Das Universale Haus der Gerechtigkeit | Reflexionen über die ersten hundert Jahre des Gestaltenden Zeitalters
weiter nach oben ...
69
Während sich die zunehmende Beteiligung der Bahá’í-Gemeinden am Leben der breiteren Gesellschaft festigte, entfaltete sich dieser Prozess zunächst parallel zur Lehrarbeit und zur Entwicklung der Administration. In den letzten Jahrzehnten jedoch sind die Bemühungen um soziales Handeln und um die Einbindung in die gesellschaftlichen Diskurse mit denen um Ausbreitung und Festigung ausgesprochen kohärent geworden, da die Freunde zunehmend die Elemente des konzeptionellen Handlungsrahmens der globalen Pläne angewendet haben. In dem Maß, in dem die Freunde in ihren Clustern arbeiten, werden sie unweigerlich in das Leben der sie umgebenden Gesellschaft hineingezogen, und der Lernprozess, der die Bemühungen um Wachstum und Gemeinschaftsbildung vorantreibt, wird auf ein immer breiteres Spektrum von Aktivitäten ausgedehnt. Das Gemeindeleben zeichnet sich zunehmend durch seinen Beitrag zum materiellen, sozialen und geistigen Fortschritt aus, je mehr die Freunde ihre Fähigkeit kultivieren, die Gegebenheiten der Gesellschaft um sie herum zu verstehen, Räume zu schaffen, in denen sie Konzepte aus der Offenbarung Bahá’u’lláhs und aus relevanten Bereichen des menschlichen Wissens erforschen, Einsichten in praktische Probleme einbringen und Fähigkeiten unter den Gläubigen und in der weiter gefassten Gemeinschaft aufbauen. Infolge dieser zunehmenden Kohärenz zwischen den verschiedenen Handlungsbereichen wuchsen die einfachsten Aktivitäten für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung an der Basis von einigen Hundert im Jahr 1990, bis 2000 auf mehrere Tausend und bis 2021 auf Zehntausende. Das Engagement der Bahá’í im gesellschaftlichen Diskurs hat in zahllosen Umgebungen, von der Nachbarschaft bis zur Nation, eine durchschlagend positive Resonanz gefunden, da eine Menschheit, verwirrt und gespalten durch die vielfältigen Probleme, die sich aus dem Wirken der Kräfte des Zerfalls ergeben, begierig nach neuen Einsichten sucht. Führende Denker auf allen Ebenen der Gesellschaft assoziieren die Bahá’í-Gemeinde zunehmend mit neuen Konzepten und Ansätzen, die eine immer stärker zerstrittene und dysfunktionale Welt dringend benötigt. Die gesellschaftsbildende Kraft des Glaubens, die zu Beginn des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters noch weitgehend verborgen war, wird nun in einem Land nach dem anderen immer deutlicher sichtbar. Die Freisetzung dieser gesellschaftsbildenden Kraft, das Resultat eines neuen Bewusstseins und einer neuen Lernfähigkeit bei Einzelnen, Gemeinden und Institutionen auf der ganzen Welt, ist dazu bestimmt, das Kennzeichen der gegenwärtigen und der darauffolgenden Etappen der Entfaltung des Göttlichen Plans zu sein.
Die Entwicklung des Bahá’í-Weltzentrums
70
Parallel zum Wachstum des Glaubens und der Entfaltung der Administration vollzogen sich im ersten Jahrhundert des Gestaltenden Zeitalters ebenso bedeutende Entwicklungen im Bahá’í-Weltzentrum, die durch den Impuls einer weiteren Charta, Bahá’u’lláhs Tafel vom Karmel, in Gang gesetzt wurden. Es wurde bereits auf das Zusammenwirken der Prozesse hingewiesen, die mit den drei Chartas verbunden sind, einschließlich der Entstehung von Institutionen und Einrichtungen des administrativen Zentrums der Bahá’í-Welt. Diesem Bericht können nun einige Gedanken zur Entwicklung ihres geistigen Zentrums hinzugefügt werden.
