‘Abdu’l-Bahá | Geheimnis göttlicher Kultur
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ʿAbdu’l-Bahá
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Das Geheimnis göttlicher Kultur
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Risáliy-i-Madaníyyih
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Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen!
1
Preis und Dank seien der Vorsehung, dass sie unter allen existierenden Wirklichkeiten die Wirklichkeit des Menschen auserwählt und ihn mit Verstand und Weisheit, den zwei am hellsten strahlenden Lichtern in beiden Welten, ausgezeichnet hat. Durch das Wirken dieser großen Gnadengabe hat Gott in jedem Zeitalter wunderbare neue Anordnungen im Spiegel der Schöpfung entstehen lassen. Wenn wir die Welt des Seins unvoreingenommen betrachten, wird uns klar, dass der Tempel des Seins von Zeitalter zu Zeitalter unablässig mit frischer Anmut ausgeschmückt und mit ständig neuer Pracht ausgezeichnet wurde, die von der Weisheit und Kraft des Denkens herrühren.
2
Dieses erhabenste Zeichen Gottes steht an erster Stelle in der Schöpfungsordnung und nimmt auf höchster Stufe den Vorrang vor allen erschaffenen Dingen ein; dies bezeugt die heilige Überlieferung: »Vor allem anderen schuf Gott den Verstand.« Seit Anbeginn der Schöpfung war der Verstand dazu bestimmt, sich im Tempel des Menschen zu offenbaren.
3
Geheiligt ist der Herr, der durch die leuchtenden Strahlen dieser göttlichen Macht bewirkte, dass unsere dunkle Erde von den Welten des Lichts beneidet wird: »Und die Erde wird leuchten im Lichte ihres Herrn.«Qur’án 39:69.Q Heilig und erhaben ist Er, der das Wesen des Menschen zum Dämmerungsort dieser grenzenlosen Gnade gemacht hat: »Der Gott des Erbarmens hat den Qur’án gelehrt. Er hat den Menschen erschaffen und hat ihn die vernünftige Sprache gelehrt.«Qur’án 55:1–4.Q
4
O ihr, die ihr Verstand habt zu begreifen! Erhebt eure flehenden Hände zum Himmel des einen Gottes, seid demütig, beugt euch vor Ihm und dankt Ihm für diese höchste Gabe. Dann bittet Ihn, uns beizustehen, auf dass in unserer heutigen Zeit himmlische Impulse vom Bewusstsein der Menschheit ausstrahlen mögen und dieses göttlich entfachte Feuer, mit dem das Menschenherz betraut worden ist, nimmer erlösche.
5
Bedenket wohl: Diese vielen verschiedenen Phänomene, diese Begriffe und Erkenntnisse, die technischen Verfahren und die philosophischen Systeme, die Wissenschaften, Künste, Gewerbe und Erfindungen – alle sind Ausstrahlungen des menschlichen Verstandes. Jedem Volk, das sich weiter in dieses uferlose Meer hineinwagte, ist es gelungen, die anderen Völker zu übertreffen. Glück und Stolz einer Nation bestehen darin, dass sie wie die Sonne am Himmel des Wissens erstrahlt. »Sollen die, welche erkennen, gleich behandelt werden wie die, welche in Unwissenheit leben?«Qur’án 39:9.Q Und Ehre und Würde des Einzelnen liegen darin, dass er inmitten aller Völker zu einer Quelle gesellschaftlichen Wohles wird. Gibt es eine größere Gnade als die, dass ein Mensch, wenn er in sich geht, feststellen darf, dass er, durch göttliche Gunst bestätigt, die Ursache für Frieden und Wohlergehen, Glück und Nutzen unter seinen Mitmenschen wurde? Nein, bei dem einen wahren Gott! Es gibt keine größere Freude, kein vollkommeneres Glück.
