Universales Haus der Gerechtigkeit | Die Verheißung des Weltfriedens
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Das Universale Haus der Gerechtigkeit
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Die Verheißung des Weltfriedens
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Eine Botschaft an die Völker der Welt
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Oktober 1985
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An die Völker der Welt!
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Der Große Friede, auf den durch die Jahrhunderte Menschen guten Willens ihre Herzen gerichtet, den unzählige Generationen lang Seher und Dichter in ihren Visionen beschrieben und den die Heiligen Schriften der Menschheit von Zeitalter zu Zeitalter immer wieder verheißen haben, ist jetzt endlich in Reichweite der Nationen. Zum ersten Mal in der Geschichte ist jedermann imstande, in einer Gesamtschau den ganzen Planeten mit seiner Vielzahl verschiedener Völker zu überblicken. Weltfriede ist nicht nur möglich, sondern unausweichlich. Er ist die nächste Stufe in der Evolution dieses Planeten – mit den Worten eines großen Denkers: »die Planetisierung der Menschheit«.
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Ob der Friede erst nach unvorstellbaren Schrecken erreichbar ist, heraufbeschworen durch stures Beharren der Menschheit auf veralteten Verhaltensmustern, oder ob er heute durch einen konsultativen Willensakt herbeigeführt wird, das ist die Wahl, vor die alle Erdenbewohner gestellt sind. Zu diesem kritischen Zeitpunkt, da die hartnäckigen Probleme der Völker zur gemeinsamen Sorge aller werden, wäre das Versäumnis, der Flut von Konflikt und Unordnung zu wehren, gewissenlos und unverantwortlich.
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Zu den günstigen Zeichen gehören die mit ständig wachsender Kraft auf eine Weltordnung hin unternommenen Schritte: zuerst, zu Beginn des Jahrhunderts, die Schaffung des Völkerbundes, gefolgt von der breiter angelegten Organisation der Vereinten Nationen; die seit dem Zweiten Weltkrieg von der Mehrzahl aller Völker der Erde erlangte Unabhängigkeit, die anzeigt, dass der Prozess der Bildung von Nationalstaaten abgeschlossen ist; die Einbeziehung dieser jungen Staaten mit den älteren in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse; in der Folge die stark ansteigende Zusammenarbeit zwischen bislang isolierten, zerstrittenen Völkern und Gruppen bei internationalen Unternehmen auf den Gebieten von Wissenschaft, Bildung, Recht, Wirtschaft und Kultur; die Gründung einer beispiellosen Zahl internationaler humanitärer Organisationen während der letzten Jahrzehnte; die Ausbreitung von Frauen- und Jugendbewegungen, welche die Abschaffung des Krieges fordern; und schließlich ein spontanes, immer mehr sich ausdehnendes Netzwerk einfacher Menschen, die durch persönliche Kommunikation Verständigung suchen.
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Die wissenschaftlich-technischen Fortschritte unseres ungewöhnlich gesegneten Jahrhunderts deuten auf einen gewaltigen Vorstoß in der gesellschaftlichen Entwicklung des Planeten und zeigen die Mittel auf, mit denen die praktischen Probleme der Menschheit gelöst werden können. Sie bieten in der Tat das Werkzeug zur Ordnung des vielschichtigen Lebens einer vereinten Welt. Doch es bestehen noch Barrieren. Zweifel, Missverständnisse, Vorurteile, Argwohn und engstirniger Eigennutz blockieren die Beziehungen der Staaten und Völker zueinander.
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Aus tiefempfundener geistiger und moralischer Verantwortung sehen wir uns zu dieser günstigen Stunde veranlasst, Ihre Aufmerksamkeit auf die umfassenden Einsichten zu lenken, die Bahá’u’lláh, der Stifter der Bahá’í-Religion, deren Treuhänder wir sind, erstmals vor über einem Jahrhundert den Herrschern der Menschheit übermittelt hat.
