‘Abdu’l-Bahá | ‘Abdu’l-Bahá in London
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4:6
»Ich heiße Sie herzlich willkommen. Ich kam von weit her, um Sie zu besuchen. Ich danke Gott, dass ich nach vierzig Jahren des Wartens endlich kommen und meine Botschaft bringen durfte. Diese Versammlung ist voll Geistigkeit. Alle hier Anwesenden haben ihre Herzen Gott zugewandt. Sie suchen und sehnen sich nach frohen Botschaften. Die Kraft des Geistes hat uns hier zusammengeführt. Darum sind unsere Herzen von Dank erfüllt. ›Sende Dein Licht und Deine Wahrheit, o Gott, auf dass sie uns zu Heiligen Höhen führen!‹ Mögen die heiligen Quellen, die das Leben der Welt erneuern, uns erfrischen! Wie der Tag auf die Nacht folgt und nach dem Sonnenuntergang der Morgen anbricht, so erschien Jesus Christus wie eine Sonne der Wahrheit am Horizont dieser Welt. So war es auch, als die Menschen die Lehren Christi und Sein Vorbild der Liebe zu allen Menschen vergessen hatten und von materiellen Dingen wieder übersättigt waren, da ging in Persien aufs Neue ein himmlisches Gestirn auf; ein neues Licht erschien, und jetzt ergießt sich ein großes Leuchten über alle Länder.
4:7
Die Menschen behalten ihren Besitz sich selbst zur Freude und teilen die von Gott empfangenen Gnadengaben nicht genug mit anderen. So wird der Frühling in einen Winter aus Selbstsucht und Eigennutz verwandelt. Jesus Christus sagte: ‚Ihr müsst wiedergeboren werden’, so dass in euch erneut himmlisches Leben entstehen kann. Seid zu den Menschen um euch freundlich und dienet einander. Liebt Gerechtigkeit und Ehrlichkeit in all eurem Tun. Betet inständig und lebt euer Leben so, dass Sorge euch nicht beeinflussen kann. Betrachtet die Menschen eures Volkes und anderer Völker als Teile eines organischen Ganzen, als Söhne des selben Vaters. Zeigt durch euer Verhalten, dass ihr zum Volke Gottes gehört. Dann werden Krieg und Streit aufhören und der Größte Friede wird die ganze Welt umspannen.«
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Nachdem ‘Abdu’l-Bahá sich zurückgezogen hatte, hielten Tammaddun’ul-Mulk und Mr. W. Tudor Pole kurze Ansprachen, in denen sie auf das Martyrium der Gläubigen in Persien, besonders auf das der herausragenden Dichterin Qurratu’l-‘Ayn, hinwiesen.
4:9
Der folgende Tag war ein herrlicher Sonntag und ‘Abdu’l-Bahá fuhr mit Seinen Freunden aufs Land hinaus. Sie gingen auf den Wiesen spazieren. Danach rief Er die Bediensteten des Hauses herbei, sprach zu ihnen über die Würde der Arbeit, dankte ihnen für ihre Dienste und gab jedem ein Andenken an Seinen Besuch. Er ging durch das Gästehaus, erteilte ihm als einem Zentrum für Pilger aus aller Welt Seinen Segen und sagte, es werde ein wahres Erholungsheim werden.
4:10
Am Morgen des dritten Tages besuchte Ihn beim Frühstück ein Domherr der anglikanischen Kirche. Das Gespräch kam auf das zögerliche Widerstreben der Reichen, sich von ihren Besitztümern zu trennen, und ‘Abdu’l-Bahá zitierte den Ausspruch Jesu: »Wie selten werden die Reichen ins Himmelreich kommen«vgl. Mk. 10:23, Mt. 19:24, Lk. 18:24 (Anm. d. Übers.).Q. Er sagte, der wahre Sucher werde erst dann frohgemut den Pfad des Verzichtes beschreiten, wenn er erkenne, dass die Bindung an das Materielle ihn von seinem geistigen Erbe fernhalte. Dann werde der Reiche seinen weltlichen Besitz freudig mit dem Bedürftigen teilen. ‘Abdu’l-Bahá verglich die Ihm gewährte schlichte Gastfreundschaft mit den kostspieligen Gelagen der Reichen, die allzu oft an ihren teuren Tafeln sitzen und die hungrigen Menschenmassen vergessen.