6
Wie lange werden wir noch auf den Flügeln der Leidenschaft und eitlen Begierde dahintreiben? Wie viele Tage werden wir noch wie die Barbaren in den Tiefen der Unwissenheit und der Gemeinheit verbringen? Gott hat uns Augen gegeben, damit wir uns in der Welt umschauen und alles festhalten, was unsere Kultur und unsere Lebensweise verbessert. Er hat uns Ohren gegeben, damit wir zu unserem Nutzen auf die Weisheit der Gelehrten und Philosophen hören und uns aufmachen, ihre Lehren zu unterstützen und in die Tat umzusetzen. Sinne und Fähigkeiten sind uns verliehen worden, damit wir sie dem Dienst am Allgemeinwohl weihen, so dass wir, die wir uns durch Wahrnehmungsvermögen und Verstand von allen anderen Lebensformen unterscheiden, uns allezeit und in jeder Hinsicht, seien die Anlässe wichtig oder unbedeutend, üblich oder außergewöhnlich, darum bemühen, die ganze Menschheit sicher in der unbezwingbaren Feste des Wissens zu versammeln. Unablässig sollten wir neue Voraussetzungen für menschliches Glück schaffen, fortgesetzt sollten wir neue Instrumente entwickeln und fördern, um dieses Ziel zu erreichen. Wie erhaben, wie hochgeehrt ist ein Mensch, wenn er sich aufmacht, seiner Verantwortung gerecht zu werden; wie erbärmlich und verachtenswert ist er, wenn er seine Augen vor dem Wohlergehen der Gesellschaft verschließt und sein kostbares Leben damit vergeudet, selbstischen Interessen und persönlichem Nutzen nachzujagen! Der Mensch wird höchstes Glück erlangen und die Zeichen Gottes in der Welt und in der Menschenseele wahrnehmen, wenn er auf dem Ross hehren Bestrebens in die Kampfbahn der Kultur und Gerechtigkeit prescht. »Wir werden ihnen wahrlich Unsere Zeichen zeigen, in der Welt und in ihnen selbst.«Qur’án 41:53.Q
7
Und des Menschen äußerste Verderbtheit besteht darin, träge, teilnahmslos, stumpf, nur mit seinen eigenen niederen Begierden befasst, dahinzuleben. Wenn er sich so verhält, vegetiert er in tiefster Unwissenheit wie ein Wilder und sinkt auf eine tiefere Stufe herab als die wilden Tiere. »Sie sind wie das Vieh. Ja, weit ärger sind sie abgeirrt … Denn die niedrigsten Tiere vor Gottes Angesicht sind die Tauben und Stummen, die nicht verstehen.«Qur’án 7:179 und 8:22.Q
8
Wir müssen den hohen Entschluss fassen, uns zu erheben und alle jene Mittel zu ergreifen, die Frieden, Wohlstand und Glück, Erkenntnis, Kultur und Industrie, Würde, Wert und Stufe der gesamten Menschheit voranbringen. Auf diese Weise wird durch die belebenden Wasser reiner Absicht und selbstlosen Bemühens der Boden menschlicher Fähigkeiten in seiner eigenen latenten Vortrefflichkeit sich entfalten und lobenswerte Eigenschaften hervorbringen und gedeihen, bis er mit dem Rosengarten der Erkenntnis, der unseren Vorvätern eigen war, wetteifern kann. Dann wird dieses heilige Land Persien in jeder Hinsicht zum Brennpunkt menschlicher Vollkommenheiten und wird wie in einem Spiegel die gesamte Vielfalt der Weltzivilisation reflektieren.
9
Alle Ehre und aller Preis gebühren dem Tagesanbruch göttlicher Weisheit, dem Dämmerungsort der Offenbarung (Muḥammad) und dem heiligen Geschlecht Seiner Nachkommen; denn durch die weitreichenden Strahlen Seiner höchsten Weisheit, durch Seine umfassende Erkenntnis wurden die wilden Bewohner von Yathrib (Medina) und Baṭḥá (Mekka) wundersam in kürzester Zeit aus den Tiefen ihrer Unwissenheit auf wunderbare Weise befreit, erhoben sich zu den Gipfeln der Gelehrsamkeit und wurden Mittelpunkte der Künste, Wissenschaften und menschlicher Vollkommenheiten, Sterne der Glückseligkeit und wahrer Kultur, die den gesamten Horizont der Welt überstrahlten.
