Bahá’u’lláh
Brief an den Sohn des Wolfes
Lawḥ-i-ibn-i-Dhi’b
1Im Namen Gottes, des Einen, des Unvergleichlichen, des Allmachtvollen, des Allwissenden, des Allweisen.
Preis sei Gott, dem Ewigen, der nie vergeht, dem Immerwährenden, der niemals schwach wird, dem Selbstbestehenden, der sich niemals wandelt. Er ist es, der alles in Seiner höchsten Herrschaft überragt, der sich durch Seine Zeichen kundgibt und sich durch Seine Geheimnisse verborgen hält. Er ist es, auf dessen Geheiß die Fahne des Erhabensten Wortes in der Welt der Schöpfung aufgerichtet und das Banner des »Er tut, was Er will«
2Das Licht, das sich aus dem Himmel der Gaben ergießt, und der Segen, der ausstrahlt vom Dämmerungsort des Willens Gottes, des Herrn im Reiche der Namen, seien auf Ihm, der der Höchste Mittler, die Erhabenste Feder ist, auf Ihm, den Gott zum Tagesanbruch Seiner vortrefflichsten Namen und Seiner herrlichsten Eigenschaften gemacht hat.
Durch Ihn erstrahlte das Licht der Einheit am Himmelskreis der Welt, durch Ihn wurde das Gesetz der Einigkeit unter den Völkern geoffenbart. Mit leuchtendem Antlitz haben sie sich
3Leihe dein Ohr, o du gefeierter Geistlicher, der Stimme dieses Unterdrückten. Wahrlich, Er rät dir um Gottes willen und ermahnt dich zu dem, was dich in allen Lebenslagen Ihm nahe kommen läßt. Er ist fürwahr der Allbesitzende, der Erhabene. Wisse, daß des Menschen Ohr geschaffen wurde, damit es auf die Göttliche Stimme höre an diesem Tage, der in allen Büchern, Schriften und Tablets erwähnt wurde. So reinige denn deine Seele mit den Wassern der Entsagung und schmücke dein Haupt mit der Krone der Gottesfurcht und deinen Tempel mit der Zier des Vertrauens in Ihn. Alsdann erhebe dich und sprich, dein Angesicht dem Größten Hause zugewandt, dem Orte, den auf Befehl des Ewigen Königs alle Erdenbewohner umkreisen müssen:
4»O Gott, mein Gott, mein Verlangen, mein Angebeteter, mein Meister, meine Stütze, meine höchste Hoffnung und meine tiefste Sehnsucht! Du siehst, wie ich mich Dir zuwende, wie ich mich fest an das Seil Deiner Güte halte, mich an den Saum Deiner Großmut klammere, die Heiligkeit Deines Selbstes und die Reinheit Deines Wesens bekenne und Deine Einzigkeit und Deine Einheit bekunde. Ich bezeuge, daß Du der Eine, der Einzige, der Unvergleichliche, der Unvergängliche bist. Du hast Dir in Deinem Reiche keinen Genossen beigesellt, noch hast Du Dir einen Gefährten auf Erden erkoren. Alle erschaffenen Dinge bezeugen, was Du mit der Zunge Deiner Größe schon vor ihrer Erschaffung bekundet hast. Wahrlich, Du bist Gott! Es gibt keinen Gott außer Dir! Seit Ewigkeit warst Du geheiligt über das Lob Deiner Diener und erhaben über die Beschreibung Deiner Geschöpfe. Du siehst, o Herr, wie der Unwissende das Meer Deiner Erkenntnis sucht, der Verdurstende
5Ich bezeuge, o mein Gott und mein König, daß Du mich erschaffen hast, Deiner zu gedenken, Dich zu verherrlichen und Deine Sache zu fördern. Dennoch habe ich Deinen Feinden geholfen, die Deinen Bund brachen, Dein Buch verwarfen, die nicht an Dich glaubten und Deine Zeichen leugneten. Wehe mir, wehe mir ob meines Eigensinns und meiner Schande, meiner Sündhaftigkeit und meines Unrechts, die mich davon abhielten, in das Meer Deiner Einheit zu tauchen und die See Deiner Gnade zu ergründen! Darum wehe mir, wehe mir, und nochmals wehe mir, wehe mir ob meiner Erbärmlichkeit und meiner schrecklichen Vergehen! Du riefst mich ins Leben, o mein Gott, damit ich Dein Wort erhöhe und Deine Sache verkünde. Meine Achtlosigkeit aber hat mich abgehalten und in solcher Weise irregeleitet, daß ich mich aufmachte, Deine Zeichen auszutilgen und das Blut Deiner Geliebten zu vergießen, die die Dämmerungsorte Deiner Zeichen sind, die Morgenröten Deiner Offenbarung und die Schatzkammern Deiner Geheimnisse.