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»Die Winde der Verzweiflung«, schrieb Bahá’u’lláh, »wehen aus jeder Richtung, und der Hader, der das Menschengeschlecht spaltet und peinigt, nimmt täglich zu. Die Zeichen drohender Erschütterungen und des Chaos sind heute deutlich zu sehen, zumal die bestehende Ordnung erbärmlich mangelhaft erscheint.« Die gemeinsame Erfahrung der Menschheit hat dieses prophetische Urteil gründlich bestätigt. Mängel in der bestehenden Ordnung zeigen sich deutlich im Unvermögen der als Vereinte Nationen organisierten souveränen Staaten, das Schreckgespenst des Krieges, den drohenden Zusammenbruch der internationalen Wirtschaftsordnung, die Ausbreitung von Anarchie und Terrorismus sowie das unermessliche Leid zu bannen, das diese und andere Heimsuchungen Abermillionen Menschen zufügen. Aggression und Konflikt sind tatsächlich in solchem Ausmaß zu Kennzeichen unserer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Systeme geworden, dass viele der Ansicht verfielen, derartiges Verhalten sei ein Wesensmerkmal des Menschen und deshalb unausrottbar.
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Mit der Verfestigung dieser Ansicht ergab sich ein lähmender Widerspruch: Einerseits verkünden Menschen aller Völker nicht nur ihre Bereitschaft, sondern ihre Sehnsucht nach Frieden und Eintracht, nach einem Ende der quälenden Furcht, die ihr tägliches Leben peinigt. Andererseits findet die These unkritische Zustimmung, der Mensch sei unverbesserlich selbstsüchtig, aggressiv und deshalb unfähig, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die zugleich fortschrittlich und friedlich, dynamisch und harmonisch ist, eine Ordnung, die der individuellen Kreativität und Initiative freien Lauf lässt, aber auf Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit beruht.
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Da die Notwendigkeit des Friedens immer dringender wird, verlangt dieser seiner Verwirklichung im Wege stehende, grundlegende Widerspruch eine Überprüfung der Prämissen, auf denen nach allgemeiner Ansicht das historische Dilemma der Menschheit beruht. Bei sachlicher Prüfung erweist es sich, dass jene Haltung keineswegs des Menschen wahres Wesen ausdrückt, sondern ein Zerrbild des menschlichen Geistes darstellt. Hiervon überzeugt, werden alle Menschen in der Lage sein, konstruktive gesellschaftliche Kräfte in Bewegung zu setzen, stehen diese doch im Einklang mit der menschlichen Natur und fördern Eintracht und Zusammenarbeit statt Krieg und Konflikt.
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Einen solchen Kurs einschlagen, heißt nicht, die Vergangenheit der Menschheit leugnen, sondern sie verstehen. Die Bahá’í-Religion betrachtet die gegenwärtige Verwirrung in der Welt und den verhängnisvollen Zustand der menschlichen Belange als natürliche Phase in einem unaufhaltsamen organischen Prozess, hin zur Einigung der Menschheit in einer einzigen Gesellschaftsordnung, deren Grenzen die des Planeten sind. Wie der Mensch als Einzelwesen, hat die Menschheit als Gattung die Entwicklungsstufen des Säuglings und des Kindes durchlaufen, ist nun auf dem Höhepunkt ihrer ungestümen Jugend und nähert sich ihrer lang erwarteten Mündigkeit.
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Das offene Eingeständnis, dass Vorurteil, Krieg und Ausbeutung Zeichen der Unreife in einem langen historischen Prozess waren, und dass die Menschheit gegenwärtig den unvermeidlichen Sturm und Drang ihrer kollektiven Reifung erlebt, ist kein Grund zur Verzweiflung, sondern eine Voraussetzung für das gewaltige Unternehmen, eine friedliche Welt zu bauen. Dass dieses Unternehmen möglich ist, dass die erforderlichen konstruktiven Kräfte wirklich vorhanden sind, dass vereinende Gesellschaftsstrukturen errichtet werden können, ist die Aussage, um deren Prüfung wir Sie eindringlich bitten.
