‘Abdu’l-Bahá | Geheimnis göttlicher Kultur
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Wenn wir über die Verse und Beweise des Qur’án und die überlieferten Berichte, die von diesen Sternen am Himmel göttlicher Einheit, den heiligen Imámen, zu uns gelangt sind, ein wenig nachdenken, werden wir von der Tatsache überzeugt sein, dass eine Seele, wenn sie mit den Eigenschaften wahren Glaubens ausgestattet und mit geistigen Tugenden ausgezeichnet ist, zu einem Wahrzeichen der unermesslichen Gnadengaben Gottes für die ganze Menschheit wird. Denn die Eigenschaften der Gläubigen sind Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit; Nachsicht, Mitleid und Großzügigkeit; Rücksichtnahme auf andere; Offenheit, Zuverlässigkeit und Treue; Liebe und Güte; Ergebenheit, Entschlossenheit und Menschlichkeit. Wenn demnach ein Mensch wahrhaft rechtschaffen ist, wird er sich aller Mittel bedienen, die die Menschenherzen anziehen; er wird sie durch die Eigenschaften Gottes zum geraden Pfad des Glaubens hinführen und sie dazu bewegen, aus dem Strom ewigen Lebens zu trinken.
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Heutzutage haben wir vor jedem rechtschaffenen Tun unsere Augen verschlossen; das dauerhafte Glück der Gesellschaft haben wir unserem eigenen, vergänglichen Profit geopfert. Wir meinen, Fanatismus und blinder Eifer gereichen uns zu Nutz und Ehr, und nicht damit zufrieden, verleumden wir uns gegenseitig und planen den Ruin des anderen. Wann immer wir Weisheit und Gelehrsamkeit, Tugend und Frömmigkeit zur Schau stellen wollen, beginnen wir damit, dass wir diesen oder jenen verspotten und verunglimpfen. »So einer«, sagen wir, »hat Vorstellungen, die weit von der Wirklichkeit abweichen und das Verhalten von dem-und-dem lässt gleichfalls viel zu wünschen übrig. Zayd kommt nur selten den religiösen Bräuchen nach, und ‘Amr ist nicht fest im Glauben. Die Ansichten von diesem und jenem schmecken nach Europa. Im Grunde denkt Weiß an nichts als an den eigenen Rang und Namen. Gestern Abend, als sich die Versammlung zum Gebet erhob, war die Reihe nicht richtig ausgerichtet, und es ist nicht erlaubt, einem anderen Führer zu folgen. In diesem Monat ist noch kein Reicher gestorben, noch nichts ist im Gedenken an den Propheten für wohltätige Zwecke gespendet worden. Das Haus der Religion ist zerfallen, die Grundlagen der Bekenntnisse sind in alle Winde zerstreut. Der Teppich des Glaubens ist zusammengerollt, die Zeichen der Gewissheit sind ausgelöscht; die ganze Welt ist in Irrtum verfallen; wenn es darauf ankommt, der Gewaltherrschaft zu widerstehen, sind alle sanftmütig und nachlässig. Tage und Monde sind vergangen, und diese Dörfer und Landgüter gehören immer noch denselben Eigentümern wie letztes Jahr. In unserer kleinen Stadt gab es früher siebzig verschiedene Behörden, die gut und ordentlich arbeiteten, aber ihre Zahl hat ständig abgenommen; jetzt sind zum Andenken nur noch fünfundzwanzig übrig. Früher ließ derselbe Muftí jeden Tag zweihundert gegenteilige Urteile ergehen, heute bekommen wir kaum fünfzig. Damals waren Massen von Leuten verrückt nach Prozessen; jetzt halten sie alle Frieden. Damals unterlag am einen Tag der Kläger, und der Beklagte trug den Sieg davon; tags darauf gewann der Kläger den Prozess und der Beklagte verlor ihn – aber jetzt ist auch diese vorzügliche Praxis aufgegeben worden. Was für eine heidnische Religion ist das, was für ein götzendienerischer Irrtum! Wehe um das Gesetz, wehe um den Glauben, wehe um all dieses Unheil! O ihr Brüder im Glauben! Dies ist fürwahr das Ende der Welt! Das Jüngste Gericht ist im Kommen!«
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Mit solchen Worten bestürmen sie die Gemüter der hilflosen Massen und bringen die Herzen der ohnehin verwirrten Armen durcheinander, die den wahren Sachverhalt und die tatsächliche Grundlage des ganzen Geredes nicht kennen und nicht wissen, dass tausend eigensüchtige Zwecke hinter der vermeintlich gläubigen Beredsamkeit gewisser Individuen verborgen liegen. Die Armen glauben, Redner dieser Art seien von tugendhaftem Eifer getrieben. In Wahrheit erheben solche Leute ein großes Zetergeschrei, weil sie in der Wohlfahrt der Massen ihren persönlichen Ruin sehen und wähnen, ihr eigenes Licht ginge aus, wenn dem Volk die Augen geöffnet würden. Nur besonderer Scharfsinn wird dessen gewahr, dass der Duft der Herzen dieser Menschen, wenn sie wirklich von Rechtschaffenheit und Gottesfurcht angetrieben wären, dem Moschus gleich sich überallhin verbreiten würde. Nichts in der Welt lässt sich jemals allein durch Worte bestätigen.