10
Seine Majestät der SháhNáṣiri’d-Dín Sháh.A hat sich gegenwärtig (1875) entschlossen, den Fortschritt des persischen Volkes, seine Wohlfahrt und Sicherheit und das Gedeihen seines Landes in die Wege zu leiten. Kurzerhand hat er die Hilfsangebote für seine Untertanen vermehrt, Tatkraft und Gerechtigkeit gezeigt, wobei er hofft, er könne den Írán durch das Licht der Gerechtigkeit so gestalten, dass Ost und West ihn beneide, und jenen hehren Eifer, der die ersten großen Epochen der persischen Geschichte auszeichnete, erneut durch die Adern des persischen Volkes pulsieren lassen. Dies hat dem Verfasser aus Gründen, die dem verständnisvollen Betrachter einleuchten werden, die Notwendigkeit vor Augen geführt, allein Gott zuliebe und als Beitrag zu jenem hochgesteckten Ziel eine kurze Abhandlung über gewisse dringliche Fragen zu Papier zu bringen. Um zu zeigen, dass sein einziger Vorsatz die Förderung des allgemeinen Wohls ist, hat er seinen Namen verschwiegenDas 1875 in Persisch verfasste Original trägt keinen Hinweis auf den Verfasser; die erste englische Übersetzung wurde 1910 unter dem Titel The Mysterious Forces of Civilization mit dem Vermerk veröffentlicht: »in Persisch von einem bedeutenden Bahai-Philosophen verfasst«.A. In dem Glauben, dass die Hinführung zur Rechtschaffenheit in sich selbst ein rechtschaffener Akt ist, erteilt er diese wenigen Ratschläge den Söhnen seines Landes – Ratschläge, die nur um Gottes willen im Geist der Liebe eines getreuen Freundes geäußert sind. Unser Herr, der alles kennt, bezeugt, dass dieser Diener nichts sucht als das, was recht und gut ist, denn Er, ein Wanderer in den Wüsten der Liebe zu Gott, ist in ein Reich aufgestiegen, wo ihn die Hand der Ablehnung oder der Zustimmung, des Lobes oder des Tadels nicht mehr berühren kann. »Wir nähren eure Seelen um Gottes willen; wir suchen von euch weder Belohnung noch Dank.«Qur’án 76:9.Q
11
»Die Hand ist verborgen,
doch die Feder schreibt auf ihr Geheiß.
Das Ross setzt an zum Sprung,
auch wenn des Reiters Namen niemand weiß.«
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O Volk Persiens! Schau dir die blühenden Seiten deiner Geschichte an, die von einem anderen Tag, einer längst vergangenen Zeit erzählen. Lies sie und staune; lass dir diesen wunderbaren Anblick nicht entgehen. In jenen Tagen war der Írán gleichsam das Herz der Welt, eine helle Fackel unter den Menschen. Persiens Macht und Herrlichkeit erstrahlten wie der Morgen über dem Horizont der Welt; der Glanz seiner Gelehrsamkeit ergoss seine Strahlen über den Osten und Westen. Bis zu den Bewohnern des Polarkreises drang die Kunde vom weit verbreiteten Reich derer, die Persiens Krone trugen, und die Berühmtheit der überwältigenden Erscheinung ihres Königs der Könige demütigte die Herrscher Griechenlands und Roms. Die größten Philosophen der Welt waren erstaunt über die Weisheit persischer Staatskunst; das politische System Persiens wurde zum Modell aller Könige in den vier damals bekannten Erdteilen. Bei allen Völkern war Persien für die Reichweite seiner Herrschaft berühmt, von allen wurde es wegen seiner ruhmvollen Kultur und Zivilisation verehrt. Persien war gleichsam Angelpunkt der Welt, Quelle und Mittelpunkt der Künste und Wissenschaften, Ursprung großer Erfindungen und Entdeckungen, reiche Fundgrube an menschlichen Tugenden und Vollkommenheiten. Der Verstand und die Weisheit der einzelnen Angehörigen dieser überragenden Nation blendeten den Sinn anderer Völker; die Strahlkraft und Auffassungsgabe, die diese gesamte edle Rasse auszeichneten, erregten den Neid der ganzen Welt.
13
Abgesehen von den Aufzeichnungen in persischen Geschichtswerken steht im Alten Testament, heute unter allen Völkern Europas als heiliger kanonischer Text anerkannt, dass sich zur Zeit Kyros II., der in den íránischen Geschichtsbüchern Bahman, Sohn des Isfandíyár, heißt, die 360 Provinzen des persischen Großreiches von den chinesisch-indischen Grenzbezirken bis nach Jemen und Äthiopien erstreckten. 2 Chr. 36:22–23; Esra. 1:2, Est. 1:1, 8:9, Jes. 45:1, 14, 49:12.Q Die Griechen berichten, wie dieser stolze Herrscher mit einer ungeheuren Heerschar gegen sie zog und ihr eigenes, bis dahin siegreiches Land im Staube zurückließ. Er brachte die Pfeiler aller Herrscherhäuser ins Wanken; nach einem maßgeblichen arabischen Geschichtswerk des Abu’l-Fidáʿ herrschte er über die ganze damals bekannte Welt. Auch ist in demselben Werk sowie an anderer Stelle aufgezeichnet, dass Firaydún, ein König der shdádíyán-Dynastie – der für seine angeborenen Tugenden, sein Urteilsvermögen, sein weitreichendes Wissen und seine anhaltenden Siege unter allen Vorgängern und Nachfolgern auf dem Thron einzigartig war – die gesamte bekannte Welt unter seinen drei Söhnen aufteilte.
