‘Abdu’l-Bahá | Ansprachen in Paris
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Paris, Avenue de Camoëns 4
48:1
Ein höchster Gerichtshof muss durch die Völker und Regierungen aller Staaten errichtet werden und aus gewählten Mitgliedern aller Länder und Regierungen bestehen. Die Mitglieder dieses großen Rates müssen in Einigkeit tagen. Alle Streitigkeiten internationalen Charakters sind diesem Gerichtshof zu unterbreiten, dessen Sache es ist, durch Schiedsspruch alles zu schlichten, was sonst zur Ursache des Krieges würde. Die Aufgabe dieses Gerichtshofes wäre, den Krieg zu verhindern.
48:2
Einer der großen Schritte zum Universalen Frieden wäre auch die Einführung einer universalen Sprache. Bahá’u’lláh gebietet, dass die Diener der Menschheit zusammenkommen, um entweder eine bereits bestehende Sprache auszuwählen oder eine neue zu bilden. Dies wurde im Kitáb-i-Aqdas vor vierzig Jahren geoffenbart. Darin wird darauf verwiesen, dass die Frage der mannigfachen Sprachen eine sehr schwierige ist. Es gibt mehr als achthundert Sprachen in der Welt, und niemand könnte sie alle erlernen.
48:3
Die Menschenrassen leben nicht mehr wie früher voneinander getrennt. Heute muss man, um mit allen Ländern in enger Verbindung zu stehen, ihre Sprachen sprechen können.
48:4
Eine universale Sprache würde den Verkehr mit allen Nationen möglich machen. Man müsste dann lediglich zwei Sprachen kennen, die Muttersprache und die universale Sprache. Die letzte würde dem Menschen ermöglichen, mit jedem und allen Menschen Umgang zu pflegen.
48:5
Eine dritte Sprache wäre dann nicht mehr nötig. Wie nützlich und beruhigend wäre es doch für alle, wenn man sich mit jedem Menschen, egal aus welchem Land er stammt, unterhalten könnte, ohne einen Dolmetscher zu brauchen!
48:6
Esperanto wurde im Hinblick auf dieses Ziel geschaffen. Es ist eine feine Erfindung und ein ausgezeichnetes Stück Arbeit, aber es muss vervollkommnet werden. Esperanto ist so, wie es ist, für manche Menschen sehr schwierig.
48:7
Man sollte einen internationalen Kongress einberufen, bestehend aus Abgeordneten aller Länder der Welt, des Ostens wie des Westens. Dieser Kongress müsste eine Sprache schaffen, die alle erlernen könnten, und alle Länder würden daraus großen Nutzen ziehen.
48:8
Bis eine solche Sprache angewandt wird, wird die Welt weiterhin die dringende Notwendigkeit eines solchen Verständigungsmittels spüren. Die Verschiedenheit der Sprache ist eine der folgenreichsten Ursachen, die Abneigung und Misstrauen unter den Völkern hervorruft, da diese durch die Unfähigkeit einer sprachlichen Verständigung mehr als durch alles andere voneinander getrennt bleiben.
48:9
Wenn alle eine Sprache sprächen, wie viel leichter ließe sich dann der Menschheit dienen!
48:10
Darum schätzet ›Esperanto‹, denn es ist die beginnende Durchführung eines der wichtigsten Gebote Bahá’u’lláhs, und es muss weiterhin verbessert und vervollkommnet werden.
Neuntes Prinzip: Die Religion soll sich nicht mit Politik befassen
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Paris, Avenue de Camoëns 4, 17. November 1911
49:1
Der Mensch wird in seiner Lebensführung durch zwei Hauptbeweggründe geleitet: die »Hoffnung auf Belohnung« und die »Furcht vor Strafe«. Vgl. Bahá’u’lláh, Bishárát, Kalimát-i-Firdawsíyyih, Ishráqát, Lawḥ-i-Maqṣúd, in: Botschaften aus ʿAkká 3:23, 6:24, 8:53, 11:5, Tabernakel der Einheit, 2:37, Lawḥ-i-Haft Pursish, in: Tabernakel der Einheit 3:12 – Anm. d. Hrsg. Q
49:2
Darum sollten die Obrigkeiten, die wichtige Regierungsämter bekleiden, diese Hoffnung und diese Furcht mit in Betracht ziehen. Ihre Aufgabe ist es, miteinander über die Schaffung von Gesetzen zu beraten und für ihre gerechte Anwendung zu sorgen.