71
Als Bahá’u’lláh das Ufer von ‘Akká betrat, begann der Höhepunkt Seines Wirkens. Der Herr der Heerscharen erschien im Heiligen Land. Seine Ankunft war Tausende von Jahren zuvor durch die Zungen der Propheten angekündigt worden. Die Erfüllung dieser Prophezeiung war jedoch nicht das Ergebnis Seines eigenen Willens, sondern wurde durch Seine Verfolgung seitens Seiner erklärten Feinde erzwungen, die in Seinem Exil gipfelte. „Bei Unserer Ankunft“, so erklärte Er in einer Tafel, „wurden Wir durch Lichtbanner willkommen geheißen, und laut rief die Stimme des Geistes: ‚Bald werden alle Erdenbewohner unter diesem Banner vereinigt sein.‘“Bahá’u’lláh, zitiert in: Shoghi Effendi, Gott geht vorüber 318Q Die geistige Kraft dieses Landes wurde durch Seine Anwesenheit und die Beisetzung Seiner heiligen Überreste und bald darauf die Seines Herolds, der Selbst eine Manifestation Gottes war, unermesslich gesteigert. Es ist nun der Punkt, zu dem sich jedes Bahá’í-Herz hingezogen fühlt, der Mittelpunkt ihrer Andacht, das Ziel jedes sehnsüchtigen Pilgers. Die Heiligen Stätten der Bahá’í heißen die Völker des Heiligen Landes, ja die Völker aller Länder willkommen. Sie sind ein kostbares Gut, das für die gesamte Menschheit bewahrt wird.
72
Dennoch war die Möglichkeit der Bahá’í, über das geistige Zentrum ihres Glaubens zu verfügen, am Ende des Heroischen Zeitalters und für viele Jahre danach äußerst unsicher. Wie schwierig war es zeitweise für ‘Abdu’l-Bahá, an der Ruhestätte Seines Vaters zu beten. Wie ernst war Seine Lage, als Er fälschlicherweise des Aufruhrs angeklagt wurde, weil Er das Bauwerk errichtet hatte, in dem auf Bahá’u’lláhs Geheiß die irdischen Überreste des Báb nach langer Reise vom Ort Seines Martyriums beigesetzt wurden. Die gefährliche und unsichere Lage des Weltzentrums hielt auch während der Amtszeit des Hüters an, was sich zeigte, als die Bundesbrecher die Schlüssel des Schreins von Bahá’u’lláh in ihre Gewalt brachten, kurz nachdem der Hüter sein Amt angetreten hatte. Zu den ersten und wichtigsten Aufgaben Shoghi Effendis, die er während seines gesamten Dienstes verfolgte, gehörten daher der Schutz und die Erhaltung, der Ausbau und die Verschönerung der beiden Heiligen Schreine und anderer Heiliger Stätten. Um dieses Ziel zu erreichen, musste er durch eine Zeit turbulenter Veränderungen im Heiligen Land navigieren – darunter weltweite Wirtschaftskrisen, Kriege, wiederholte politische Umwälzungen und soziale Instabilität – während er, wie ‘Abdu’l-Bahá vor ihm, die unwandelbaren Bahá’í-Prinzipien der Verbundenheit mit allen Völkern und des Respekts vor der etablierten staatlichen Autorität aufrechterhalten musste. Einmal musste er sogar die Überführung der sterblichen Überreste Bahá’u’lláhs an einen geeigneten Ort auf dem Karmel erwägen, um deren Schutz zu gewährleisten. Und er blieb in Zeiten des Aufruhrs und der Unruhen standhaft in Haifa, selbst als er die kleine Schar der örtlichen Gläubigen anwies, sich in andere Teile der Welt zu zerstreuen. Diese anstrengende, aber unermüdlich verfolgte Pflicht dauerte bis zu seinen letzten Tagen an, als der Schrein Bahá’u’lláhs schließlich von den zivilen Behörden als Heilige Stätte der Bahá’í anerkannt wurde und die Bahá’í-Welt endlich frei war, ihre heiligste Stätte zu bewahren und zu verschönern.
73
Im Zuge seiner Bemühungen, die Heiligen Stätten zu erwerben, zu restaurieren und zu sichern, erweiterte der Hüter den Grundbesitz rund um den Heiligen Schrein und das Landhaus in Bahjí beträchtlich und begann, was später umfangreiche Gartenanlagen werden sollten. Auf dem Berg Gottes vollendete er den von ‘Abdu’l-Bahá begonnenen Schrein des Báb, indem er drei zusätzliche Räume hinzufügte, seine Arkaden schuf, seine goldene Kuppel errichtete und ihn mit Grünanlagen umgab. Er entwarf „den weit geschwungenen Bogen, an dem entlang die Gebäude der Administrativen Ordnung der Bahá’í der Welt“Shoghi Effendi, Botschaft vom April 1956 – So significant a victory. in: Messages to the Bahá’í World: 1950-1957, S. 95Q errichtet werden sollten; er errichtete an einem Ende dieses Bogens sein erstes Bauwerk, das Internationale Archivgebäude, und im Herzen des Bogens die Ruhestätten des Größten Heiligen Blattes, ihres Bruders und ihrer Mutter. Die Arbeit des Hüters für die Entwicklung des Weltzentrums wurde unter der Leitung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit fortgesetzt. Zusätzliche Grundstücke und Heilige Stätten wurden erworben und verschönert, die Gebäude auf dem Bogen errichtet und Terrassen vom Fuß bis zum Gipfel des Karmel angelegt, wie es ursprünglich von ‘Abdu’l-Bahá geplant und vom Hüter begonnen worden war. Vor dem Ende des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters wurde der Grundbesitz in der Nähe des Schreins des Báb auf über 170.000 Quadratmeter vergrößert, während durch Grundstückstausch und Landerwerb der Grundbesitz in der unmittelbaren Umgebung des Schreins von Bahá’u’lláh von etwa 4.000 auf über 450.000 Quadratmeter erweitert wurde. Und 2019 wurde in ‘Akká, in der Nähe des Riḍván-Gartens, mit dem Bau eines würdigen Schreins begonnen, um als letzte Ruhestätte von ‘Abdu’l-Bahá zu dienen.
