menschheit über die Versprechungen des Materialismus und brachte die irrigen Vorstellungen über die Wirklichkeit aller Dinge ins Wanken. Am ehesten zeigt sich die globale Vernetzung in den Errungenschaften der Kommunikationstechnologie, die breite Wege der Interaktion zwischen den unterschiedlichsten Völkern dieses Planeten eröffnet. Neben der Erleichterung des interpersonalen und intersozialen Austausches hat der generelle Zugang zu Informationen den Effekt, dass das gesammelte Wissen aus Jahrhunderten, statt wie bislang nur einer Elite zugänglich zu sein, zum kulturellen Erbe der ganzen Menschheit wird, ohne Unterscheidung der Nation, Rasse oder der Kultur. Trotz aller Ungerechtigkeit, die die globale Vernetzung konserviert, ja noch verstärkt, kann doch kein informierter Beobachter leugnen, dass von diesem Wandel der Impuls ausgeht, über das Wesen der Wirklichkeit erneut nachzudenken. mit der Reflexion einher ging auch ein Hinterfragen aller etablierten Autoritäten, nicht nur, wie bisher der Religion und der Moral, sondern ebenso des Staates, der Hochschule, des Handels, der Medien und zunehmend auch der Wissenschaft.
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Abgesehen von den technologischen Faktoren beeinflusst die Vereinigung des Planeten in sehr viel direkterem Maße unser Denken. So kann man z.B. das Ausmaß, in dem der Massentourismus auf internationaler Ebene das globale Bewusstsein verändert hat, nicht hoch genug einschätzen. Größer noch sind die Auswirkungen der enormen Migrationen, die die Welt sah, seit der Báb vor anderthalb Jahrhunderten Seine Sendung verkündete. Millionen von Flüchtlingen, auf der Flucht vor Verfolgung, fegen wie eine Flutwelle besonders über Europa, Afrika und Asien hinweg. Inmitten des dadurch verursachten Leids lässt sich die wachsende Integration der Rassen und Kulturen wahrnehmen, die mehr und mehr zu Bürgern eines gemeinsamen globalen Heimatlandes werden. In der Folge wurden Menschen verschiedenster Herkunft mit anderen Kulturen und Normen konfrontiert, von denen ihre Vorfahren wenig oder gar nichts wussten, was zu einer neuen, unumgänglichen Sinnsuche angeregt hat.
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Man kann sich kaum ausmalen, wie anders die Geschichte der letzten 150 Jahre abgelaufen wäre, hätte einer der Herrscher der Welt, an die Bahá’u’lláh sich wandte, sich Zeit genommen, über ein Konzept nachzudenken, das getragen war von der moralischen Glaubwürdigkeit seines Autors, einer Glaubwürdigkeit, die höchste Beachtung verdiente. Obgleich die Herrscher Bahá’u’lláhs Botschaft missachteten, ist für die Bahá’í zweifelsfrei zu erkennen, dass sich die großen Veränderungen, die in Bahá’u’lláhs Botschaft angekündigt wurden, unwiderstehlich durchsetzen. Durch gemeinsame Erkenntnisse und gemeinsames Leiden werden Menschen verschiedener Kulturen gezwungen, das gemeinsame Menschsein hinter der Oberfläche eingebildeter Identitätsunterschiede zu entdecken. Ganz gleich, ob er nun von den einen hartnäckig abgelehnt oder von den anderen als Befreiung von sinnlosen und erstickenden Begrenzungen begrüßt wird, der Gedanke, dass die Bewohner der Erde tatsächlich »die Blätter eines Baumes«Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká 3:26Q sind, entwickelt sich zu einer Norm, an der die kollektiven Bemühungen der Menschheit gemessen werden.