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Welches Leid und welchen Aufruhr die nächsten Jahre bringen, wie dunkel die bevorstehenden Ereignisse auch sein mögen, die Bahá’í-Gemeinde glaubt, dass die Menschheit sich dieser höchsten Prüfung mit Zuversicht auf das Endergebnis stellen kann. Statt das Ende der Zivilisation zu signalisieren, werden die Umwälzungen, denen die Menschheit immer schneller zutreibt, vielmehr dazu dienen, »die Möglichkeiten, die der Stufe des Menschen innewohnen«, freizulegen und »das volle Maß seiner Bestimmung auf Erden, den angeborenen Vorzug seiner Wirklichkeit« zu offenbaren.
I.
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Die Gaben, die den Menschen von allen anderen Lebensformen unterscheiden, lassen sich im Begriff des menschlichen Geistes zusammenfassen; der Verstand ist seine wesentliche Eigenschaft. Diese Gaben haben es der Menschheit ermöglicht, Kultur zu schaffen und materiell zu gedeihen. Aber solche Errungenschaften allein haben den menschlichen Geist niemals befriedigt, ist er doch von seiner geheimnisvollen Natur her auf Transzendenz gerichtet, nach einem unsichtbaren Reich ausgreifend, nach der letzten Wahrheit, dem unerkennbaren Wesen allen Wesens, Gott genannt. Die der Menschheit durch eine Aufeinanderfolge geistiger Leuchten gebrachten Religionen bildeten die Hauptverbindung zwischen der Menschheit und jener letzten Wirklichkeit. Sie haben die Fähigkeit der Menschheit, geistigen Erfolg wie auch gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen, geweckt und verfeinert.
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Kein ernst zu nehmender Versuch zur Regelung menschlicher Belange, zur Schaffung des Weltfriedens, kann die Religion außer Acht lassen. Des Menschen Erkenntnis und Ausübung der Religion bilden größtenteils den Stoff der Geschichte. Ein bedeutender Historiker hat die Religion als eine »Fähigkeit der menschlichen Natur« beschrieben. Dass die Perversion dieser Fähigkeit beträchtlich zu der Verwirrung in der Gesellschaft und den Konflikten in und zwischen den Menschen beigetragen hat, kann kaum geleugnet werden. Aber ein objektiver Betrachter kann auch den entscheidenden Einfluss der Religion auf die lebendigen Ausdrucksformen der Kultur nicht unberücksichtigt lassen. Zudem hat ihr unmittelbarer Einfluss auf Recht und Sitte immer wieder ihre Unentbehrlichkeit für die gesellschaftliche Ordnung erwiesen.
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Über die Religion als gesellschaftsbildende Kraft sagt Bahá’u’lláh: »Religion ist das wichtigste Mittel zur Begründung von Ordnung in der Welt und zur Befriedung aller, die darin wohnen.« In Bezug auf den Niedergang, die Entartung der Religion schrieb er: »Würde die Lampe der Religion verdunkelt, so wären Chaos und Verwirrung die Folge, und die Lichter der Redlichkeit und Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens würden nicht länger scheinen.« In einer Aufzählung solcher Konsequenzen weisen die Bahá’í-Schriften daraufhin, dass »die Verderbnis der menschlichen Natur, die Erniedrigung des menschlichen Verhaltens, die Entartung und Auflösung menschlicher Institutionen sich unter solchen Umständen in ihren schlimmsten und abstoßendsten Bildern offenbaren. Der menschliche Charakter wird entwürdigt, jedes Vertrauen wird erschüttert, die Nervenstränge der Disziplin und Ordnung erschlaffen, die Stimme des menschlichen Gewissens wird zum Schweigen gebracht, der Sinn für Scham und Anstand wird verdunkelt, die Vorstellungen von Pflicht, Zusammenhalt, Gegenseitigkeit und Treue werden verdreht, selbst das Empfinden für Friedfertigkeit, Freude und Hoffnung wird nach und nach ausgelöscht.«
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Wenn darum die Menschheit ein Stadium lähmenden Konflikts erreicht hat, muss sie die Quelle für die Uneinigkeit und die Verwirrung, die im Namen der Religion verursacht wurde, bei sich selbst suchen, bei ihrer eigenen Gleichgültigkeit, bei den Sirenenstimmen, denen sie lauschte. Wer blind und selbstsüchtig an der eigenen Orthodoxie festhält, wer seinen Anhängern falsche, widersprüchliche Auslegungen der Worte der Propheten Gottes auferlegt, trägt schwere Verantwortung für diese Verwirrung – eine Verwirrung durch die künstlichen Schranken zwischen Glauben und Vernunft, Wissenschaft und Religion; denn prüft man unvoreingenommen die tatsächlichen Worte der großen Religionsstifter und das gesellschaftliche Umfeld, in dem diese ihre Mission zu erfüllen hatten, so findet man nichts, was den Streit und die Vorurteile, welche die Religionsgemeinschaften der Menschheit und damit alle Belange der Menschen zerrütten, begründen könnte.