74
Im Laufe des Jahrhunderts beschleunigte sich auch die Entwicklung des administrativen Zentrums der Bahá’í. Viele Jahre lang sehnte sich der Hüter zu Beginn seines Dienstes nach der Unterstützung durch fähige Helfer, aber die Bahá’í-Welt war damals zu klein, um die notwendige Unterstützung zu leisten. Als die Gemeinde jedoch wuchs, konnte das Haus der Gerechtigkeit zunehmend von einem kontinuierlichen Strom von Freiwilligen profitieren, um die Abteilungen und Büros einzurichten, die für einen sich schnell entwickelnden Glauben unerlässlich sind und die den Bedürfnissen des Weltzentrums sowie der sich weltweit vervielfachenden Gemeinden dienen. Fragen und Ratschläge, Einsichten und Führung sowie Besucher und Pilger strömen nun unaufhörlich zwischen allen Teilen des Planeten und dem Herzen der Bahá’í-Welt hin und her. Nach Jahrzehnten des Wandels und der Ungewissheit gipfelten 1987 die geduldigen Bemühungen, die Shoghi Effendi schon viel früher begonnen hatte, um gute Beziehungen zu den zivilen Behörden in Israel aufzubauen, in der formellen Anerkennung des Status des Bahá’í-Weltzentrums als geistiges und administratives Zentrum der weltweiten Bahá’í-Gemeinde, das unter der Ägide des Universalen Hauses der Gerechtigkeit arbeitet.
75
So wie sich die Beziehungen zwischen Einzelnen, Gemeinden und Institutionen im Laufe der Zeit weiterentwickelt haben, auf früheren Errungenschaften aufbauend und sich neuen Herausforderungen stellend, so gilt dies auch für das Bahá’í-Weltzentrum und seine Beziehungen zu den Bahá’í in aller Welt. Die enge und untrennbare Verbindung des geistigen und administrativen Zentrums mit der Entwicklung der Bahá’í-Welt wurde in unserer Botschaft vom 24. Mai 2001 an die Gläubigen zum Ausdruck gebracht, die sich zu den Veranstaltungen anlässlich der Fertigstellung der Projekte auf dem Karmel versammelt hatten: „Die majestätischen Gebäude, die nun entlang des von Shoghi Effendi geplanten Bogens am Hang des Gottesberges stehen, sind zusammen mit den prachtvollen Terrassengärten, die den Schrein des Báb umrahmen, ein sichtbarer Ausdruck der ungeheuren Kraft, die den Glauben beseelt, dem wir dienen. Sie legen zeitlos Zeugnis dafür ab, dass die Anhänger Bahá’u’lláhs erfolgreich die Grundlagen einer weltweiten Gemeinde gelegt haben, die sich über alle Unterschiede erhebt, welche die Menschheit spalten; sie bezeugen, dass sie die Hauptinstitutionen einer einzigartigen und unangreifbaren Administrativen Ordnung ins Leben gerufen haben. In dem Wandel, der sich auf dem Karmel vollzogen hat, tritt der Bahá’í-Glaube als eine sichtbare, unwiderstehliche Realität auf der Weltbühne hervor, als der Brennpunkt der Kräfte, die zu der von Gott verfügten Zeit den Wiederaufbau der Gesellschaft bewirken werden, und als mystische Quelle geistiger Erneuerung für alle, die sich ihm zuwenden.“Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Botschaft vom 24. Mai 2001 an die Gläubigen, die zu den Ereignissen aus Anlass der Vollendung der Projekte am Berg Karmel versammelt sindQ
Ausblick
76
Einige Wochen vor Seinem Hinscheiden war ‘Abdu’l-Bahá mit einem der Freunde in Seinem Haus. „Komm mit mir“, sagte Er, „damit wir gemeinsam die Schönheit des Gartens bewundern können“. Dann bemerkte Er: „Sieh, was der Geist der Hingabe zu erreichen vermag! Dieser blühende Ort war vor einigen Jahren nur ein Steinhaufen, und jetzt ist er mit Laub und Blüten bedeckt. Mein Wunsch ist es, dass nach meinem Heimgang alle, die ich liebe, sich erheben mögen, um der göttlichen Sache zu dienen, und, so Gott will, wird dies auch geschehen.“ „Bald“, so versprach Er, werden jene erscheinen, „die der Welt das Leben bringen“ʻAbdu’l-Bahá zitiert in: H. M. Balyuzi, ʻAbdu’l-Bahá - The Centre of the Covenant of Bahá’u’lláh, p. 459 [H. M. Balyuzi, ʻAbdu’l-Bahá - The Centre of the Covenant of Bahá’u’lláh, Oxford: George Ronald Publisher, 1971]Q.