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Der Verlust des Glaubens an die Axiome des Materialismus und die fortschreitende Globalisierung menschlicher Erfahrung verstärken beide das Verlangen, den Sinn des Lebens neu zu verstehen. Grundlegende Werte werden angezweifelt; kirchliche Verbundenheit wird aufgegeben; einst undenkbare Forderungen werden akzeptiert. Es ist dieser universelle Umbruch, so erklärt Bahá’u’lláh, für den die Schriften der früheren Religionen das Bild von dem ›Tag der Auferstehung‹ gebrauchten. »Der Ruf ist erschallt, und die Menschen sind aus ihren Gräbern hervorgekommen; sie stehen auf und sehen sich um.«Bahá’u’lláh, Ährenlese 17:4Q Hinter aller Verwirrung und allem Leid verbirgt sich im Wesentlichen ein geistiger Prozess: »Der Odem des Allbarmherzigen wehte, und die Seelen wurden in den Gräbern ihrer Körper erquickt.«Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, S. 118Q
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Im Laufe der Geschichte waren zu aller Zeit die großen Religionen die primären Kräfte für geistige Entwicklung. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung haben die Schriften eines jeden dieser Glaubenssysteme, in Bahá’u’lláhs Worten als »die Stadt Gottes«Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit 216Q gedient, als Quelle einer Erkenntnis, die das Bewusstsein völlig umfasst – eine Quelle, die so bezwingend ist, dass sie die Aufrichtigen mit einem »neuen Auge, einem neuen Ohr, einem neuen Herzen und einem neuen Geist«Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit 216Q beschenkt. Zahllose Schriften, zu denen alle Religionen beigetragen haben, beschreiben die Erfahrung von Transzendenz, von der Generationen von Suchern erzählen. Durch die Jahrtausende hat das Leben von Menschen, die auf die Zeichen des Göttlichen geantwortet haben, atemberaubende Leistungen in Musik, Architektur und anderen Künsten inspiriert, die alle in einem endlosen Reigen die Erfahrungen der Seele für Millionen von Gläubigen wiedergeben. Keine andere Kraft war jemals in der Lage, in den Menschen solche Größe von Heroismus, Selbstaufopferung und Selbstdisziplin zu bewirken. Auf der gesellschaftlichen Ebene haben sich oft genug daraus resultierende moralische Prinzipien in universelle Gesetzeswerke verwandelt, die die Beziehungen der Menschen untereinander regeln und verbessern. So gesehen erscheinen die großen Religionen als die primären Antriebskräfte des Zivilisationsprozesses. Etwas anderes zu behaupten, hieße, die Tatsachen der Geschichte zu ignorieren.
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Warum dient dann dieses immens reiche Erbe nicht als Plattform für das Erwachen spiritueller Suche in heutiger Zeit? An der Peripherie werden ernsthafte Versuche unternommen, die Lehren neu zu formulieren, die den entsprechenden Glauben begründet haben, in der Hoffnung, sie könnten dadurch neue Ausstrahlung gewinnen, aber der größte Teil dieser Versuche ist diffus, individualistisch und unzusammenhängend. Die Schriften haben sich nicht geändert; die moralischen Prinzipien, die sie enthalten, haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Niemand, der mit aufrichtigem Herzen den Himmel befragt, wird darin scheitern, eine Antwort aus den Psalmen oder den Upanischaden zu hören, wenn er nur beharrlich genug ist. Jeder, der auch nur eine Ahnung von der Wirklichkeit in sich trägt, die die Materie übersteigt, wird in seinem Herzen berührt von der Art und Weise, wie vertraut Jesus oder Buddha davon spricht. Die apokalyptischen Visionen des Qur’án geben seinen Lesern weiterhin die unumstößliche Gewissheit, dass die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Zentrum göttlicher Absicht steht. In seinen wesentlichen Merkmalen ist auch heute das Leben der Helden und Heiligen sicherlich nicht weniger bedeutsam als zu der Zeit, als sie gelebt haben, auch wenn seitdem Jahrhunderte vergangen sind. Daher ist für viele religiöse Menschen der schmerzlichste Aspekt der gegenwärtigen Zivilisationskrise, dass die Suche nach Wahrheit sich nicht zuversichtlich den bekannten Wegen der Religion zuwendet.
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Das Problem ist tatsächlich ein Zweifaches: Die mit Vernunft begabte Seele beschäftigt sich nicht nur mit sich selbst, sie wirkt auch aktiv an der Gesellschaftsordnung mit. Obwohl die offenbarten Wahrheiten der großen Religionen gültig bleiben, haben sich die alltäglichen Erfahrungen eines Menschen des 21. Jahrhunderts unvorstellbar weit von dem entfernt, was er zu einer Zeit wissen konnte, als diese Lehren offenbart wurden. Demokratische Entscheidungsfindung hat das Verhältnis des Einzelnen zur Autorität fundamental verändert. Zu Recht bestehen Frauen mit wachsendem Selbstvertrauen und wachsendem Erfolg auf ihrem Recht auf völlige Gleichberechtigung mit dem Mann. Revolutionen in Wissenschaft und Technologie verändern nicht nur das Funktionieren, sondern auch das Konzept der Gesellschaft schlechthin, ja das Leben selbst. Umfassende Erziehung und ein explosionsartiger Anstieg von neuen Feldern der Kreativität öffnen den Weg zu Einsichten, die soziale Mobilität und Integration fördern und Chancen entstehen lassen. Rechtsstaatlichkeit stärkt die Bürger darin, hieraus den vollen Nutzen zu ziehen. Stammzellenforschung, Kernenergie, die Frage der sexuellen Identität, ökologische Belastung und die Verteilung des steigenden Wohlstandes sind gesellschaftliche Fragen ohne historisches Beispiel. Diese und zahllose andere Veränderungen, die jeden Aspekt menschlichen Lebens berühren, haben eine neue Welt täglicher Entscheidungen geschaffen für die Gesellschaft als Ganzes wie für ihre einzelnen Mitglieder. Was sich allerdings nicht verändert hat, ist die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Genau an dieser Stelle tritt die spirituelle Natur der heutigen Krise am schärfsten hervor, weil die meisten Entscheidungen nicht nur pragmatischer, sondern moralischer Art sind. Hauptsächlich war deshalb der Verlust des Glaubens in die traditionelle Religion eine zwangsläufige Konsequenz, weil man nicht bereit war, in ihr die Führung zu sehen, die notwendig ist, um in der Moderne erfolgreich und mit Sicherheit leben zu können.