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»Doch diese Unglücksvögel taten Böses nur
und lernten singen, wie der weiße Falke singt.
Was bleibt vom Botenlied des Wiedehopfs aus Ṣabá,
wenn selbst im Rohr die Dommel seine Töne schlägt?«vgl, Qur’án 27:20 ff.A
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Die geistig Gebildeten, jene, die unendliche Bedeutung und Weisheit aus dem Buch Göttlicher Offenbarung herleiten und deren erleuchtete Herzen aus der unsichtbaren Welt Gottes Eingebung empfangen, geben sich gewisslich alle Mühe, um die Überlegenheit der wahren Anhänger Gottes in jeder Hinsicht und über alle Völker herbeizuführen; sie mühen sich und kämpfen dafür, dass all die Mittel eingesetzt werden, die Fortschritt bewirken. Wenn jemand diese hohen Ziele vernachlässigt, kann er sich niemals vor dem Antlitz Gottes als annehmbar erweisen: Er sticht hervor durch alle seine Fehler und beansprucht dennoch Vollkommenheit; armselig steht er da und täuscht Reichtum vor.
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»Ein blinder Faulpelz ist ein armer Mann,
›Ein Klumpen Fleisch, kein Fuß noch Flügel dran‹.
Wie fern ist er, der Affenpossen reißt,
von dem Erleuchteten, der wirklich weiß!
Der eine Echo nur, und seiʼs auch klar und scharf,
der andere David gleich, Psalmist mit seiner Harfʼ.«
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Erkenntnis, Reinheit, Hingabe, Disziplin und Unabhängigkeit haben mit äußerer Erscheinung und Kleidung nichts zu tun. Im Verlauf meiner Reisen hörte ich eine bekannte Persönlichkeit die folgende bedeutsame Bemerkung machen, an deren Witz und Anmut ich mich noch erinnere: »Nicht jeder Túrbán eines Mullás ist Beweis für Keuschheit und Erkenntnis; nicht jeder Hut eines Laien ist ein Zeichen für Unwissenheit und Unmoral. So mancher Hut hat schon stolz das Banner der Erkenntnis gehisst, und so mancher Túrbán hat das Gesetz Gottes in den Staub gezerrt!«
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Die dritte Forderung des heiligen Textes, den wir hier besprechen, ist, »seinen Leidenschaften zu widerstehen«. Wie wunderbar sind die Folgerungen, die sich aus diesem scheinbar einfachen, doch umfassenden Satz ergeben. Er enthält die wirkliche Grundlage jeder lobenswerten menschlichen Tugend; in der Tat verkörpern diese wenigen Worte das Licht der Welt, den unumstößlichen Grundstein aller geistigen Eigenschaften des Menschen. Er ist die Unruh im Uhrwerk guten Betragens, das Mittel, alle edlen Eigenschaften eines Menschen im Gleichgewicht zu halten.