4:11
Er bat Seine Zuhörer dringend, das Licht in ihrem eigenen Heim zu verbreiten, damit es schließlich das ganze Volk erleuchte.
4:12
Dann kehrte ‘Abdu’l-Bahá nach London zurück. Wer das Vorrecht hatte, Ihm zu begegnen, wünschte sich aufrichtig, dass die Gläubigen in anderen Ländern erfahren würden, wie sehr die Menschen in Clifton Seinen Besuch geschätzt und Seine geistige Kraft und Liebe gespürt haben.
4:13
Thomas Pole
In Byfleet
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Am 9. September genoss eine Gruppe von Mitarbeiterinnen des Passmore Edwards’ Settlement nachmittags das große Vorrecht, ‘Abdu’l-Bahá zu begegnen. Diese Damen verbrachten gerade ihre Ferien bei Miss Schepel und Miss Buckton im Hause Vanners in Byfleet, einem etwa zwanzig Meilen außerhalb von London gelegenen Dorf. Sie schrieben für sich einen kurzen Bericht über das, was Er gesagt hatte. Hier ein Auszug daraus:
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Wir versammelten uns um Ihn im Kreis und Er hieß uns auf der Fensterbank neben Ihm Platz nehmen. Eine der Damen, die gerade krank war, ließ Er ganz besonders herzlich grüßen. Während Er sich setzte, begann ‘Abdu’l-Bahá zu fragen: »Seid ihr glücklich?«, und unsere Gesichter müssen Ihm verraten haben, dass wir es waren. Dann sagte Er: »Ich liebe euch alle. Ihr seid die Kinder des Königreichs und ihr seid von Gott angenommen. Wenn ihr hier auch arm seid, so seid ihr doch reich an den Schätzen des Königreiches. Ich bin der Diener der Armen. Denkt an die Worte Jesu: ›Selig sind die Armen!‹vgl. Lk. 10:20 – Anm. d. Hrsg.Q Wenn auch alle Königinnen der Erde hier versammelt wären, so könnte ich nicht froher sein!«
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‘Abdu’l-Bahá wusste, dass wir eine Sammelbüchse hatten, aus der wir Menschen zu helfen versuchten, die weniger vom Glück begünstigt waren als wir. Plötzlich stand Er auf und sagte: »Ihr seid mir sehr lieb. Ich möchte etwas für euch tun! Ich kann nicht für euch kochen (Er hatte uns zuvor in der Küche hantieren sehen), aber hier ist etwas für euren Fonds.« Er ging reihum zu einer jeden, schüttelte uns allen mit herzlichem Lächeln die Hand und sagte den Bahá’í-Gruß: »Alláh-u-Abhá
5:4
Hernach spazierte Er durch das Dorf. Viele arme Kinder, Mütter mit kranken Babies und arbeitslose Männer kamen zu Ihm. Mit Hilfe eines Dolmetschers sprach Er mit allen. Zum Nachmittagstee gesellten sich weitere Freunde zu uns. ‘Abdu’l-Bahá mochte den Landhausgarten, den Obstgarten und die Rosen von Vanners und meinte: »Hier ist es wie in einem persischen Garten. Die Luft ist so rein.«
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Bei Seiner Abreise nach London überreichte Er jedem ein purpurfarbenes wildes Stiefmütterchen aus dem Garten und sagte immer wieder auf Englisch »Good-bye«.
5:6
Am 28. September besuchte ‘Abdu’l-Bahá noch einmal Vanners, das kleine Landhaus auf dem alten königlichen Herrensitz aus der Zeit Edward II. Er kam mit dem Auto von London, blieb über Nacht und fuhr am zweiten Tag abends zurück.