6O Herr, mein Herr, und wiederum: O Herr, mein Herr, und noch einmal: O Herr, mein Herr! Ich bezeuge, daß die Früchte des Baumes Deiner Gerechtigkeit ob meiner Bosheit abfielen, daß die Herzen derer unter Deinen Geschöpfen, die sich Deiner Nähe erfreuen, verzehrt wurden und die Seelen der Aufrichtigen unter Deinen Dienern durch das Feuer meiner Widerspenstigkeit zerschmolzen. Nichtswürdiger Wicht, der ich bin! Welch grausame Verbrechen habe ich schamlos verübt! Wehe mir, wehe mir ob meines Fernseins von Dir, ob meines Eigensinns, meiner Dummheit, meiner Niedertracht, ob meiner Auflehnung und meines Widerstands gegen Dich! Wie viele Tage gab es, an denen Du Deinen Dienern und Deinen Geliebten gebotest, mich zu beschützen, während ich ihnen befahl, Dir
7Nun flehe ich zu Dir bei den Geheimnissen Deines Buches, bei den Dingen, die in Deiner Erkenntnis verborgen liegen,
8O Shaykh! Sei gewiß, daß weder die Verleumdungen der Menschen noch ihre Ablehnung und ihre Spitzfindigkeiten den
9Die, deren Auge klar, deren Ohr offen, deren Herz erleuchtet und deren Brust geweitet ist, erkennen, was wahr und was falsch ist, und unterscheiden das eine vom andern. Sprich das folgende Gebet, das von der Zunge dieses Unterdrückten floß, und denke darüber nach mit einem Herzen, das frei von aller Bindung ist, und mit reinen und geweihten Ohren gib acht auf seine Bedeutung, auf daß du vielleicht den Hauch der Loslösung atmest und Erbarmen mit dir und anderen empfindest:
10»Mein Gott, Du mein Angebeteter, Du Ziel meiner Sehnsucht, Du Allgütiger, Allbarmherziger! Alles Leben kommt von Dir, und alle Kraft liegt in der Hand Deiner Allmacht. Wen immer Du erhöhst, der ist über die Engel erhöht und erlangt die Stufe des ›Wahrlich, Wir hoben ihn auf eine hohe Stufe empor‹
11Wir flehen zu Gott, Er möge dir beistehen, gerecht und aufrichtig zu sein, und dich mit den Dingen vertraut machen, die vor den Augen der Menschen verborgen waren. Er ist in Wahrheit der Mächtige, der Unbezwungene. Wir bitten dich, über das nachzudenken, was geoffenbart wurde, und in deiner Rede ehrlich und gerecht zu sein, auf daß vielleicht das Tagesgestirn der Wahrhaftigkeit und der Aufrichtigkeit in seinem Glanz erstrahle, dich aus dem Dunkel der Unwissenheit befreie und die Welt mit dem Licht der Erkenntnis erleuchte. Dieser Unterdrückte hat weder eine Schule besucht noch an dem Wortstreit der Gelehrten teilgenommen. Bei Meinem Leben! Nicht aus eigenem Antrieb habe Ich von Mir gekündet, sondern Gott hat Mich nach Seinem ureigenen Ratschluß geoffenbart. Im Tablet an Seine Majestät den Sháh – möge Gott, gepriesen und verherrlicht sei Er, ihm beistehen – strömten folgende Worte von der Zunge dieses Unterdrückten:
12»O König! Ich war nur ein Mensch wie andere und lag schlafend auf Meinem Lager. Siehe, da wehten die Lüfte des Allherrlichen über Mich hin und lehrten Mich die Erkenntnis all dessen, was war. Dies ist nicht von Mir, sondern von Einem, der allmächtig und allwissend ist. Und Er gebot Mir, Meine Stimme zwischen Erde und Himmel zu erheben, und um dessentwillen befiel Mich, was jedes ver