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Leidenschaft ist eine Flamme, die schon unzählige Male die Ernte des Lebens vieler Gebildeter zu Asche hat werden lassen, ein allverzehrendes Feuer, das selbst das Meer ihres angesammelten Wissens nicht löschen konnte. Wie oft ist es schon geschehen, dass jemand mit allen menschlichen Eigenschaften gesegnet und mit dem Kleinod wahren Verstehens geschmückt war, aber dennoch seinen Leidenschaften nachging, bis seine außergewöhnlichen Eigenschaften die Grenzen der Mäßigung überschritten und er sich zu Ausschweifungen hinreißen ließ. Seine guten Absichten wandelten sich zum Bösen, seine Anlagen waren nicht länger auf Ziele gerichtet, die ihrer wert waren, und die Macht seiner Begierden lenkte ihn von der Rechtschaffenheit und ihrem Lohn ab und führte ihn auf gefährliche und dunkle Wege. In den Augen Gottes, Seiner Erwählten und aller Einsichtsvollen ist ein guter Charakter das Erhabenste und Lobenswerteste, was es gibt, jedoch immer unter der Voraussetzung, dass im Mittelpunkt seiner Entwicklung Vernunft und Erkenntnis stehen und dass er auf wahrer Mäßigung beruht. Wollten wir die Zusammenhänge dieses Themas hier so vertiefen, wie sie es verdienen, würde diese Schrift zu lang werden, und wir würden unser Hauptthema aus den Augen verlieren.
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Trotz ihrer vielgepriesenen Zivilisation sind alle Völker Europas versunken und ertrunken in diesem furchtbaren Meer der Leidenschaft und Begierde, und daher führen alle Erscheinungen ihrer Kultur zu nichts. Niemand sollte über diese Feststellung erstaunt sein oder sie beklagen. Der Hauptzweck und das grundlegende Ziel, warum machtvolle Gesetze verabschiedet, hohe Grundsätze aufgestellt und Einrichtungen geschaffen werden, die sich mit allen Bereichen der Zivilisation befassen, ist das Glück der Menschen. Dieses Glück der Menschen besteht ausschließlich darin, der Schwelle Gottes, des Allmächtigen, näher zu kommen und den Frieden und die Wohlfahrt jedes einzelnen Angehörigen des Menschengeschlechts, sei er hoch oder niedrig, zu sichern; und die besten Mittel, dieses zweifache Ziel zu erreichen, sind hervorragende, der Menschheit verliehene Tugenden.
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Eine oberflächliche Zivilisation, die nicht von kultivierter Sittlichkeit getragen wird, ist »ein verworrener Mischmasch von Träumen«Qur’án 12:44, 21:5.Q, und äußerlicher Glanz ohne inwendige Vollkommenheit ist »wie ein Dunst in der Wüste, den der Dürstende für Wasser hält«Qur’án 24:39.Q. Denn eine rein äußerliche Zivilisation kann niemals dazu führen, das Wohlgefallen Gottes zu finden und Frieden und Wohlfahrt der Menschen zu gewährleisten.
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Die Völker Europas haben sich noch nicht zu den höheren Stufen sittlicher Kultur erhoben, wie ihre Ansichten und ihr Verhalten klar beweisen. Seht zum Beispiel, wie es das oberste Ziel der europäischen Regierungen und ihrer Völker heutzutage ist, sich gegenseitig zu besiegen und zu vernichten, und wie sie, obwohl sie sich insgeheim zutiefst ablehnen, doch ihre Zeit damit verbringen, Bekundungen nachbarlicher Zuneigung, Freundschaft und Harmonie auszutauschen.
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Bekannt ist der Fall eines Herrschers, der Frieden und Ruhe fördert und gleichzeitig mehr Kraft als die Kriegshetzer darauf verwendet, Waffen anzuhäufen und eine noch größere Armee aufzustellen mit der Begründung, dass Frieden und Eintracht nur mit Gewalt herbeigeführt werden könnten. Unter dem Vorwand des Friedens bieten alle Tag und Nacht ihre Kräfte auf, um noch mehr Kriegsgerät zusammenzutragen, und ihr unglückliches Volk muss den größten Teil dessen, was es unter Mühe und Schweiß verdient, aufbringen, um für diese Rüstung zu bezahlen. Tausende haben ihre Arbeit in nutzbringenden Gewerben aufgegeben und mühen sich Tag und Nacht, neue, immer tödlichere Waffen herzustellen, mit denen das Blut des Menschengeschlechts noch reichlicher als zuvor vergossen werden kann.
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Jeden Tag erfindet man neue Bomben und Sprengstoffe, und dann sind die Regierungen gezwungen, ihre veralteten Waffen wegzuwerfen und anzufangen, neue herzustellen, weil sich die alten gegen die neuen Waffen nicht behaupten können. So wurden zum Beispiel im Jahr 1292 A.H.1875 A.D.A, als diese Schrift verfasst wurde, in Deutschland ein neues Gewehr und in Österreich eine neue Kanone entwickelt, die größere Feuerkraft als das Martini-Henry-Gewehr und die Krupp-Kanone haben, schneller in ihrer Wirkung und effizienter in der Vernichtung der Menschheit sind. Und die überwältigenden Kosten all dessen müssen die unglücklichen Massen tragen.