14
Die Geschichtsbücher der aufgeklärtesten Völker der Welt bezeugen, dass die erste Regierung, die auf Erden gebildet, das bedeutendste Weltreich, das unter den Nationen errichtet worden ist, Persiens Thron und Krone gewesen sind.
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O Volk Persiens! Erwache aus deiner Schlaftrunkenheit! Erhebe dich aus deiner Stumpfheit! Sei gerecht in deinem Urteil: Lässt es das Gebot der Ehre zu, dass dieses geheiligte Land, einst der Ursprung der Weltkultur, die Quelle von Ruhm und Glück für die ganze Menschheit, beneidet von Ost und West, weiterhin bemitleidet wird, beklagt von allen Nationen? Die Perser waren einst das edelste Volk; wollt ihr es zulassen, dass die Zeitgeschichte für künftige Geschlechter seine heutige Erniedrigung festhält? Wollt ihr selbstzufrieden das gegenwärtige Elend Persiens hinnehmen, wo dieses Land doch einstmals die Sehnsucht der ganzen Menschheit war? Soll man dieses Land wegen seiner verachtenswerten Trägheit, seiner mangelnden Kampfbereitschaft und völligen Unwissenheit zur rückständigsten aller Nationen erklären?
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War nicht in vergangenen Zeiten das persische Volk an Verstand und Weisheit unübertroffen? Strahlte es nicht durch Gottes Gnade wie der Morgenstern vom Horizont göttlicher Erkenntnis? Wie kommt es, dass wir uns heute mit diesem elenden Zustand zufriedengeben, völlig verstrickt in unseren zügellosen Leidenschaften, blind für die höchste Glückseligkeit, für das, was Gott wohlgefällt, und uns allein mit unseren selbstischen Interessen befassen, ständig auf der Jagd nach unrühmlichen, persönlichen Vorteilen?
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Dieses schönste aller Länder war einst ein Leuchtfeuer, das die Strahlen göttlicher Erkenntnis, der Kunst und Wissenschaft, des Edelsinns und höchster Errungenschaften, der Weisheit und des Heldenmuts über die Welt ergoss. Heute ist sein glückliches Schicksal wegen der Trägheit und Lethargie seines Volkes, wegen seiner Antriebslosigkeit und undisziplinierten Lebensweise, seinem Mangel an Selbstachtung und fehlendem Ehrgeiz völlig in den Hintergrund getreten, ist dieses Licht der Finsternis gewichen. »Die sieben Himmel und die sieben Welten weinen über den Mächtigen, wenn er zu Fall gekommen ist.«
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Niemand sollte glauben, das persische Volk verfüge von Natur aus nicht über ausreichende Intelligenz, es sei an grundlegender Auffassungsgabe und an Verständnis, angeborenem Scharfsinn, Intuition und Weisheit oder natürlicher Begabung anderen Völkern unterlegen. Gott bewahre! Ganz im Gegenteil haben die Perser immer alle anderen Völker an ihnen durch Geburt verliehene Fähigkeiten übertroffen. Hinzu kommt, dass das Land selbst durch sein gemäßigtes Klima und seine Naturschönheiten, seine geographischen Vorzüge und seine Bodenschätze in höchstem Maße gesegnet ist. Was dieses Land jedoch dringend benötigt, sind tiefes Nachdenken, entschlossenes Handeln, Bildung, Inspiration und Ermutigung. Das Volk muss sich gewaltig anstrengen, sein Stolz muss geweckt werden.