13Jetzt ist der Augenblick gekommen, dich mit den Wassern der Loslösung, die aus der Erhabensten Feder flossen, zu reinigen, und über das, was immer wieder herniedergesandt und geoffenbart wurde, nachzudenken. Dann strebe danach, soweit es in deinen Kräften steht, das Feuer der Feindschaft und des Hasses, das in den Herzen der Völker dieser Welt schwelt, mit der Macht der Weisheit und der Kraft deiner Worte auszulöschen. Die Göttlichen Boten wurden herabgesandt und Ihre Bücher wurden geoffenbart, damit die Erkenntnis Gottes vertieft und Einheit und Brüderlichkeit unter den Menschen gefördert werden. Aber siehe, wie sie das Gesetz Gottes zum Grund und Vorwand für Verderbtheit und Haß benützten. Wie bedauerlich, wie jämmerlich ist es, daß die meisten Menschen an den Dingen hängen, die sie besitzen, und sich nur mit diesen beschäftigen, während sie dessen, was Gottes ist, nicht gewahr werden und wie durch einen Schleier davon getrennt sind!
14Sprich: »O Gott, mein Gott! Schmücke mein Haupt mit der Krone der Gerechtigkeit und meinen Tempel mit der Zier der Redlichkeit. Du bist wahrlich der Besitzer aller Wohltaten und Gaben.«
15Gerechtigkeit und Redlichkeit sind die beiden Wächter, die über die Menschen wachen. Von ihnen gehen deutliche, gesegnete Worte aus, die die Grundlage für das Wohl der Welt und den Schutz ihrer Völker bilden.
16Die folgenden Worte flossen aus der Feder dieses Unterdrückten in einem Seiner Tablets: »Die Absicht des einen wahren Gottes – erhaben ist Seine Herrlichkeit – ist es, aus der Tiefe des Menschen die geheimnisvollen Edelsteine ans Licht zu fördern – die Aufgangsorte Seiner Sache und die Speicher der Perlen Seiner Erkenntnis; denn Gott selbst ist der Unsichtbare, der Verborgene, vor den Augen der Menschen verhüllt. Denke über das nach, was der Barmherzige im Qur’án offenbarte: ›Keine Schau kann Ihn umfassen, aber Er umfaßt alle Schau; Er ist der Scharfblickende, der Allkennende.‹
17Daß es den verschiedenen Gemeinschaften und den mannigfachen Glaubensrichtungen auf der Erde nie gestattet sein sollte, Gefühle der Feindschaft unter den Menschen zu nähren, gehört an diesem Tage zum Wesen des Glaubens Gottes und zu Seiner Religion. Diese Grundsätze und Gesetze, diese festgefügten und mächtigen Glaubenssysteme gingen alle aus
18Gürte deine Lenden, o Volk Bahás, und bemühe dich, daß sich vielleicht der Lärm religiösen Haders und Streites, der die Völker der Erde beunruhigt, lege und keine Spur davon mehr übrig bleibe. Um der Liebe zu Gott und Seinen Dienern willen erhebt euch, diese erhabene, folgenreiche Offenbarung zu unterstützen. Religiöser Fanatismus und Haß sind ein weltverzehrendes Feuer, dessen Gewalt niemand zu dämpfen vermag. Nur die Hand Göttlicher Macht kann die Menschheit von dieser verheerenden Plage befreien. Denke an den Krieg, der zwischen den beiden Nationen entbrannt ist! Beide Seiten setzen ihre
19Die Äußerung Gottes ist eine Lampe, deren Licht die Worte sind: Ihr seid die Früchte