77
Innig geliebte Freunde! Am Ende des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters findet sich die Bahá’í-Welt mit Fähigkeiten und Ressourcen ausgestattet, die man sich zum Zeitpunkt von ‘Abdu’l-Bahás Hinscheiden nur im Entferntesten vorstellen konnte. Eine Generation nach der anderen hat hart gearbeitet, und heute ist eine große Schar herangewachsen, die sich über den ganzen Erdball erstreckt – geweihte Seelen, die gemeinsam die Administrative Ordnung des Glaubens aufbauen, die Reichweite seines Gemeinschaftslebens erweitern, sein Engagement in der Gesellschaft vertiefen und sein geistiges und administratives Zentrum entwickeln.
78
Dieser kurze Rückblick auf die vergangenen hundert Jahre hat veranschaulicht, wie die Bahá’í-Gemeinde in ihrem Bemühen, die drei Göttlichen Chartas systematisch auszuführen, zu einer neuen Schöpfung geworden ist, wie von ‘Abdu’l-Bahá vorausgesehen. So wie der Mensch verschiedene Stadien des physischen und intellektuellen Wachstums und der Entwicklung durchläuft, bis er seine Reife erreicht, so entwickelt sich auch die Bahá’í-Gemeinde organisch, sowohl in Größe und Struktur als auch in Verständnis und Vision, indem sie freudig Verantwortung übernimmt und die Beziehungen zwischen Einzelnen, Gemeinden und Institutionen stärkt. Im Laufe des Jahrhunderts hat die Bahá’í-Gemeinde sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene eine Reihe von Fortschritten erfahren, die sie in die Lage versetzt haben, in einem immer breiteren Spektrum von Bemühungen zielgerichtet zu handeln.
79
Als sich das Heroische Zeitalter dem Ende zuneigte, stand die Gemeinde vor grundlegenden Fragen, wie sie ihre Verwaltungsangelegenheiten organisieren sollte, um den Anforderungen des Göttlichen Plans gerecht zu werden. Der Hüter leitete die Freunde darin an zu lernen, wie sie diese anfänglichen Fragen angehen, ein Prozess, der in den aufkommenden internationalen Vorkehrungen gipfelte, die zum Zeitpunkt seines Hinscheidens bestanden. Die Fähigkeiten, die in dieser Phase aufgebaut wurden, ermöglichten es der Bahá’í-Welt, sich mit einer Vielzahl neuer Fragen zu befassen, wie sie die Arbeit des Glaubens auf einer breiteren und komplexeren Ebene unter der Leitung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit fortsetzen sollte. Und dann, nachdem über mehrere Jahrzehnte hinweg deutliche Fortschritte erzielt worden waren, ergaben sich vor Beginn des Vierjahresplanes erneut weitere Fragen über noch größere Möglichkeiten in Bezug auf die zukünftige Ausrichtung der Sache Gottes, wobei dieser Plan neue Herausforderungen für eine neue Entwicklungsperiode setzte, mit der zentralen Aufgabe, einen bedeutenden Fortschritt im Prozess des Beitritts in Scharen in allen Teilen der Welt zu erreichen. Gerade diese wachsende Fähigkeit, komplexe Fragen zu lösen und dann noch komplexere Fragen anzugehen, kennzeichnet den Lernprozess, der den Fortschritt des Glaubens vorantreibt. So ist es offensichtlich, dass die Bahá’í-Welt mit jedem Schritt vorwärts in ihrer organischen Entfaltung neue Kräfte und neue Fähigkeiten entwickelt, die sie befähigen, sich größeren Herausforderungen zu stellen, während sie danach strebt, Bahá’u’lláhs Ziel für die Menschheit zu erreichen. Und so wird es weitergehen, trotz Wandel und Wechsel der Welt, durch Krise und Sieg, mit manch unerwarteter Wendung, durch zahllose Etappen des Gestaltenden und des Goldenen Zeitalters bis zum Ende der Sendung Bahá’u’lláhs.