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Unter den fünf Kontinenten des Erdballs sind heute Europa und weite Teile Amerikas für Gesetz und Ordnung, Staatskunst und Handel, Künste und Gewerbe, Wissenschaft, Philosophie und Erziehungswesen bekannt. In alten Zeiten jedoch waren dies die wildesten, unwissendsten und grausamsten Völker der Welt; sie wurden sogar als Barbaren, das heißt als völlig roh und unkultiviert, gebrandmarkt. Überdies herrschten vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert nach Christi Geburt, in der Zeit, die man das Mittelalter nennt, unter den Völkern Europas solch schlimme Kampfhandlungen und schwere Unruhen, so grausame Auseinandersetzungen und Schreckenstaten vor, dass die Europäer diese zehn Jahrhunderte mit Recht als das finstere Mittelalter beschreiben. Die Grundlage für Fortschritt und Zivilisation in Europa wurde tatsächlich erst im 15. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gelegt; und von dieser Zeit an befindet sich die gesamte heute offensichtliche Kultur Europas in einem Entwicklungsprozess, der unter dem Einfluss großer Geister steht; und die Folge davon ist, dass die Wissensgrenzen erweitert und zielstrebige, ehrgeizige Anstrengungen unternommen wurden.
20
Durch Gottes Gnade und den geistigen Einfluss Seiner universalen Manifestation hat derzeit der redliche Herrscher des Írán sein Volk unter dem Schutzschild der Gerechtigkeit versammelt, und die Aufrichtigkeit des kaiserlichen Vorsatzes hat sich in hoheitlichen Maßnahmen gezeigt. In der Hoffnung, seine Herrschaft werde mit der ruhmreichen Vergangenheit wetteifern können, bemühte er sich, Gerechtigkeit und Rechtlichkeit zu begründen, überall in diesem edlen Land die Bildung und den Zivilisationsprozess zu fördern und alles, was seinen Fortschritt sichern wird, von der Möglichkeit in die Wirklichkeit umzusetzen. Bislang haben wir noch keinen Monarchen gesehen, der die Zügel der Staatsangelegenheiten in so fähigen Händen hält, von dessen hoher Entschlusskraft die Wohlfahrt aller seiner Untertanen abhängt, der, wie es ihm zukommt, als ein gütiger Vater seine Bemühungen auf die Bildung und Kultivierung seines Volkes lenkt, der den Wohlstand und den Seelenfrieden seiner Untertanen zu sichern sucht und ihren Interessen die gebührende Aufmerksamkeit bekundet; dieser Diener und Ihm Gleichgesinnte haben deshalb bislang geschwiegen. Nunmehr ist es für Menschen mit Scharfsinn offenkundig, dass sich der Sháh aus eigenem Antrieb entschlossen hat, eine gerechte Regierung aufzubauen und den Fortschritt aller seiner Untertanen zu sichern. Seine ehrenwerte Absicht hat den Anlass zu der vorliegenden Abhandlung gegeben.
21
Es ist in der Tat seltsam, wie manche, statt dankbar für diesen Segen zu sein, der wahrhaft von der Gnade Gottes, des Allmächtigen, herrührt, indem sie sich wie ein Mann erheben und dafür beten, dass sich diese edlen Vorsätze täglich vervielfachen mögen – wie manche, deren Verstand durch persönliche Beweggründe beeinträchtigt und deren Wahrnehmungsvermögen von Selbstsucht und Eitelkeit umwölkt ist, deren Lebenskräfte sich dem Dienst an ihren Leidenschaften verschrieben haben, deren Ehrgefühl sich in Liebe zu Führerschaft verwandelt hat, wie solche Menschen das Banner des Widerstands aufpflanzen und sich in lauten Klagen ergehen. Bis jetzt haben sie den Sháh getadelt, weil er sich nicht aus eigenem Antrieb für das Wohlergehen seines Volkes einsetzte und ihm nicht Frieden und Wohlstand zu bringen suchte. Nun, da er diesen großen Plan gefasst hat, schlagen sie einen anderen Ton an. Einige sagen, dies seien neumodische Methoden und fremde Ismen, die in keinerlei Beziehung zu den gegenwärtigen Bedürfnissen und den altehrwürdigen Sitten Persiens stünden. Andere scharen die hilflosen Massen um sich, die nichts von Religion oder deren Gesetzen und Grundsätzen verstehen und deshalb kein Unterscheidungsvermögen besitzen, und reden ihnen ein, diese modernen Methoden seien heidnische Praktiken und stünden im Widerspruch zu den verehrten Lehren des wahren Glaubens; dem fügen sie hinzu: »Wer ein Volk nachahmt, gehört ihm an«. Eine Gruppe von ihnen besteht darauf, die Reformen müssten mit größter Behutsamkeit, Schritt für Schritt, vorangetrieben werden; jede Übereilung sei unzulässig. Andere beharren darauf, nur solche Maßnahmen, die die Perser selbst ausgedacht haben, dürften übernommen werden; sie selbst sollten ihre politische Verwaltung, ihr Bildungssystem und ihren Kulturzustand reformieren und es gebe keine Notwendigkeit, Verbesserungen von anderen Nationen zu entlehnen. Kurz, jede Gruppe folgt ihrer eigenen besonderen Vorstellung.