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Die Lehre, dass wir andere so behandeln sollen, wie wir selbst behandelt werden wollen, eine in allen großen Religionen auf mannigfache Weise wiederholte Ethik, verleiht dieser Beobachtung in zweierlei Hinsicht Nachdruck: Sie fasst die ethische Grundhaltung zusammen, den friedenswirkenden Aspekt, der sich durch diese Religionen hindurchzieht, ungeachtet des Ortes und der Zeit ihrer Entstehung; sie kennzeichnet außerdem den Aspekt der Einheit als wesenhafte Eigenschaft der Religion, eine Eigenschaft, welche die Menschheit in ihrem zusammenhanglosen Geschichtsbild zu würdigen versäumt hat.
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Hätte die Menschheit die Erzieher ihrer kollektiven Kindheit in ihrem wahren Wesen gesehen, nämlich als die Triebkraft im Gesamtprozess ihrer Kultivierung, dann hätte sie ohne Zweifel unermesslich größeren Nutzen aus der kumulativen Wirkung ihrer aufeinanderfolgenden Missionen gezogen. Leider hat die Menschheit dies versäumt.
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Das Wiederaufleben fanatischer religiöser Leidenschaft in vielen Ländern kann nur als Todeszucken betrachtet werden. Allein die damit verbundenen Ausbrüche von Gewalt und Zerstörung zeugen von deren geistigem Bankrott. Tatsächlich ist eines der seltsamsten, betrüblichsten Merkmale des gegenwärtigen Ausbruchs von religiösem Fanatismus das Ausmaß, in welchem er jedes Mal nicht nur die geistigen Werte untergräbt, welche die Einheit der Menschheit fördern, sondern auch die einzigartigen moralischen Siege derjenigen Religion, der zu dienen er vorgibt.
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Welch vitale Kraft die Religion in der Geschichte der Menschheit auch war, wie dramatisch das gegenwärtige Wiederaufleben des militanten religiösen Fanatismus auch sein mag, Religion und religiöse Institutionen werden seit vielen Jahrzehnten von immer weiteren Kreisen der Bevölkerung als irrelevant für die wesentlichen Fragen der modernen Welt angesehen. Stattdessen geben sich die Menschen entweder dem hedonistischen Ziel materieller Befriedigung hin oder folgen von Menschen geschaffenen Ideologien, welche die Gesellschaft von den offensichtlichen Übeln, unter denen sie stöhnt, befreien sollen. Anstatt die Einheit der Menschheit als Grundkonzept zu erfassen und die Eintracht unter den Völkern zu mehren, neigen leider allzu viele dieser Ideologien dazu, den Staat zu vergöttern, die übrige Menschheit jeweils einer Nation, Rasse oder Klasse unterzuordnen, Diskussion und Gedankenaustausch zu unterdrücken oder Millionen Hungernder gleichgültig Marktmechanismen preiszugeben, die die wirtschaftliche Misere des größeren Teils der Menschheit ganz offensichtlich verschlimmern, während sie kleinen Teilen der Bevölkerung ein Leben in einem von unseren Vorfahren kaum erträumten Überfluss ermöglichen.