80
Gegen Ende des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters hatte sich ein gemeinsamer Handlungsrahmen herausgebildet, der für die Arbeit der Gemeinde von zentraler Bedeutung ist, dem Denken Form gibt und den immer komplexeren und wirkungsvolleren Aktivitäten Gestalt verleiht. Dieser Rahmen entwickelt sich durch die gesammelten Erfahrungen und die Führung des Hauses der Gerechtigkeit ständig weiter. Die Kernelemente dieses Rahmens sind die geistigen Wahrheiten und Grundprinzipien der Offenbarung. Andere Elemente, die ebenfalls zum Denken und Handeln beitragen, schließen Werte, Haltungen, Konzepte und Methoden ein. Wieder andere betreffen das Verständnis der physischen und sozialen Welt durch Erkenntnisse aus verschiedenen Wissensgebieten. Innerhalb dieses sich ständig weiterentwickelnden Rahmens lernen die Bahá’í, wie sie die Lehren Bahá’u’lláhs systematisch in die Tat umsetzen können, um Seine hohen Ziele zur Besserung der Welt zu verwirklichen. Die Bedeutung dieser gesteigerten Lernfähigkeit und ihre Implikationen für den Fortschritt der Menschheit in der gegenwärtigen Etappe ihrer gesellschaftlichen Entwicklung können nicht hoch genug eingeschätzt werden.
81
Wie viel hat die Bahá’í-Welt erreicht! Wie viel bleibt noch zu tun! Der Neunjahresplan umreißt die Aufgaben, die unmittelbar vor uns liegen. Zu den Schwerpunkten gehören die Vervielfachung und Intensivierung von Wachstumsprogrammen in Clustern weltweit und eine größere Kohärenz in der Arbeit der Gemeinschaftsbildung, des sozialen Handelns und der Teilnahme an den vorherrschenden Diskursen durch die konzertierten Bemühungen der drei Protagonisten des Plans. Das Trainingsinstitut wird weiter gestärkt werden und wird sich weiterentwickeln als eine Erziehungs- und Bildungseinrichtung, die Fähigkeiten für den Dienst fördert. Die Saat, die es in den Herzen der nachfolgenden Jahrgänge junger Menschen sät, wird durch andere Bildungsangebote genährt werden, um jede Seele zu befähigen, zum gesellschaftlichen Fortschritt und Wohlstand beizutragen. Die Bewegung der Jugend wird weltweit durch das beispiellose Vorrücken der Frauen als vollwertige Partner in Belangen der Gemeinschaft ergänzt werden. Die Kapazität der Bahá’í-Institutionen wird auf allen Ebenen gefördert werden, mit besonderem Augenmerk auf die Errichtung und Entwicklung von Örtlichen Räten und auf die Verstärkung ihrer Zusammenarbeit mit der breiteren Gesellschaft und ihren Führungspersönlichkeiten. Das intellektuelle Leben der Gemeinde wird kultiviert werden, um die Schärfe und Klarheit des Denkens zu gewährleisten, die erforderlich sind, um einer skeptischen Menschheit die Anwendbarkeit des Heilmittels der Lehren Bahá’u’lláhs zu beweisen. Und all diese Bemühungen werden mit einer Serie herausfordernder Pläne fortgesetzt, die sich über nicht weniger als eine Generation erstrecken und die die Bahá’í-Welt über die Schwelle in ihr drittes Jahrhundert tragen werden.
82
Die entschlossenen Bemühungen, ein umfassenderes Verständnis der Lehren Bahá’u’lláhs zu erlangen und in Übereinstimmung mit ihnen zu leben, finden im größeren Kontext des von Shoghi Effendi beschriebenen zweifachen Prozesses der Desintegration und Integration statt. Das Erreichen des Ziels der gegenwärtigen Reihe von Plänen – die ständig zunehmende Freisetzung der gesellschaftsbildenden Kraft des Glaubens – erfordert die Fähigkeit, die Realität der Gesellschaft zu erfassen, die auf diese beiden Prozesse reagiert und von ihnen geformt wird.