22
O Volk Persiens! Wie lange wollt ihr noch umherirren? Wie lange muss eure Verwirrung noch fortdauern? Wie lange soll es mit diesen Meinungsverschiedenheiten, diesem nutzlosen Widerstreit, dieser Unwissenheit, dieser Denkverweigerung noch weitergehen? Andere sind hellwach, und wir schlafen unseren traumlosen Schlaf. Andere Nationen unternehmen jede Anstrengung, um ihre Verhältnisse zu verbessern; wir sind in unseren Leidenschaften und in unserer Selbstgefälligkeit gefangen und stolpern mit jedem Schritt in eine neue Falle.
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Gott ist unser Zeuge, dass wir keinen Hintergedanken haben, wenn wir dieses Thema aufgreifen. Weder suchen wir uns bei irgendjemandem einzuschmeicheln oder jemanden an uns zu ziehen, noch erwarten wir irgendwelchen materiellen Gewinn daraus. Wir sprechen nur als einer, der ernsthaft das Wohlgefallen Gottes sucht, denn wir haben unseren Blick von der Welt und ihren Völkern abgewandt und in der schützenden Obhut des Herrn Zuflucht gesucht. »Nicht verlange ich von euch einen Lohn hierfür … Mein Lohn ist bei Gott allein.«Qur’án 6:90 und 11:29.Q
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Jene, die behaupten, dass diese modernen Konzepte nur für andere Länder gelten und für den Írán bedeutungslos seien, dass sie seine Bedürfnisse nicht befriedigten und nicht zu seiner Lebensart passten, jene Leute übersehen die Tatsache, dass andere Nationen einst genauso waren, wie wir heute sind. Haben diese neuen Systeme und Verfahren, diese fortschrittlichen Vorhaben nicht zur Entwicklung jener Länder beigetragen? Hat es den Menschen in Europa geschadet, dass sie solche Maßnahmen ergriffen? Haben sie nicht vielmehr dadurch die höchste Stufe materieller Entwicklung erlangt? Stimmt es etwa nicht, dass das persische Volk Jahrhunderte lang so gelebt hat, wie wir es heute nach vergangenen Verhaltensmustern leben sehen? Hat dies zu irgendeinem erkennbaren Nutzen geführt? Sind irgendwelche Fortschritte gemacht worden? Wenn diese Fragen nicht durch Erfahrung geprüft worden wären, könnten Zeitgenossen, in deren Köpfen das Licht natürlicher Intelligenz umwölkt ist, sie leichtfertig in Frage stellen. In anderen Ländern dagegen sind alle Aspekte der erforderlichen Voraussetzungen für den Fortschritt immer wieder überprüft worden; ihr Nutzen ist dort so klar bewiesen worden, dass ihn der trübste Verstand erfassen kann.
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Lasst uns gerecht und unvoreingenommen darüber nachdenken! Lasst uns die Frage stellen, welcher dieser Grundsätze und dieser gesunden, gut bewährten Verfahrensweisen könnte unseren gegenwärtigen Nöten nicht abhelfen oder widerspräche den besten politischen Interessen Persiens oder schadete dem allgemeinen Wohl des Volkes. Wäre es von Nachteil, das Bildungswesen zu erweitern, nützliche Künste und Wissenschaften zu entwickeln, Industrie und Technik zu fördern? Solche Bemühungen heben doch den einzelnen Menschen inmitten der Masse empor und führen ihn aus den Tiefen der Unwissenheit zu den Gipfeln der Erkenntnis und der Vortrefflichkeit. Würde die Einführung einer gerechten Gesetzgebung im Einklang mit den göttlichen Gesetzen, die das Glück der Gesellschaft sichern, die Menschenrechte schützen und einen unüberwindlicher Schutz vor Gewalttaten bilden – würden solche Gesetze, die für die Unversehrtheit der Mitglieder der Gesellschaft und für ihre Gleichheit vor dem Gesetz Gewähr bieten, ihr Wohlergehen und ihren Erfolg beeinträchtigen?