2:9
Wie erschütternd ist doch der Leistungsnachweis der von den Weltklugen unseres Zeitalters geschaffenen Ersatzreligionen! In der gründlichen Desillusionierung ganzer Bevölkerungen, die zum Kult an ihren Altären unterwiesen waren, lässt sich das unwiderrufliche Werturteil der Geschichte über sie ablesen. Nach Jahrzehnten einer immer schrankenloseren Machtausübung derer, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg diesen Doktrinen verdanken, sind deren Früchte die sozialen und wirtschaftlichen Leiden, mit denen in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts alle Regionen unserer Welt geschlagen sind. Die Wurzel all dieser äußerlichen Bedrängnisse ist der geistige Schaden aus der Apathie, die in allen Staaten die Masse der Bevölkerung ergriffen hat, das Erlöschen der Hoffnung in den Herzen beraubter, angsterfüllter Millionen.
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Die Zeit ist gekommen, dass die Dogmenprediger des Materialismus – im Osten wie im Westen, im Kapitalismus wie im Sozialismus – Rechenschaft ablegen müssen über die moralische Führung, die auszuüben sie sich anmaßen. Wo ist die von diesen Ideologien verheißene ›neue Welt‹? Wo ist der internationale Friede, für dessen Ideale sie ihre Ergebenheit bekunden? Wo sind die durch die Verherrlichung dieser Rasse, jener Nation oder einer bestimmten Klasse erzielten Durchbrüche in neue Bereiche der Kulturleistung? Warum versinkt in unserer Welt der Großteil der Völker immer tiefer in Hunger und Elend, wenn den heutigen Sachwaltern der Gesellschaft Reichtum in einem Maße zur Verfügung steht, von dem die Pharaonen, die Caesaren oder selbst die imperialistischen Mächte des 19. Jahrhunderts nicht hätten träumen können?
2:11
Ganz besonders in der Glorifizierung des Trachtens nach materiellen Dingen, zugleich Ursprung und gemeinsames Merkmal aller dieser Ideologien, finden sich die Wurzeln der falschen These, der Mensch sei unverbesserlich selbstsüchtig und aggressiv. Hier muss man ansetzen, um einer für unsere Nachkommen tauglichen neuen Welt den Boden zu bereiten.
2:12
Die Erfahrung, dass die Ideale des Materialismus die Bedürfnisse der Menschheit nicht zu befriedigen vermochten, fordert das ehrliche Eingeständnis, dass eine neue Anstrengung unternommen werden muss, Lösungen für die Probleme des Überlebens auf diesem Planeten zu finden. Die sich in der Gesellschaft ausbreitenden unerträglichen Verhältnisse zeugen von allgemeinem Versagen, ein Umstand, der die Gräben auf jeder Seite eher vertieft als überbrückt. Offensichtlich ist ein gemeinsames Bemühen um Heilung dringend erforderlich. Es ist vor allem eine Sache der Einstellung. Wird die Menschheit in ihrem Eigensinn verharren, sich weiterhin an verbrauchte Konzepte und untaugliche Prämissen klammern? Oder werden ihre Führer, ungeachtet ihrer Ideologie, vortreten und entschlossenen Willens miteinander in gemeinsamer Suche nach sachdienlichen Lösungen beraten?
2:13
Wem die Zukunft des Menschengeschlechts am Herzen liegt, der sollte über diesen Rat gründlich nachdenken: »Wenn lang gehegte Ideale, wenn altehrwürdige Institutionen, wenn gesellschaftliche Postulate und religiöse Glaubensbekenntnisse das Wohl der Gesamtheit aller Menschen nicht mehr fördern, wenn sie den Bedürfnissen einer sich ständig entwickelnden Menschheit nicht länger gerecht werden, dann fegt sie hinweg und verbannt sie in die Rumpelkammer überholter, vergessener Doktrinen! Warum sollten sie in einer Welt, die dem unabänderlichen Gesetz des Wandels und des Verfalls unterliegt, von der Entartung verschont bleiben, die alle menschlichen Einrichtungen zwangsläufig ereilt? Rechtsnormen, politische und wirtschaftliche Theorien sind nur dazu da, die Interessen der Menschheit als Ganzes zu schützen; nicht aber ist die Menschheit dazu da, für die unversehrte Aufrechterhaltung eines bestimmten Gesetzes oder Lehrsatzes gekreuzigt zu werden.«
II.