83
Eine Fülle von zerstörerischen Kräften und Ereignissen, darunter Umweltzerstörung, Klimawandel, Pandemien, der Verfall von Religion und Moral, der Verlust von Sinn und Identität, die Aushöhlung der Konzepte von Wahrheit und Vernunft, ungezügelte Technologie, die Verschärfung von Vorurteilen und ideologischen Auseinandersetzungen, allgegenwärtige Korruption, politische und wirtschaftliche Umwälzungen, Krieg und Völkermord, haben ihre Spuren in Form von Blut und Leid auf den Seiten der Geschichte und im Leben von Milliarden von Menschen hinterlassen. Gleichzeitig sind aber auch hoffnungsvolle, konstruktive Tendenzen zu erkennen, die zu jener „Universalen Gärung“ beitragen, von der Shoghi Effendi sagte, dass sie die Menschheit „im Vorgefühl des Tages, an dem die Ganzheit des Menschengeschlechts anerkannt und seine Einheit begründet sein wird, läutert und neugestaltet“.Shoghi Effendi, Brief vom 11. März 1936 – Die Entfaltung der Weltkultur, in: Weltordnung Bahá’u’lláhs 7:23Q Die Verbreitung des Geistes der Weltsolidarität, ein größeres Bewusstsein der globalen Interdependenz, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen Einzelnen und Institutionen und eine verstärkte Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden verändern die menschlichen Beziehungen tiefgreifend. Und so bewegt sich die Welt in zahllosen zaghaften Schritten, in gelegentlichen dramatischen Sprüngen und mit Unterbrechungen, in denen der Fortschritt ins Stocken gerät oder sogar rückgängig gemacht wird, auf Bahá’u’lláhs Vision zu, während die Menschheit die Beziehungen schmiedet, die die Grundlage für eine geeinte und friedliche Welt bilden.
84
Die zerstörerischen Kräfte, die die Welt heimsuchen, gehen auch an der Bahá’í-Gemeinde nicht spurlos vorbei. In der Tat trägt die Geschichte jeder nationalen Bahá’í-Gemeinde ihre Spuren. So wurde an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten der Fortschritt einer bestimmten Gemeinde durch heimtückische gesellschaftliche Tendenzen gebremst oder durch Widerstände zeitweise eingeschränkt oder sogar ausgelöscht. Regelmäßige Wirtschaftskrisen verringerten die ohnehin begrenzten finanziellen Mittel des Glaubens und behinderten Projekte für Wachstum und Entwicklung. Die Auswirkungen des Weltkriegs lähmten eine Zeitlang die Fähigkeit der meisten Gemeinden, systematische Pläne umzusetzen. Die Umwälzungen, die die politische Landkarte der Welt neugestaltet haben, haben Hindernisse für die volle Beteiligung einiger Bevölkerungsgruppen an der Arbeit des Glaubens geschaffen. Religiöse und kulturelle Vorurteile, von denen man glaubte, dass sie verschwinden würden, sind mit neuer Vehemenz wieder hervorgetreten. Die Bahá’í haben sich mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit bemüht, solchen Herausforderungen zu begegnen. Doch im vergangenen Jahrhundert gab es keine edlere Antwort auf die feindlichen Kräfte, die sich dem Fortschritt der Sache entgegenstellten, als die der Bahá’í im Iran.
85
Von den ersten Jahren des Wirkens des Hüters an setzte sich die Verfolgung, die die Bahá’í im Iran während des Heroischen Zeitalters erduldet hatten, fort, als Wellen gewaltsamer Unterdrückung über diese Gemeinschaft hinwegfegten, die in den Angriffen und der systematischen Unterdrückungskampagne im Gefolge der iranischen Revolution an Intensität zunahmen und bis zum heutigen Tag unablässig andauern. Trotz allem, was sie erdulden mussten, haben die Bahá’í im Iran mit ungebeugtem Mut und konstruktiver Resilienz geantwortet. Sie haben sich unvergängliche Verdienste erworben durch Errungenschaften wie die Gründung des Bahá’í-Instituts für Höhere Bildung, um die Ausbildung nachfolgender Generationen zu gewährleisten, durch ihre Bemühungen, die Ansichten der Unvoreingenommenen unter ihren Landsleuten – ob innerhalb oder außerhalb des Landes – zu ändern, und vor allem dadurch, dass sie zahllose Ungerechtigkeiten, Demütigungen und Entbehrungen ertragen haben, um ihre Mitgläubigen zu schützen, die Integrität des Glaubens Bahá’u’lláhs in Seinem geliebten Heimatland aufrechtzuerhalten und dessen Präsenz in diesem Land zum Nutzen seiner Bürger zu sichern. In solchen Äußerungen unbeirrbarer Standhaftigkeit, geweihter Hingabe und gegenseitiger Unterstützung liegen wesentliche Lehren dafür, wie die Bahá’í-Welt auf die Beschleunigung der zerstörerischen Kräfte reagieren muss, die in den kommenden Jahren zu erwarten sind.