49:3
Das Zelt der Ordnung der Welt ist auf den beiden Pfeilern der »Belohnung und Vergeltung«Bahá’u’lláh, Ishráqát in: Tablets of Bahá’u’lláh 8:53 – Anm. d. Hrsg.Q aufgerichtet und begründet.
49:4
In despotischen Staaten, die unter der Führung von Menschen ohne göttlichen Glauben stehen, in denen es keine Furcht vor geistiger Vergeltung gibt, ist die Durchführung der Gesetze willkürlich und ungerecht.
49:5
Nichts kann Unterdrückung besser verhindern als diese beiden Empfindungen: Hoffnung und Furcht. Sie haben sowohl politische als auch geistige Folgen.
49:6
Würden die Handhaber des Gesetzes die geistigen Folgen ihrer Entscheidungen erwägen und der Führung durch den Glauben gehorchen, so würden sie göttliche Mittler in der Welt des Handelns sein, »die Stellvertreter Gottes für jene, die auf Erden sind, und um der Liebe Gottes willen die Belange Seiner Diener wie ihre eigenen verfechten« Vgl. ʿAbdu’l-Bahá, Geheimnis göttlicher Kultur Abs. 39 – Anm. d. Hrsg. Q. Wenn sich ein Herrscher seiner Verantwortung bewusst ist und sich fürchtet, dem göttlichen Gesetz zuwider zu handeln, werden seine Urteile gerecht sein. Vor allem, wenn er glaubt, dass ihn die Folgen seines Handelns über sein Erdenleben hinaus begleiten und »dass er ernten muss, was er gesät hat«Gal. 6:7 – Anm. d. Hrsg.Q, wird solch ein Mann ganz sicher Ungerechtigkeit und Unterdrückung meiden.
49:7
Wenn umgekehrt ein Beamter denkt, dass alle Verantwortung für sein Handeln mit seinem Erdenleben zu Ende geht, und er nichts von göttlicher Gunst und einem geistigen Reich der Freude weiß noch daran glaubt, so wird ihm der Antrieb zu gerechtem Handeln und der Impuls, Unterdrückung und Ungerechtigkeit auszumerzen, fehlen.
49:8
Wenn ein Herrscher weiß, dass der göttliche Richter seine Urteile auf die Waage legt und dass er, wenn er ohne Mangel befunden wurde, in das himmlische Reich tritt und dass dann das Licht der himmlischen Güte über ihm scheinen wird, so wird er sicher gerecht und unparteiisch handeln. Sieh, wie wichtig es ist, dass die Minister durch die Religion erleuchtet werden!
49:9
Die Geistlichkeit indessen befasse sich nicht mit politischen Fragen! Religiöse Angelegenheiten sollten im gegenwärtigen Zustand der Welt nicht mit Politik vermischt werden (denn ihre Belange sind nicht die gleichen).
49:10
Die Religion ist eine Sache des Herzens, des Geistes und der Gesittung.
49:11
Die Politik befasst sich mit den materiellen Dingen des Lebens. Religiöse Lehrer sollten sich nicht in den Bereich der Politik begeben. Sie sollten sich mit der geistigen Erziehung des Volkes befassen. Sie sollten den Menschen stets guten Rat erteilen und versuchen, Gott und der Menschheit zu dienen. Sie sollten sich bemühen, geistiges Streben zu wecken, und danach trachten, das Verständnis und die Erkenntnis der Menschheit zu erweitern, die Sitten zu verbessern und die Liebe zur Gerechtigkeit zu verstärken.
49:12
Dies entspricht der Lehre Bahá’u’lláhs. Auch im Evangelium heißt es: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.«Mt. 22:21 – Anm. d. Hrsg.Q
49:13
In Persien finden wir unter den bedeutenden Staatsministern einige, die religiös sind, die vorbildlich sind und Gott verehren, die sich fürchten, Seine Gesetze zu verletzen, gerecht im Urteil sind und unparteiisch regieren. Doch gibt es in dem Land auch Statthalter, die keine Gottesfurcht haben, nicht an die Folgen ihrer Handlungen denken und nach eigenen Wünschen handeln, und sie haben Persien große Probleme und Schwierigkeiten bereitet.
49:14
O Freunde Gottes, seid lebende Beispiele der Gerechtigkeit, damit die Welt durch Gottes Barmherzigkeit an euren Handlungen sehen möge, wie ihr die Eigenschaften der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit enthüllt!