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Urteilt gerecht: Kann diese sogenannte Zivilisation den Frieden und die Wohlfahrt des Volkes herbeiführen oder das Wohlgefallen Gottes finden, solange sie nicht von einer wahren Zivilisation des Charakters getragen wird? Impliziert sie nicht eher, das Erbe des Menschen zu zerstören und die Pfeiler des Glücks und des Friedens niederzureißen?
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Während des französisch-preußischen Krieges im Jahr 1870 christlicher Zeitrechnung starben den Berichten zufolge sechshunderttausend verletzte und erschlagene Männer auf dem Schlachtfeld. Wie viele Wohnstätten wurden bis auf die Grundmauern zerstört, wie viele Städte, die nachts zuvor noch blühten, waren bei Sonnenaufgang Trümmerhaufen? Wie viele Kinder blieben verwaist und verlassen zurück, wie viele alte Väter und Mütter mussten mitansehen, wie ihre Söhne, die jugendfrischen Früchte ihres Lebens, in Staub und Blut sich windend starben? Wie viele Frauen wurden Witwen ohne Helfer und Beschützer?
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Hinzu kommen noch die Bibliotheken und Kunstdenkmäler Frankreichs, die in Flammen aufgingen, die Militärkrankenhäuser voller Kranker und Verwundeter, die in Brand gesteckt und bis auf den Boden niedergebrannt wurden. Es folgten die furchtbaren Ereignisse der Kommune, die grausamen Handlungen, die Zerstörung und der Schrecken, als sich gegnerische Parteien in den Straßen von Paris bekämpften und töteten. Hassausbrüche und Feindseligkeiten zwischen den katholischen Religionsführern und der deutschen Regierung sowie Bürgerkrieg und Aufruhr, Blutvergießen und Verwüstung zwischen den Anhängern der Republik und den KarlistenKönigstreue – Anm. des Hrsg.A in Spanien.
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Nur zu viele solcher Beweise stehen zur Verfügung, um zu unterstreichen, dass Europa moralisch unzivilisiert ist. Da der Verfasser nicht den Wunsch hegt, irgendjemanden zu verunglimpfen, beschränkt er sich auf diese wenigen Beispiele. Es versteht sich, dass kein scharfsinniger und wohl gebildeter Verstand solche Vorkommnisse gutheißen kann. Ist es recht und billig, dass Völker, unter denen derart schreckliche, den Maßstäben menschlichen Wohlverhaltens genau entgegengesetzte Ereignisse ablaufen, es wagen dürfen, Anspruch auf eine echte und angemessene Kultur zu erheben? Noch dazu, wenn aus alledem kein anderes Ergebnis als ein vorübergehender Sieg erwartet werden kann? Da ein solches Ergebnis niemals von Dauer ist, ist es in den Augen der Weisen nicht der Mühe wert.
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Im Verlauf vergangener Jahrhunderte hat der deutsche Staat immer wieder die Franzosen besiegt, immer wieder hat das französische Königreich deutsches Land beherrscht. Darf man zulassen, dass in unseren Tagen sechshunderttausend hilflose Geschöpfe solch äußerlichem, zeitlich begrenzten Nutzen und Erfolg geopfert werden? Nein, bei Gott dem Herrn! Selbst ein Kind kann erkennen, wie schlecht das alles ist. Doch geht der Mensch seinen Leidenschaften und Begierden nach, so werden seine Augen in tausend Schleier gehüllt, die aus den Herzen aufsteigen und das äußere wie das innere Wahrnehmungsvermögen blind machen.
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»Voll Gier drängt das Selbst zur Tür herein
und löscht der Tugend strahlenden Schein.