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Ein zweites Hindernis für ein Wiedererstarken der ererbten Glaubenssysteme als Antwort auf die spirituellen Sehnsüchte der Menschheit sind die bereits erwähnten Effekte der Globalisierung. Überall auf dem Planeten sehen sich Menschen, die in einem vorgegebenen religiösen Rahmen groß geworden sind, plötzlich in engem Kontakt zu anderen, deren Glaubensüberzeugungen und Praktiken zumindest auf den ersten Blick mit ihren eigenen unvereinbar sind. Diese Unterschiede lassen nur zu leicht Abwehrhaltungen entstehen, können Ressentiments anheizen und Konflikte heraufbeschwören. In vielen Fällen wird dadurch aber eher ein Hinterfragen der eigenen übernommenen Glaubenslehren angeregt und das Bemühen gefördert, Werte zu entdecken, die allen gemein sind. Die Unterstützung, die zahlreiche interreligiöse Aktivitäten erfahren, geht zweifelsohne auf eine derartige Resonanz in der breiten Öffentlichkeit zurück. Unweigerlich geht mit solchen Annäherungen ein Infragestellen jener religiösen Lehren einher, die eine Vereinigung und ein gegenseitiges Verstehen verhindern. Wenn Menschen, deren Glaube sich grundlegend von dem eigenen zu unterscheiden scheint, dennoch ein moralisches Leben führen, das Bewunderung verdient, was ist es dann, was den eigenen Glauben überlegen sein lässt? Andererseits, wenn alle großen Religionen bestimmte grundlegende Werte miteinander teilen, läuft dann nicht konfessionelle Bindung Gefahr, nur unerwünschte Barrieren zwischen dem Individuum und seinen Nachbarn wieder aufzurichten?
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Nur Wenige von denen, die heute einen gewissen Grad objektiver Vertrautheit mit dem Thema haben, glauben, dass irgendeines der etablierten Religionssysteme aus der Vergangenheit in der Lage wäre, die entscheidende Führungsrolle für die Menschheit in den aktuellen Lebensfragen zu übernehmen, selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ihre verschiedenen Konfessionen eigens zu diesem Zweck zusammenkommen würden. Eine jede der unabhängigen Religionen – oder was man gemeinhin als solche versteht –, ist von ihren verbindlichen Schriften und ihrer Geschichte in eine bestimmte Form gepresst. Da sie nicht frei sind, ihr Glaubenssystem umzugestalten, weil sie ihre Legitimität von den verbindlichen Worten ihres Gründers ableiten, können sie auch nicht die zahlreichen Fragen adäquat beantworten, die durch die soziale und intellektuelle Evolution aufgeworfen werden. Dies mag für viele beunruhigend erscheinen, ist aber nichts weiter als ein Kennzeichen des Evolutionsprozesses selbst. Alle Versuche, ein Zurück zu erzwingen, können nur zu noch größerer Enttäuschung mit der Religion als solcher führen und konfessionelle Konflikte verschärfen.
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Das Dilemma ist beides: künstlich und selbstverschuldet. Die Weltordnung, wenn man sie so nennen will, innerhalb der die Bahá’í die Botschaft Bahá’u’lláhs verbreiten, ist von so grundlegend falschen Vorstellungen über die menschliche Natur und die soziale Entwicklung geprägt, dass sie selbst die intelligentesten und wohlmeinendsten Bemühungen ernsthaft behindert, die Menschen zu bessern. Vor allem trifft dies auf die Verwirrung zu, die praktisch jeden Aspekt der Religion umfasst. Um auf die geistigen Nöte ihrer Mitmenschen adäquat antworten zu können, müssen die Bahá’í die relevanten Probleme besser verstehen lernen. Die dafür erforderliche Anstrengung des Denkens kann man möglicherweise mit dem Hinweis würdigen, dass die vielleicht am häufigsten und immer wieder eindringlich wiederholte Ermahnung in den Schriften ihres Glaubens ist: zu ›meditieren‹, ›nachzudenken‹ und zu ›reflektieren‹.
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