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Auf der Fahrt beeindruckten ‘Abdu’l-Bahá zwei Pfadfindergruppen, die den Weg entlang wanderten. Als man Ihm den Leitsatz der Pfadfinder ›Seid bereit‹ mitteilte und dass eine ihrer Regeln sei, jeden Tag eine gute Tat zu tun und dass einige dieser Jungen ein Feuer gelöscht und kürzlich bei einem Eisenbahnunglück Hilfe geleistet hätten, meinte Er: »Das macht mich sehr glücklich.«
5:8
In Vanners angekommen fand Er vor dem Tor eine sehr ungewöhnlich zusammengesetzte Menschenmenge vor – von den Ärmsten bis zu den mit dem Auto von ihren Landsitzen angereisten Reichen – die Ihn herzlich begrüßten. Ein guter Teil folgte Ihm und so viele eben konnten drängten in den Garten und ließen sich um Ihn herum nieder. Es herrschte eine eindrucksvolle Stille. Auch unter diesen Menschen war die gleiche Aufmerksamkeit und Begier nach Seinen Worten zu beobachten wie beim vorherigen Besuch ‘Abdu’l-Bahás im Dorf.
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Nachdem Er Seine Freude über das Beisammensein mit ihnen bekundet hatte, begann Er vor der kleinen Gruppe eine Frage zu beantworten, in der es um die hoch entwickelte westliche Zivilisation ging.
Die Knechtschaft des Menschen
5:10
‘Abdu’l-Bahá sagte:
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»Luxus legt den freien Austausch lahm. Ein von Wünschen besessener Mensch ist immer voller Sorgen. Die Kinder des Reiches Gottes haben die Fesseln ihrer Wünsche abgeworfen. Zerreißt alle Ketten und sucht nach geistiger Freude und Erleuchtung. Dann werdet ihr erkennen, dass euer Blick schon auf dieser Erde die Weiten des göttlichen Horizontes wahrnimmt. Nur der Mensch ist dazu fähig. Wenn wir uns umschauen sehen wir, dass jedes andere Geschöpf von seinem Umfeld abhängt.
5:12
Der Vogel ist an die Luft gebunden, der Fisch an das Meer. Nur der Mensch steht über den Dingen und sagt zu den Elementen: ›Ich will euch zu meinen Dienern machen! Ich kann euch beherrschen!‹ Durch seine Erfindungsgabe sperrt er die Elektrizität ein und macht sie zum wunderbaren Kraftquell für Beleuchtung und zum Kommunikationsmittel über Entfernungen von Tausenden von Meilen. Doch der Mensch kann zum Gefangenen seiner eigenen Erfindungen werden. Seine wahre zweite Geburt erlebt er, wenn er sich von allem Materiellen befreit hat, denn nur wer nicht an seine Wünsche gefesselt ist, ist frei. Dann wird er, wie Jesus sagte, vom Heiligen Geist eingenommen.«
Die Macht Gottes
5:13
Ein Freund fragte ‘Abdu’l-Bahá, wie sehr ein Mensch dem Christusbewusstsein, von dem Paulus als unserer ruhmreichen Hoffnung spricht,Kol. 1:28: »Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit.« (Anm. d. Übers.).Q in seinem Herzen nahekommen kann.
5:14
Mit einem Blick voll großer Freude wandte ‘Abdu’l-Bahá sich um und sagte mit einer beeindruckenden Geste:
5:15
»Die Gnade und Kraft Gottes ist jeder Menschenseele zugedacht und kennt keine Grenzen. Überlegt: welch belebende Kraft strömte von Christus aus, als Er auf Erden weilte. Betrachtet Seine Jünger! Sie waren arme, ungebildete Menschen. Aus dem derben Fischer formte Er den großen Petrus, und aus Magdalena, dem armen Mädchen vom Dorf, machte Er eine Gestalt, die heute in aller Welt Einfluss ausübt. Viele Königinnen haben regiert, von denen nur historische Daten blieben und sonst nichts. Aber Maria Magdalena überragt sie alle. Sie war es, deren Liebe die Jünger erstarken ließ, als deren Glaube ermattete. Was sie für die Welt tat, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Seht, welch göttliche Kraft in ihr durch die Macht Gottes entflammt wurde!«
Erleuchtete Boten
5:16
Auf die Frage, ob das Auftreten von Propheten von Zeit zu Zeit notwendig sei – »würde die Welt nicht im Laufe der Ereignisse durch Weiterentwicklung zur vollen Erkenntnis Gottes gelangen?« – antwortete ‘Abdu’l-Bahá:
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»Die Menschheit braucht eine umfassend motivierende Antriebskraft, damit sie neu belebt wird. Der erleuchtete Bote, dem die Macht Gottes unmittelbar beisteht, bringt allumfassende Resultate zuwege. Bahá’u’lláh stieg als Licht in Persien empor, und nun strahlt dieses Licht über die ganze Welt.«
5:18
Frage: Ist darunter das Zweite Kommen Christi zu verstehen?