Aufsteigen vom Herzen hundert Schleier;
das Auge wird blind, lässt nichts mehr ein.«Rúmí, Mathnaví, I:334.Q
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Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen, hochgesinnten Herrscher – leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschiedenheit – mit festem Entschluss und klarem Blick daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand allgemeiner Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. Sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen vernünftig, unverletzlich und bestimmt sind. Diesen Vertrag müssen sie der ganzen Welt bekannt geben und die Bestätigung des gesamten Menschengeschlechts für ihn erlangen. Ein derart erhabenes und edles Unternehmen – der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für die ganze Welt -– sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein. Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und Beständigkeit dieses größten aller Bündnisse zu sichern. In diesem allumfassenden Vertrag sollten die Grenzen jedes einzelnen Landes deutlich festgelegt, die Grundsätze, die den Beziehungen der Regierungen untereinander zugrunde liegen, klar verzeichnet und alle internationalen Vereinbarungen und Verpflichtungen bekräftigt werden. In gleicher Weise sollte der Umfang der Rüstungen für jede Regierung genauestens umgrenzt werden, denn wenn die Zunahme der Kriegsvorbereitungen und Truppenstärken in irgendeinem Land gestattet wäre, so würde dadurch das Misstrauen anderer geweckt. Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so verankert werden, dass bei einer späteren Verletzung irgendeiner Bestimmung durch irgendeine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu vernichten. Wird dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Körper der Welt angewandt, so wird er sich gewiss wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.Die Absätze 120 und 122 wurden von Shoghi Effendi übersetzt und in Die Weltordnung Bahá’u’lláhs 3:20–21 veröffentlicht.A
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Wenn solche erfreulichen Zustände einträten, müsste keine Regierung mehr ständig Waffen speichern oder sich gezwungen sehen, immer neues Kriegsgerät herzustellen, um damit die Menschheit zu unterwerfen. Eine kleine Streitmacht für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, die Verfolgung krimineller und die Ordnung gefährdender Elemente und die Verhütung örtlicher Unruhen würde genügen – nichts weiter. Vor allem wäre auf diese Weise die ganze Weltbevölkerung von der drückenden Last der Rüstungsausgaben befreit; außerdem brauchten zahllose Menschen nicht länger ihre Zeit darauf zu verschwenden, ständig neue Vernichtungswaffen zu ersinnen, diese Zeugen von Habsucht und Blutrünstigkeit, so unvereinbar mit dem Geschenk des Lebens. Stattdessen könnten sie ihren Eifer auf die Entwicklung von dem, was das menschliche Leben erleichtert, Frieden und Wohlstand fördert, richten und so zu weltweitem Fortschritt und Wohlstand beitragen. Jede Nation auf Erden würde dann zu seinen Ehren regieren, und jedes Volk fühlte sich in Ruhe und Zufriedenheit geborgen.
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Einzelne, welche die im menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen, halten diesen Gedanken für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen, was selbst die äußersten Anstrengungen des Menschen je erreichen können; doch ist dies nicht der Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade Gottes, der Herzensgüte Seiner Begünstigten, den beispiellosen Bemühungen weiser und fähiger Seelen und den Gedanken der unvergleichlichen Führer dieses Zeitalters nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer, unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlusskraft kann das Werk vollbringen. Manches hat man in vergangenen Zeiten als reines Hirngespinst betrachtet; heute ist es leicht durchführbar geworden. Warum sollte diese wichtigste und erhabenste Sache – das Tagesgestirn am Himmelszelt wahrer Kultur und die Ursache des Ruhmes, des Fortschritts, des Wohlergehens und Erfolges der ganzen Menschheit – unmöglich sein? Der Tag wird sicher kommen, an dem ihr klares Licht Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird.
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Wenn die Kriegsvorbereitungen im heutigen Umfang fortgeführt werden, wird der Konfliktmechanismus bald einen Punkt erreichen, an dem Krieg für die Menschheit unerträglich sein wird.
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Wie aus den bisherigen Ausführungen klar hervorgeht, bestehen Ruhm und Größe des Menschen nicht darin, dass er nach Blut dürstet und wie ein Tiger scharfe Klauen besitzt, dass er Städte zerstört und Verwüstung anrichtet, ganze Armeen und Scharen friedlicher Bürger abschlachtet. Dagegen würde es eine glänzende Zukunft für ihn bedeuten, wenn er für seine Gerechtigkeitsliebe bekannt wäre, allem Volk, ob hoch oder niedrig, Güte erweisen würde, Länder und Städte, Dörfer und Provinzen aufbaute, das Leben erleichterte und für seine Mitmenschen glücklich und friedvoll gestaltete, wenn er die Grundsätze des Fortschritts festlegte, den Lebensstandard und Wohlstand der ganzen Bevölkerung erhöhte.