3:1
Die Abschaffung der Atomwaffen, das Verbot der Verwendung von Giftgas oder die Ächtung der bakteriellen Kriegsführung werden die eigentlichen Kriegsursachen nicht beseitigen. Wie wichtig solche praktischen Maßnahmen als Elemente des Friedensprozesses offensichtlich auch sind, sie sind zu oberflächlich, um einen dauerhaften Einfluss auszuüben. Die Völker sind erfinderisch genug, um noch ganz andere Formen der Kriegsführung zu ersinnen und in ihrem endlosen Streben nach Vormacht und Herrschaft Nahrungsmittel, Rohstoffe, Finanzen, industrielle Macht, Ideologie und Terrorismus als Instrumente zu ihrer gegenseitigen Vernichtung einzusetzen. Auch lässt sich die gegenwärtige völlige Zerrüttung in den Angelegenheiten der Menschheit nicht durch die Beilegung bestimmter Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen Staaten kurieren. Ein wirklich allumfassender Rahmen muss akzeptiert werden.
3:2
Den Staatslenkern mangelt es gewiss nicht an der Erkenntnis, dass es sich hier um eine Angelegenheit von weltweiter Bedeutung handelt, was angesichts der sich häufenden Probleme, denen sie sich täglich gegenübersehen, keines weiteren Beweises bedarf. Auch gibt es in zunehmendem Maße Studien und Lösungsvorschläge von interessierten, aufgeklärten Gruppen wie auch von Organen der Vereinten Nationen, so dass niemand über die dringenden Erfordernisse in Unkenntnis sein kann. Es besteht jedoch eine Willenslähmung, und gerade diese bedarf sorgfältiger Untersuchungen und entschlossener Behandlung. Wie festgestellt,, hat diese Lähmung ihren Grund in der tief verwurzelten Überzeugung von der unausrottbaren Streitsucht des Menschen; diese Überzeugung macht abgeneigt, die Möglichkeit, nationales Eigeninteresse den Erfordernissen einer Weltordnung unterzuordnen, auch nur in Erwägung zu ziehen, geschweige denn, sich den weitreichenden Implikationen einer vereinten Weltautorität mutig zu stellen. Die Willenslähmung lässt sich auch zurückführen auf die Unfähigkeit größtenteils unwissender, unterdrückter Massen, ihre Sehnsucht nach einer neuen Ordnung, in der sie mit der ganzen Menschheit in Frieden, Eintracht und Wohlstand leben können, deutlich zum Ausdruck zu bringen.
3:3
Die zaghaften Schritte auf eine Weltordnung hin – vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg – setzen hoffnungsvolle Zeichen. Die steigende Tendenz einzelner Staatengruppen, ihren Beziehungen feste Formen zu geben, was ihnen dann die Zusammenarbeit in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse ermöglicht, deutet darauf hin, dass schließlich alle Nationen diese Lähmung überwinden können. Der Verband Südostasiatischer Staaten, die Karibische Gemeinschaft und Ihr Gemeinsamer Markt, der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt, der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, die Europäischen Gemeinschaften, die Arabische Liga, die Organisation für Afrikanische Einheit, die Organisation der Amerikanischen Staaten, das Südpazifische Forum – alle durch solche Organisationen erbrachten vereinten Bemühungen bereiten den Weg zur Weltordnung.
3:4
Die wachsende Aufmerksamkeit für gewisse grundlegende Probleme des Planeten ist ein weiteres hoffnungsvolles Zeichen. Trotz der offensichtlichen Unzulänglichkeit der Vereinten Nationen geben die über vierzig durch diese Organisation verabschiedeten Erklärungen und Abkommen, selbst wo Regierungen in ihrem Engagement nicht sehr enthusiastisch waren, einfachen Menschen das Gefühl eines neuen Aufschwungs. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Abkommen zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord und ähnliche Maßnahmen zur Beseitigung aller durch Rasse, Geschlecht oder Religion begründeten Formen von Diskriminierung, die Wahrung der Rechte des Kindes, der allgemeine Schutz vor Folter, die Ausrottung von Hunger und Unterernährung, der Einsatz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Interesse des Friedens und zum Nutzen der Menschheit – alle derartigen Maßnahmen bringen, wenn sie mutig unterstützt und ausgedehnt werden, den Tag näher, da das Schreckgespenst des Krieges seine beherrschende Kraft in den internationalen Beziehungen verloren haben wird. Es erübrigt sich, die Bedeutung der durch diese Erklärungen und Abkommen behandelten Themen zu betonen. Indes verdienen einige dieser Themen wegen ihrer unmittelbaren Wichtigkeit für die Errichtung des Weltfriedens eine zusätzliche Erläuterung.