20Bemüht euch, diese erlauchte und erhabene Stufe zu erreichen, eine Stufe, die den Schutz und die Sicherheit der ganzen Menschheit verbürgt. Dieses Ziel übertrifft jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst allen Strebens. Aber noch verdunkeln dichte Wolken der Unterdrückung das Morgenlicht der Gerechtigkeit; solange sie nicht zerstreut sind, fällt es schwer, die Herrlichkeit dieser Stufe vor den Augen der Menschen zu entschleiern. Diese dichten Wolken sind der Ausdruck eitler Vorstellungen und leerer Einbildungen, die die Geistlichen Persiens hegen. Einmal sprachen Wir in der Sprache des Gesetzgebers, ein anderes Mal in der des Wahrheitssuchers und des Mystikers; aber immer war es Unsere höchste Absicht und Unser größter Wunsch, die Herrlichkeit und Erhabenheit dieser Stufe zu enthüllen. Wahrlich, Gott ist ein ausreichender Zeuge!
21O Volk Bahás! Verkehre mit allen Menschen im Geiste der Freundschaft und Kameradschaft. Wenn du eine Wahrheit erkannt hast und ein Juwel besitzest, das andere nicht besitzen, dann teile es mit ihnen in Worten größter Freundlichkeit und höchsten Wohlwollens. Wird die Wahrheit angenommen und erfüllt sie ihren Zweck, so ist dein Ziel erreicht. Weist jemand sie zurück, so überlasse ihn sich selbst und flehe zu Gott, daß Er ihn führe. Hüte dich, ihn unfreundlich zu behandeln. Freundlicher Zuspruch ist ein Magnet für die Menschenherzen. Er ist das Brot des Geistes, er verleiht den Worten Bedeutung und ist die Quelle des Lichts der Wahrheit und des Verstehens.
22Mit »Geistlichkeit« sind an der zuvor angeführten Stelle jene Menschen gemeint, die sich äußerlich das Gewand der Erkenntnis überwerfen, in ihrem Innern aber deren ermangeln. In diesem Zusammenhang führten Wir im Tablet an Seine Majestät den Sháh verschiedene Textstellen aus den
23»O ihr Toren, die ihr als weise geltet!
Warum verkleidet ihr euch als Hirten, da ihr doch innerlich zu Wölfen wurdet, die nach Meiner Herde trachten? Ihr gleicht dem Morgenstern, der vor der Dämmerung strahlend und hell scheint und der doch die Wanderer zu Meiner Stadt in die Irre und auf den Pfad des Verderbens leitet.«
24Desgleichen sagt Er:
»O ihr scheinbar Vollkommenen, doch innerlich Unvollkommenen!
Ihr seid wie reines, doch bitteres Wasser, das äußerlich kristallklar scheint, von dem aber bei der Probe durch den göttlichen Prüfer nicht ein Tropfen angenommen wird. Ja, der Sonnenstrahl fällt gleicherweise auf den Staub wie den Spiegel, doch in ihrem Widerschein unterscheiden sie sich wie der Stern von der Erde – ja mehr noch, der Unterschied ist unermeßlich.«
25Und weiterhin spricht Er:
»O Wesen der Leidenschaft!
Manches Mal kam Ich in der Morgendämmerung aus den Reichen des Unendlichen zu deiner Wohnung und fand dich auf dem Lager der Behaglichkeit mit anderem als Mir beschäftigt. Da kehrte Ich dem Blitzstrahl des Geistes gleich zu den Reichen der himmlischen Herrlichkeit zurück, ohne es in Meiner Zufluchtstätte droben die Heerscharen der Heiligkeit wissen zu lassen.«
26Und wiederum spricht Er:
»O du Sklave dieser Welt!