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Sehet, wie im Lauf der Geschichte so mancher König seinen Thron auf Eroberungen gründete. Unter ihnen waren Changíz-Khán und Taymúr, die über den weiten Erdteil Asien herrschten, Alexander von Mazedonien und Napoleon I, die ihre anmaßenden Hände über drei der fünf Kontinente ausstreckten. Und was brachten alle ihre machtvollen Siege ein? Kam dadurch irgendein Land zur Blüte? Hat sich irgendein Glück daraus ergeben? Blieb einer ihrer Throne bestehen? Oder haben nicht vielmehr ihre Dynastien bald wieder die Macht verloren? Abgesehen davon, dass Asien in den Flammen zahlloser Schlachten aufging und in Asche fiel, brachten all die Eroberungen Changíz-Khán, dem Kriegsherrn, nichts ein und Taymúr erntete von all seinen Triumphen nur die Gewalt über Völker, die in alle Winde zerstoben waren, und allgemeinen Verfall. Alexander hatte von seinen gewaltigen Siegen nichts, als dass sein Sohn vom Thron stürzte und die Phillip und Ptolomäus die Herrschaft über die Länder, die er einst beherrscht hatte, übernahmen. Und was erreichte Napoleon I aus der Unterwerfung der Könige Europas anderes als die Zerstörung blühender Länder, den Untergang ihrer Bewohner, die Verbreitung von Angst und Schrecken über ganz Europa und am Ende seiner Tage seine eigene Gefangenschaft? So viel über die Eroberer und die Denkmäler, die sie hinterlassen.
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Vergleichet damit die lobenswerten Eigenschaften und die vornehme Größe Anúshírváns, des Edlen und GerechtenKhusraw I., Sásáníden-König, der 531–579 n. Chr. regierte.A. Als dieser hochgesinnte Herrscher an die Macht kam, war der einstmals festgegründete Thron Persiens dem Zusammenbruch nahe. Mit seinem ihm von Gott verliehenen Verstand legte er die Grundlagen der Gerechtigkeit, rottete Unterdrückung und Gewalt aus und sammelte das Volk Persiens unter den schützenden Schwingen seiner Herrschaft. Dank des erneuernden Einflusses seiner ständigen Bemühungen wurde Persien, das trostlos und verdorrt am Boden lag, neu belebt und entwickelte sich schnell zur schönsten aller blühenden Nationen. Er stellte die am Boden liegenden Machtstrukturen seines Staates wieder her und verstärkte sie. Der Ruf seiner Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit erscholl über die ganze Welt, bis sich die Völker aus ihrer Erniedrigung und ihrem Elend zu den Höhen des Glücks und der Ehre erhoben. Obwohl er ein Magier war, sagte Muḥammad, dieser Mittelpunkt der Schöpfung, die Sonne des Prophetenamtes, von ihm: »Ich wurde zur Zeit eines gerechten Königs geboren«, und Er war erfreut, dass Er während dessen Herrschaft auf die Welt gekommen war. Hat nun diese erlauchte Persönlichkeit ihre erhabene Stufe durch bewundernswürdige Eigenschaften erlangt oder etwa dadurch, dass er sich aufmachte, die Erde zu erobern und das Blut ihrer Völker zu vergießen? Bedenket, er erreichte einen so hohen Rang im Herzen der Welt, dass seine Größe durch die Unendlichkeit der Zeit dringt und er ewiges Leben erwarb. Wollten wir über das Fortleben großer geschichtlicher Gestalten ausführlicher berichten, würde diese kurze Abhandlung unnötig in die Länge gezogen, und da es keineswegs feststeht, dass die öffentliche Meinung Persiens durch solche Lektüre wesentlich beeinflusst wird, wollen wir diese Arbeit verkürzen und zu denjenigen Fragen übergehen, die im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen. Sollte es sich jedoch herausstellen, dass diese Kurzfassung Erfolg hat, werden wir, so Gott will, eine Anzahl Bücher schreiben, die sich ausführlich und nutzbringend mit den Grundsätzen göttlicher Weisheit in ihrem Zusammenhang mit der Erscheinungswelt befassen.