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Wenn man durch die Nutzung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit Vergleiche zwischen den gegenwärtigen Verhältnissen und den durch Kollektiverfahrung gebildeten Schlussfolgerungen ziehen kann, wenn man dadurch Gegebenheiten, die heute erst als Möglichkeit vorhanden sind, als künftige Wirklichkeiten vorausschauen kann, wäre es dann unvernünftig, heute Maßnahmen zu ergreifen, die unsere künftige Sicherheit garantieren? Erscheint es kurzsichtig, unvorsichtig oder bedenklich, ist es eine Abkehr von dem, was recht und billig ist, wenn wir unsere Beziehungen zu Nachbarländern festigen, bindende Verträge mit den Großmächten eingehen, Freundschaft mit friedliebenden Regierungen pflegen, die Handelsbeziehungen mit den Nationen in Ost und West erweitern, unsere Bodenschätze erschließen und den Reichtum unseres Volkes mehren?
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Würde es für unsere Untertanen Verderben bedeuten, wenn die Provinz- und Bezirksgouverneure ihrer heutzutage absoluten Macht entbunden würden, durch die sie schalten und walten, wie es ihnen passt, wenn sie statt dessen auf Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit verpflichtet würden, wenn Todesurteile und Kerkerstrafen, die sie verhängen, der Bestätigung durch den Sháh und durch übergeordnete Gerichte in der Hauptstadt unterworfen würden, die den Fall zuvor gründlich prüfen, Art und Ausmaß des Verbrechens bestimmen und dann eine gerechtes Urteil abgeben müssten, vorbehaltlich der Erteilung eines Dekrets durch den Herrscher? Wenn Bestechung und Korruption, heute unter den wohlklingenden Namen Geschenke und Vergünstigungen bekannt, für alle Zeit ausgeschlossen sein würden, wäre das eine Bedrohung für die Grundmauern der Gerechtigkeit? Wäre es ein Zeichen krankhafter Denkweise, Soldaten, die doch lebendige Opfer für Volk und Staat sind, ständig bereit, dem Tod ins Auge zu schauen, aus ihrer heutzutage unvorstellbaren Not und Armut zu befreien, angemessene Vorkehrungen für ihre Ernährung, Kleidung und Unterbringung zu treffen und keine Mühe zu scheuen, ihre Offiziere in der Militärausbildung zu unterweisen und die Armee mit den modernsten Arten von Gewehren und anderen Waffen auszustatten?
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Wollte jemand einwenden, solche Reformen seien noch nie völlig durchgesetzt worden, dann müsste er dieser Frage unvoreingenommen nachgehen und feststellen, dass diese Schwachpunkte auf dem völligen Fehlen einer einheitlichen öffentlichen Meinung sowie auf dem Mangel an Einsatzbereitschaft, Entschlossenheit und Hingabe bei den Führern des Landes beruhen. Offensichtlich kann das Land nicht in angemessener Weise verwaltet werden, bevor das Volk erzogen und die öffentliche Meinung auf das Wesentliche richtig fokussiert ist, bevor Regierungsbeamte, selbst der unteren Grade, frei von den geringsten Spuren von Korruption sind. Erst wenn Disziplin, Ordnung und gute Regierungsführung eine Stufe erreichen, auf der es einem Bürger auch mit äußerster Anstrengung nicht gelänge, um Haaresbreite vom Pfade der Rechtschaffenheit abzuweichen – erst dann können die gewünschten Reformen als vollständig durchgeführt betrachtet werden.
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Überdies kann jede Einrichtung, auch wenn sie dem höchsten Wohl der Menschheit dient, missbraucht werden. Ihr richtiger oder falscher Gebrauch hängt davon ab, wie unterschiedlich stark Aufklärung, Fähigkeit, Glaube, Redlichkeit, Hingabe und edle Gesinnung bei den Führern der öffentlichen Meinung ausgeprägt sind.