86
Im innersten Kern besteht die Herausforderung, die sich aus dem Zusammenspiel von Integrations- und Desintegrationsprozessen ergibt, darin, an Bahá’u’lláhs Beschreibung der Wirklichkeit und an Seinen Lehren festzuhalten und gleichzeitig der Sogwirkung kontroverser und polarisierender Debatten und verführerischer Rezepte zu widerstehen, die vergebliche Versuche widerspiegeln, die menschliche Identität und die soziale Realität durch begrenzte menschliche Vorstellungen, materialistische Philosophien und konkurrierende Leidenschaften zu definieren. „Der allwissende Arzt legt Seinen Finger an den Puls der Menschheit. Er erkennt die Krankheit und verschreibt in Seiner unfehlbaren Weisheit die Arznei“Bahá’u’lláh, in: Ährenlese 106:1Q, sagt Bahá’u’lláh. „Wir nehmen sehr wohl wahr, wie das ganze Menschengeschlecht von großen, unberechenbaren Drangsalen umgeben ist.“ Er fügt jedoch hinzu: „Jene, die von Eigendünkel trunken sind, haben sich zwischen die Menschen und den göttlichen, unfehlbaren Arzt gedrängt. Sieh, wie sie alle Menschen, sich selbst eingeschlossen, in das Netzwerk ihrer List verstrickt haben.“Bahá’u’lláh, in: Ährenlese 106:2Q Wenn sich die Bahá’í in den trügerischen Vorstellungen der streitenden Völker verstricken, wenn sie die Werte, Einstellungen und Praktiken nachahmen, die ein selbstsüchtiges und sich selbst dienendes Zeitalter definieren, wird die Freisetzung jener Kräfte, die notwendig sind, um die Menschheit aus ihrer Notlage zu erlösen, verzögert und behindert. Der Hüter erklärt vielmehr: „Die Baumeister von Bahá’u’lláhs aufstrebender Weltordnung müssen edlere Höhen des Heldentums erklimmen, während die Menschheit in immer größere Tiefen der Verzweiflung, der Erniedrigung, der Zwietracht und des Leids stürzt. Lasst sie in die Zukunft voranschreiten, in der Gewissheit, dass die Stunde ihrer mächtigsten Anstrengungen und die höchste Gelegenheit für ihre größten Taten mit dem apokalyptischen Umsturz zusammenfallen muss, der den tiefsten Punkt im rapide abnehmenden Glück der Menschheit markiert.“Shoghi Effendi, Brief vom 3. November 1948, in: Citadel of Faith, p.56Q
87
Niemand kann genau vorhersehen, welchen Kurs die Kräfte des Zerfalls einschlagen werden, welche heftigen Geburtswehen die Menschheit in diesem geplagten Zeitalter noch heimsuchen werden, oder welche Hindernisse und Chancen sich auftun könnten, bis der Prozess seinen Höhepunkt im Kommen jenes Größten Friedens erreicht, der das Erscheinen jener Entwicklungsstufe ankündigen wird, wo die Nationen, aufgrund ihrer Erkenntnis der Einheit und Ganzheit der Menschheit, „die Waffen des Krieges [...] ablegen und sich den Machtmitteln weltweiten Aufbaus zuwenden“Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes 55 [Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, Auflage 3.01-online (2023-02-01), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2023]Q. Eines ist jedoch sicher: Der Prozess der Integration wird sich ebenfalls beschleunigen und die Bemühungen derjenigen, die lernen, die Lehren Bahá’u’lláhs in die Realität umzusetzen, und derjenigen in der Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit und Frieden streben, immer enger miteinander verknüpfen. In Das Kommen Göttlicher Gerechtigkeit erklärte Shoghi Effendi den Bahá’í in Amerika, sie müssten sich zu dieser Zeit – angesichts der geringen Größe ihrer Gemeinde und des begrenzten Einflusses, den diese ausübte – auf das eigene Wachstum und die eigene Entwicklung der Gemeinde konzentrieren, während diese lernte, die Lehren anzuwenden. Er versprach jedoch, die Zeit werde kommen, in der sie aufgerufen sein würden, ihre Mitbürger in einen Prozess des Arbeitens für die Heilung und Besserung ihrer Nation einzubinden. Diese Zeit ist nun gekommen. Und sie ist nicht nur für die Bahá’í in Amerika gekommen, sondern für die Bahá’í weltweit, während die gesellschaftsbildende Kraft, die dem Glauben innewohnt, in immer größerem Maße freigesetzt wird.