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Keine Macht der Erde kommt gegen die Armeen der Gerechtigkeit an, und jede Feste muss vor ihnen fallen; denn die Menschen beugen sich willig unter den siegreichen Schlägen dieser entscheidenden Waffe, und verwüstete Orte blühen unter den Füßen dieser Heerschar wieder auf. Zwei mächtige Banner sind es, deren Schatten, wenn er auf die Krone eines Königs fällt, bewirkt, dass der Einfluss seiner Herrschaft rasch und leicht wie das Sonnenlicht die ganze Erde durchdringt. Das erste ist das Banner der Weisheit, das zweite das der Gerechtigkeit. Gegen diese beiden mächtigsten Streitkräfte können selbst Berge von Eisen nichts ausrichten, und die Mauer Alexanders bricht vor ihnen in Stücke. Es ist doch offensichtlich, dass das Leben in dieser vergänglichen Welt so flüchtig und unbeständig wie der Morgenwind ist. Wie glücklich sind deshalb jene großen Menschen, die einen guten Namen und die Erinnerung an ein Leben hinterlassen, das auf dem Pfade des Wohlgefallens Gottes verbracht wurde.
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»Ob unter Thrones Baldachin
ob unter freiem Himmelszelt –
was kümmert’s, wo ein reines Herz
zur letzten Ruh’ sich niederlegt.«Sa‘dí, Gulistán, Über die Lebensführung der Könige.Q
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Ein Feldzug kann lobenswert sein, und es gibt Zeiten, in denen der Krieg zu einer mächtigen Grundlage des Friedens wird und Zerstörung das wahre Mittel zum Wiederaufbau. Wenn zum Beispiel ein edelmütiger Herrscher seine Truppen aufs Schlachtfeld führt, um den Angriff eines Aufrührers oder eines Aggressors abzuwenden, wenn er sich mit Heeresmacht anschickt, ein entzweites Staatsvolk zu einigen, kurz, wenn er den Krieg für eine gerechte Sache führt, dann ist dieses scheinbare Unheil, diese äußerliche Gewaltanwendung wirkliche Gerechtigkeit und dieser Krieg der Grundstein des Friedens. Heute besteht jedoch die Aufgabe, die großen Herrschern zukommt, darin, den Weltfrieden zu errichten, denn in ihm liegt die Freiheit aller Völker begründet.
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Der vierte Teil der früher wiedergegebenen Äußerung über den Weg des Heils lautet: » … die Gebote seines Herrn befolgen.« Ohne Zweifel besteht des Menschen höchste Würde darin, dass er seinem Gott gegenüber demütig und gehorsam ist, und des Menschen größte Ehre, seine erhabenste Stufe und sein Ruhm hängen von der genauen Befolgung der göttlichen Gebote und Verbote ab. Die Religion ist das Licht der Welt; Fortschritt, Erfolg und Glück des Menschen sind das Ergebnis seines Gehorsams gegenüber den Gesetzen, die in den heiligen Büchern niedergelegt sind. Kurz, es lässt sich beweisen, dass in diesem Leben – sowohl nach außen wie nach innen – die Religion das mächtigste Bollwerk, der sicherste, dauerhafteste und beständigste Schutz für die ganze Welt ist. Sie gewährt die geistigen wie die materiellen Errungenschaften der Menschheit und sichert das Glück und die Kultur der Gesellschaft.
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Es gibt tatsächlich Toren, die die Grundwahrheiten der göttlichen Religionen niemals richtig geprüft haben, vielmehr das Verhalten einiger weniger religiöser Heuchler zum Maßstab genommen und alle gläubigen Menschen mit diesem Zollstock gemessen haben. So kamen sie zu der Auffassung, Religionen seien ein Hindernis für den Fortschritt, ein trennendes Element, Ursache von Boshaftigkeit und Feindschaft unter den Menschen. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass die Grundsätze der göttlichen Religionen nicht nach den Taten derjenigen gewertet werden können, die nur vorgeben, sie zu befolgen. Denn alles Erhabene, so unvergleichlich es sein mag, kann zu bösen Zwecken missbraucht werden. Eine brennende Lampe in der Hand eines unwissenden Kindes oder eines Blinden wird weder die sie umgebende Dunkelheit beseitigen noch das Haus erhellen, sondern den Träger wie das Haus in Flammen setzen. Können wir da der Lampe die Schuld geben? Nein, bei Gott dem Herrn! Für den Sehenden ist die Lampe eine Führung und zeigt ihm den Weg, aber dem Blinden bringt sie Unheil.