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Der Rassismus ist eines der verhängnisvollsten, hartnäckigsten Übel, ein Haupthindernis für den Frieden. Wo er herrscht, wird die Menschenwürde zu schändlich verletzt, als dass er unter irgendeinem Vorwand gebilligt werden könnte. Der Rassismus hemmt die Entfaltung der unbegrenzten Möglichkeiten seiner Opfer, korrumpiert die Täter und vereitelt den menschlichen Fortschritt. Die Einheit der Menschheit, vollzogen durch geeignete rechtliche Maßnahmen, muss allgemein gültig anerkannt werden, wenn dieses Problem überwunden werden soll.
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Der krasse Unterschied zwischen arm und reich, eine Quelle heftigsten Leides, hält die Welt in einem Zustand der Instabilität am Rande des Krieges. Nur wenige Gesellschaften haben diese Situation erfolgreich gemeistert. Die Lösung erfordert die kombinierte Anwendung geistiger, moralischer und praktischer Mittel. Das Problem muss in neuem Licht betrachtet werden; es bedarf der Beratung durch Experten aus einem breiten Spektrum von Fachbereichen, frei von wirtschaftlicher und ideologischer Polemik, unter Einbezug der von den dringend zu fällenden Entscheidungen direkt Betroffenen. Es handelt sich nicht nur um die notwendige Beseitigung der Extreme von Reichtum und Armut; diese Frage steht vielmehr in untrennbarem Zusammenhang mit jenen geistigen Wahrheiten, deren Verständnis eine neue, aufs Ganze bezogene Haltung hervorbringen kann. Eine solche Haltung zu fördern, ist in sich schon ein wesentlicher Teil der Lösung.
3:7
Ein ungezügelter Nationalismus – im Unterschied zu einem gesunden, legitimen Patriotismus – muss einer umfassenderen Loyalität Platz machen: der Liebe zur Menschheit als Ganzem. Bahá’u’lláhs Erklärung lautet: »Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.« Der Gedanke der Weltbürgerschaft ist das unmittelbare Ergebnis davon, dass die Welt durch den wissenschaftlichen Fortschritt und die unbestreitbare wechselseitige Abhängigkeit der Staaten auf eine einzige Nachbarschaft geschrumpft ist. Die Liebe zu allen Völkern der Welt schließt die Liebe zum eigenen Land nicht aus. In der Weltgesellschaft wird der Nutzen eines Teils am besten dadurch gewahrt, dass der Nutzen des Ganzen gefördert wird. Die heutigen internationalen Aktivitäten auf verschiedenen Gebieten, welche die gegenseitige Zuneigung und den Sinn für Solidarität unter den Völkern pflegen, müssen erheblich verstärkt werden.
3:8
Religiöser Streit war im Laufe der Geschichte der Grund für unzählige Konflikte und Kriege, ein Pesthauch für den Fortschritt; er wird den Menschen immer mehr zuwider, ob sie einer Religion angehören oder nicht. Die Anhänger aller Religionen müssen bereit sein, sich den Grundfragen zu stellen, die dieser Streit aufgeworfen hat, und zu klaren Antworten zu gelangen. Wie lassen sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen in Theorie und Praxis beilegen? Die religiösen Führer der Menschheit sind herausgefordert, mit Herzen voll Mitgefühl und Sehnsucht nach Wahrheit über das Elend der Menschheit nachzudenken und sich zu fragen, ob sie nicht in Demut vor ihrem allmächtigen Schöpfer ihre theologischen Differenzen im großmütigen Geist gegenseitiger Nachsicht, der ihnen die Zusammenarbeit für Verständigung und Frieden zwischen den Menschen ermöglicht, hintanstellen können.
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