88
Die Freisetzung dieser Kraft hat Auswirkungen auf die kommenden Jahrzehnte. Jedes Volk und jede Nation hat in der nächsten Phase der grundlegenden Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Alle haben einzigartige Einsichten und Erfahrungen für den Aufbau einer geeinten Welt zu bieten. Die Verantwortung der Freunde hingegen ist es, als Überbringer der stärkenden Botschaft Bahá’u’lláhs, den Völkern zu helfen, ihre verborgenen Potenziale freizusetzen, um ihre höchsten Bestrebungen zu verwirklichen. In diesem Bemühen teilen die Freunde diese wertvolle Botschaft mit anderen, streben danach, die Wirksamkeit des göttlichen Heilmittels im Leben von Einzelnen und Gemeinden aufzuzeigen, und arbeiten mit all jenen zusammen, die dieselben Werte und Ziele schätzen und teilen. Indem sie dies tun, wird Bahá’u’lláhs Vision einer geeinten Welt den Völkern, deren Wahrnehmung durch die in der Welt herrschende Verwirrung verzerrt ist, eine hoffnungsvolle und klare Richtung bieten und einen konstruktiven Weg der Zusammenarbeit bei der Suche nach Lösungen für seit langem bestehende gesellschaftliche Missstände aufzeigen. In dem Maße, wie der Geist des Glaubens zunehmend die Herzen durchdringt, um die Liebe zu entfachen und die gemeinsame Identität der Menschheit als ein Volk zu stärken, flößt er einen Sinn für loyale und gewissenhafte bürgerschaftliche Verantwortung ein und lenkt die Energien vom Streben nach weltlicher Macht auf den uneigennützigen Dienst am Gemeinwohl um. Die Bevölkerung wendet zunehmend die Methoden der Beratung, des Handelns und der Reflexion an und ersetzt damit endlose Auseinandersetzungen und Konflikte. Einzelne, Gemeinden und Institutionen quer durch verschiedene Gesellschaften bringen ihre Bemühungen um ein gemeinsames Ziel zunehmend in Einklang, um sektiererische Rivalitäten zu überwinden; geistige und moralische Qualitäten, die für Fortschritt und Wohlergehen der Menschheit grundlegend sind, schlagen Wurzeln im menschlichen Charakter und im sozialen Umgang.
89
Die Welt bewegt sich wahrlich auf ihre Bestimmung zu. Während die Religion Bahá’u’lláhs in das zweite Jahrhundert des Gestaltenden Zeitalters eintritt, sollten wir uns alle von den Worten des geliebten Hüters inspirieren lassen, dessen lenkende Hand das vergangene Jahrhundert unveränderlich geprägt hat. Als er 1938 über die Ausführung der ersten Stufe des Göttlichen Plans schrieb, sagte er: „Das Potenzial, mit dem ihn eine allmächtige Vorsehung ausgestattet hat, wird es seinen Förderern zweifellos ermöglichen, ihr Ziel zu erreichen. Viel wird jedoch von dem Geist und der Art und Weise abhängen, in der diese Aufgabe durchgeführt wird. Durch die Klarheit und Beständigkeit in ihrer Vision, durch die ungetrübte Lebendigkeit ihres Glaubens, durch die Unbestechlichkeit ihres Charakters, durch die resolute Macht ihrer Entschlossenheit, die unvergleichliche Überlegenheit ihrer Ziele und Absichten und die unübertroffene Bandbreite ihrer Errungenschaften können diejenigen, die für den Ruhm des Größten Namens arbeiten, ... der visionslosen, ungläubigen und ruhelosen Gesellschaft, der sie angehören, am besten ihre Fähigkeit demonstrieren, deren Mitgliedern – in der Stunde, da sie ihren Untergang erkennen – einen Zufluchtsort zu bieten. Dann und nur dann wird dieser zarte Setzling, eingebettet in den fruchtbaren Boden einer göttlich eingesetzten Administrativen Ordnung und angeregt durch die dynamischen Prozesse ihrer Institutionen, seine reichsten ihm vorbestimmten Früchte tragen.“Shoghi Effendi, Botschaft vom 10. September 1938 – Unbroken solidarity, unquenchable enthusiasm, in: Messages to America, p. 141Q
89_5
[gezeichnet: Das Universale Haus der Gerechtigkeit]
weiter nach unten ...