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Der Sháh hat seinen Teil getan; die Ausführung der nützlichen Maßnahmen, die vorgeschlagen wurden, ist nun in die Hände derjenigen Personen gelegt, die in den Beratungsgremien arbeiten. Wenn diese Menschen sich als unbescholten und edelmütig erweisen, wenn sie sich vom Makel der Korruption freihalten, werden die Bestätigungen Gottes sie zu einer nie versiegenden Quelle des Segens für die Menschheit machen. Gott wird ihren Lippen und ihren Federn entströmen lassen, was dem ganzen Volk zum Segen gereicht, so dass jeder Winkel des edlen Írán von ihrer Gerechtigkeit und Redlichkeit erleuchtet wird und die Strahlen dieses Lichts die ganze Erde erfassen werden. »Dies wird Gott kein Schweres sein. «Qur’án 14:20 und 35:17.Q
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Andernfalls ist es klar, dass die Ergebnisse sich als nicht hinnehmbar erweisen werden, hat es sich doch in bestimmten fremden Ländern gezeigt, dass nach der Einführung von Parlamenten das Volk in Wirklichkeit entmutigt und verwirrt wurde und dass selbst gutgemeinte Reformen schlechte Wirkungen zur Folge hatten. Die Errichtung von Parlamenten, der Aufbau beratender Körperschaften ist in Wahrheit die Grundlage der Staatsführung; solche Einrichtungen müssen jedoch eine Reihe wesentlicher Anforderungen erfüllen. Erstens müssen ihre gewählten Mitglieder rechtschaffen, gottesfürchtig, edelgesinnt und unbestechlich sein. Zum anderen müssen sie die Gesetze Gottes in allen Einzelheiten kennen; sie müssen auch über die wichtigsten Rechtsgrundsätze Bescheid wissen, in den Regeln, die für den Umgang mit inneren Angelegenheiten und mit auswärtigen Beziehungen gelten, erfahren und in den nutzbringenden Künsten der Zivilisation geschult sein. Schließlich müssen sie sich mit ihren rechtmäßigen Einkünften zufrieden geben.
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Man sollte nicht glauben, dass es Menschen dieser Art nicht gäbe. Durch Gottes Gnade und Seine Erwählten, durch große Anstrengungen hingebungsvoller und geheiligter Seelen lässt sich jede Schwierigkeit leicht beheben, und jedes noch so vielschichtige Problem erweist sich als einfacher denn ein Augenzwinkern.
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Wenn jedoch die Mitglieder derartiger beratender Körperschaften von minderwertigem Charakter, unwissend, über die Gesetze der Staatsführung und der Verwaltung nicht unterrichtet, wenn sie dumm, niedrig gesinnt, gleichgültig, müßig und eigennützig sind, ist es nutzlos, derartige Einrichtungen ins Leben zu rufen. Während in der Vergangenheit ein armer Mann, der zu seinem Recht kommen wollte, nur einen Einzelnen zu bestechen hatte, müsste er jetzt alle Hoffnung auf Gerechtigkeit aufgeben oder aber die gesamte Mitgliederzahl zufriedenstellen.
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Eine eingehende Untersuchung wird belegen, dass der Grund für Unterdrückung und Unrecht, für Unehrlichkeit, Regelwidrigkeit und Missstände hauptsächlich darin besteht, dass es dem Volk an religiöser Gläubigkeit und an Erziehung mangelt. Wenn das Volk echt religiös, gebildet und geschult ist und eine Schwierigkeit sich zeigt, kann es sich an die örtlichen Behörden wenden; trifft es dort nicht auf Gerechtigkeit und kann es nicht seine angemessenen Ansprüche durchsetzen, stellt es vielmehr fest, dass die örtliche Verwaltung im Widerspruch zu Gottes Wohlgefallen und zur Rechtlichkeit des Königs steht, dann kann das Volk seinen Fall der höheren Gerichtsinstanz vortragen und die Abweichung der örtlichen Behörden von dem geistigen Gesetz darstellen. Das Gericht kann sich die Akten der Behörden über den Fall kommen lassen und auf diese Weise wird der Gerechtigkeit Genüge getan. Zurzeit fehlen jedoch dem größten Teil der Bevölkerung aus Mangel an Schulbildung sogar die Worte, um ihr Anliegen vorzubringen.
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Und nun zu denen, die hier und da als Staatsführer angesehen werden. Wir stehen erst am Anfang des neuen Verwaltungsprozesses, und diese Staatsführer sind selbst noch nicht ausreichend ausgebildet, um die Freuden bei der Ausübung von Gerechtigkeit erlebt und das Hochgefühl bei der Förderung von Rechtssicherheit gekostet zu haben; sie haben noch nicht von den Quellen eines reinen Gewissens und einer aufrechten Absicht getrunken. Sie haben noch nicht richtig erkannt, dass des Menschen höchste Ehre und wahres Glück in der Selbstachtung liegt, in hohen Entschlüssen und edlen Vorsätzen, in der Unversehrtheit und Sittlichkeit der Person, in der Reinheit des Denkens. Stattdessen bilden sie sich ein, ihre Größe läge darin, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln weltliche Güter anzuhäufen.
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