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Unter denen, die Religion ablehnten, befand sich der Franzose Voltaire, der viele Bücher schrieb, in denen er die Religionen angriff – Werke, die nicht mehr taugen als Kinderspielzeug. Dieser Mensch nahm die Taten und Unterlassungen des Papstes, des Oberhaupts der römisch-katholischen Kirche, und die Intrigen und Streitigkeiten der geistlichen Führer der Christenheit zu seinem Maßstab, tat den Mund weit auf und lästerte gegen den Geist Gottes (Jesus). In seiner unzulänglichen Beweisführung gelang es ihm nicht, den wahren Sinn der heiligen Schriften zu erfassen; er stieß sich an gewissen Stellen in den offenbarten Texten und konzentrierte sich auf die damit zusammenhängenden Probleme. »Wir haben vom Qur’án das herniedergesandt, was den Gläubigen Heilung und Gnade bringt; den Frevlern aber wird es das Verderben nur noch mehren.«Qur’án 17:82.Q
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»Der Greis von Ghaznáder Dichter Saná’í.A sprach in einem Gleichnis,
als er das göttliche Geheimnis pries:
Die Zweifler sehen nichts in dem Qur’án
als eitel Worte; doch wen wundert das?
Von all dem Feuer, das die Sonne schenkt,
erreicht die Wärme nur des Blinden Auge.«Rúmí, Mathnaví, III:4229–4231.Q
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»Viele wird Er durch solche Gleichnisse irreleiten, viele den rechten Weg führen; aber nur die Frevler wird Er irreleiten.«Qur’án 2:26.Q
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Fürwahr, das stärkste Mittel, um Ruhm und Fortschritt des Menschen zu erlangen, die höchste Wirkkraft für die Erleuchtung und Erlösung der Welt sind Liebe, Freundschaft und Einheit unter allen Mitgliedern des Menschengeschlechts. Nichts in der Welt ist durchführbar, ja nicht einmal denkbar, ohne Einheit und Einklang, und das vollkommene Mittel, das Freundschaft und Einheit hervorbringt, ist wahre Religion. »Hättest Du auch alle Schätze der Erde verschwendet, Du hättest ihre Herzen doch nicht vereinigen können; aber Gott hat sie vereinigt …«Qur’án 8:63.Q
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Wenn die Offenbarer Gottes erscheinen, führt ihre Macht, wahre Einheit sowohl nach außen als auch in den Herzen zu schaffen, feindselige Völker, die einander nach dem Leben trachteten, unter dem Schutz des Wortes Gottes zusammen. Dann werden hunderttausend Seelen zu einer Seele, und aus zahllosen Einzelwesen entsteht ein Menscheitskörper.
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»Einst waren sie wie die Wogen der See,
und der Wind trieb sie zahllos vor sich her.
Dann sandte Gott Seine Sonne auf sie,
und Seine Sonne kann Einheit nur sein.
Hunde und Wölfe leben getrennt,
doch die Seele der Löwen Gottes ist eins.«vgl. Rúmí, Mathnaví II:185 und II:189, ferner die Ḥadíth: »Gott schuf die Geschöpfe in Finsternis, dann streute Er etwas von Seinem Licht über sie. Diejenigen, auf die etwas von diesem Licht fiel, nahmen den rechten Weg, während die, die es nicht traf, vom geraden Pfad abirrten.« Vgl. R. A. Nicholson, The Mathnawí of Jaláli’d-Dín-i-Rúmí, in E. J. W. Gibb Memorial Series.A
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Die Ereignisse beim Kommen der Propheten vergangener Zeiten, ihr Leben, ihre Taten und die Verhältnisse, die sie antrafen – all dies ist nur unzureichend in den geschichtlichen Quellen festgehalten; im Qur’án, in den heiligen Überlieferungen und in der Thora wird darauf nur in zusammengefasster Form Bezug genommen. Da jedoch alle Begebenheiten seit den Tagen Moses bis auf die heutige Zeit im mächtigen Qur’án, in den beglaubigten Überlieferungen, in der Thora und anderen verlässlichen Quellen aufgezeichnet sind, wollen wir uns hier mit einigen kurzen geschichtlichen Beispielen begnügen, um überzeugend zu klären, ob die Religion die eigentliche Grundlage und das Grundprinzip der Kultur und Zivilisation ist oder ob sie, wie Voltaire und seinesgleichen annehmen, allen sozialen Fortschritt, Wohlstand und Frieden vereitelt.
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Um Einwände von Seiten irgendeines Volkes der Erde ein für alle Male auszuschließen, werden wir unsere Ausführungen in Übereinstimmung mit jenen autoritativen Berichten durchführen, auf die sich alle Nationen geeinigt haben.
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