49:15
Die Gerechtigkeit ist nicht begrenzt, sie ist eine universale Tugend. Alle Klassen, von der höchsten bis zu der niedrigsten, müssen sie üben. Die Gerechtigkeit muss heilig sein, und die Rechte aller Menschen müssen berücksichtigt werden. Wünscht für andere nur, was ihr euch selbst wünscht. Dann werden wir uns der Sonne der Gerechtigkeit erfreuen, die von Gottes Horizont scheint.
49:16
Jeder Mensch wurde auf einen Ehrenposten gestellt, den er nicht aufgeben darf. Ein bescheidener Arbeiter, der eine Ungerechtigkeit begeht, ist genauso tadelnswert wie ein berühmter Gewaltherr. So können wir alle zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wählen.
49:17
Ich hoffe, dass jeder von euch gerecht werden wird und seine Gedanken auf die Einheit der Menschheit richtet, dass ihr eurem Nächsten nie schadet, noch von irgendjemandem schlecht sprecht, dass ihr die Rechte aller Menschen achtet und euch mehr den Belangen anderer als euren eigenen widmet. So werdet ihr zu Fackeln der göttlichen Gerechtigkeit werden und gemäß der Lehre Bahá’u’lláhs handeln, der in Seinem Leben zahllose Heimsuchungen und Verfolgungen ertrug, um der Menschenwelt die Tugenden der göttlichen Welt zu verkünden und euch die Möglichkeit zu geben, die höchste Herrschaft des Geistes zu erkennen und euch der Gerechtigkeit Gottes zu erfreuen.
49:18
Durch Seine Barmherzigkeit wird die göttliche Güte über euch kommen, und darum bete ich.
Zehntes Prinzip: Die Gleichstellung der Geschlechter
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Paris, Avenue de Camoëns 4, 14. November 1911
50:1
Das zehnte Prinzip der Lehre Bahá’u’lláhs ist die Gleichstellung der Geschlechter.
50:2
Gott hat alle Geschöpfe in Paaren erschaffen. Der Mensch, das Tier, die Pflanze, alles in diesen drei Reichen ist zweierlei Geschlechtes, und unter ihnen herrscht völlige Gleichheit.
50:3
In der Pflanzenwelt gibt es männliche und weibliche Pflanzen. Sie haben gleiche Rechte und besitzen einen gleichen Anteil an der Schönheit ihrer Gattung, wenn man auch in der Tat sagen könnte, dass der Baum, der Früchte trägt, demjenigen, der keine trägt, überlegen ist.
50:4
Im Tierreich sehen wir, dass Männchen und Weibchen gleiche Rechte besitzen und dass jedes von ihnen an den Vorzügen seiner Gattung teilhat.
50:5
So sehen wir, dass in keinem der beiden niederen Reiche der Natur die Frage einer Überlegenheit des einen Geschlechtes über das andere besteht. In der Menschenwelt ist es wesentlich anders. Das weibliche Geschlecht wird als niedriger stehend betrachtet, und es werden ihm keine gleichen Rechte und Vorrechte gestattet. Dieser Zustand ist keine Folge der Natur, sondern der Erziehung. In der göttlichen Schöpfung gibt es keine derartige Unterscheidung. Vor dem Angesicht Gottes ist kein Geschlecht dem anderen überlegen. Warum sollte dann ein Geschlecht das andere als untergeordnet erklären und ihm wohlbegründete Rechte und Vorrechte vorenthalten, als hätte Gott seine Ermächtigung zu einem solchen Verhalten gegeben? Wenn die Frauen die gleichen Vorzüge der Erziehung genießen wie die Männer, so wird das Ergebnis zeigen, dass sich beide gleicherweise zur Bildung eignen.
50:6
In mancher Beziehung ist die Frau dem Manne überlegen. Sie ist weichherziger, empfänglicher und mit stärkerer Intuition begabt.
50:7
Es lässt sich nicht leugnen, dass die Frau zurzeit in vielerlei Hinsicht hinter dem Mann zurückbleibt, dass aber diese vorübergehende Unterlegenheit auf den Mangel an Erziehungsmöglichkeiten zurückgeht. Im Lebenskampf ist die Frau instinktbegabter als der Mann, dankt er ihr doch bereits sein bloßes Dasein.
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