5:19
Antwort: »In Christus bringt sich die Göttliche Wirklichkeit, die Eine und Himmlische Wesenheit, die weder Anfang noch Ende hat, zum Ausdruck. In jedem Zyklus tritt sie in Erscheinung, erstrahlt, offenbart sich und geht unter.«
5:20
Wer mit ‘Abdu’l-Bahá beisammen war, bemerkte, dass Er sich öfters nach einem ernsten Gespräch mit Menschen plötzlich umwandte und wegging, um allein zu sein, und dass Ihm in solchen Augenblicken niemand folgte. Als Er diesmal seine Rede beendet hatte und durch das Gartentor ins Dorf ging, beeindruckte alle Seine gelöste, wunderbare Art zu gehen, von der ein amerikanischer Freund meinte, sie gleiche der eines Hirten oder eines Königs.
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Als Er an den zerlumpten Kindern vorbeiging, die Ihn zu Dutzenden umringten, salutierten die Buben so, wie sie es in der Schule gelernt hatten und zeigten damit, wie instinktiv sie die hohe Bedeutung Seiner Anwesenheit spürten. Am bemerkenswertesten war das Verstummen selbst der derbsten Männer, wenn ‘Abdu’l-Bahá erschien. Ein armer Landstreicher rief: »Er ist ein guter Mann!« und fügte hinzu »Er hat sicher viel gelitten!«
5:22
Ganz besonders interessierte Er sich für die kranken, behinderten und unterernährten Kinder. Mütter mit ihren Kleinen auf dem Arm gingen Ihm nach, und ein Freund machte ihnen verständlich, dass dieser hohe Besucher über die Meere aus dem Heiligen Land gekommen sei, von dort, wo Christus geboren worden war.
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Den ganzen Tag über kamen Menschen aus allen Schichten zum Gartentor in der Hoffnung, Ihn zu sehen. Mehr als sechzig kamen mit dem Auto oder Rad nach Vanners, um Ihn dort zu treffen. Viele wollten Ihm zu bestimmten Themen Fragen stellen. Darunter waren Geistliche verschiedener Bekenntnisse, der Direktor einer staatlichen Jungenschule, ein Mitglied des Parlaments, ein Arzt, ein prominenter politischer Essayist, der Vizerektor einer Universität, mehrere Journalisten, ein bekannter Dichter und ein Richter aus London.
5:24
Lange wird man daran denken, wie Er in der Nachmittagssonne im Erker saß und Seinen Arm um einen völlig zerlumpten, aber überglücklichen kleinen Jungen gelegt hatte, der gekommen war, um ‘Abdu’l-Bahá um eine Six-Pence-Münze für seine Spardose und für seine kranke Mutter zu bitten – und gleichzeitig unterhielten sich im Zimmer um Ihn herum Männer und Frauen über Erziehung, Sozialismus, das erste Reformgesetz und die Bedeutung von U-Booten und drahtloser Telegraphie für das neue Zeitalter, in das der Mensch nun eintritt.
5:25
Irgendwann am Abend bat ein junges verlobtes Paar aus dem Dorf, das einige Bahá’í-Bücher gelesen hatte, um die Erlaubnis, Ihn zu besuchen. Scheu betraten sie den Raum, der Mann vom Mädchen geführt. ‘Abdu’l-Bahá erhob sich, um sie zu begrüßen und hieß sie im Kreise Platz nehmen. Er sprach sehr ernst mit ihnen über die Heiligkeit der Ehe, die Schönheit einer wahren Vereinigung und die große Bedeutung von kleinen Kindern und deren Erziehung. Bevor sie gingen segnete Er sie und benetzte ihnen Stirn und Haare mit einem persischen Duftstoff.
Erziehung
5:26
‘Abdu’l-Bahá legte großen Wert auf Erziehung. Er sagte:
5:27
»Die Erziehung der Mädchen ist heute wichtiger als die der Jungen, denn sie sind die Mütter der kommenden Generation. Alle haben die Pflicht, sich um die Kinder zu kümmern. Wer keine Kinder hat, sollte möglichst die Verantwortung für die Erziehung eines Kindes übernehmen.«
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