‘Abdu’l-Bahá | Geheimnis göttlicher Kultur
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Wenn die Kriegsvorbereitungen im heutigen Umfang fortgeführt werden, wird der Konfliktmechanismus bald einen Punkt erreichen, an dem Krieg für die Menschheit unerträglich sein wird.
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Wie aus den bisherigen Ausführungen klar hervorgeht, bestehen Ruhm und Größe des Menschen nicht darin, dass er nach Blut dürstet und wie ein Tiger scharfe Klauen besitzt, dass er Städte zerstört und Verwüstung anrichtet, ganze Armeen und Scharen friedlicher Bürger abschlachtet. Dagegen würde es eine glänzende Zukunft für ihn bedeuten, wenn er für seine Gerechtigkeitsliebe bekannt wäre, allem Volk, ob hoch oder niedrig, Güte erweisen würde, Länder und Städte, Dörfer und Provinzen aufbaute, das Leben erleichterte und für seine Mitmenschen glücklich und friedvoll gestaltete, wenn er die Grundsätze des Fortschritts festlegte, den Lebensstandard und Wohlstand der ganzen Bevölkerung erhöhte.
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Sehet, wie im Lauf der Geschichte so mancher König seinen Thron auf Eroberungen gründete. Unter ihnen waren Changíz-Khán und Taymúr, die über den weiten Erdteil Asien herrschten, Alexander von Mazedonien und Napoleon I, die ihre anmaßenden Hände über drei der fünf Kontinente ausstreckten. Und was brachten alle ihre machtvollen Siege ein? Kam dadurch irgendein Land zur Blüte? Hat sich irgendein Glück daraus ergeben? Blieb einer ihrer Throne bestehen? Oder haben nicht vielmehr ihre Dynastien bald wieder die Macht verloren? Abgesehen davon, dass Asien in den Flammen zahlloser Schlachten aufging und in Asche fiel, brachten all die Eroberungen Changíz-Khán, dem Kriegsherrn, nichts ein und Taymúr erntete von all seinen Triumphen nur die Gewalt über Völker, die in alle Winde zerstoben waren, und allgemeinen Verfall. Alexander hatte von seinen gewaltigen Siegen nichts, als dass sein Sohn vom Thron stürzte und die Phillip und Ptolomäus die Herrschaft über die Länder, die er einst beherrscht hatte, übernahmen. Und was erreichte Napoleon I aus der Unterwerfung der Könige Europas anderes als die Zerstörung blühender Länder, den Untergang ihrer Bewohner, die Verbreitung von Angst und Schrecken über ganz Europa und am Ende seiner Tage seine eigene Gefangenschaft? So viel über die Eroberer und die Denkmäler, die sie hinterlassen.
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Vergleichet damit die lobenswerten Eigenschaften und die vornehme Größe Anúshírváns, des Edlen und GerechtenKhusraw I., Sásáníden-König, der 531–579 n. Chr. regierte.A. Als dieser hochgesinnte Herrscher an die Macht kam, war der einstmals festgegründete Thron Persiens dem Zusammenbruch nahe. Mit seinem ihm von Gott verliehenen Verstand legte er die Grundlagen der Gerechtigkeit, rottete Unterdrückung und Gewalt aus und sammelte das Volk Persiens unter den schützenden Schwingen seiner Herrschaft. Dank des erneuernden Einflusses seiner ständigen Bemühungen wurde Persien, das trostlos und verdorrt am Boden lag, neu belebt und entwickelte sich schnell zur schönsten aller blühenden Nationen. Er stellte die am Boden liegenden Machtstrukturen seines Staates wieder her und verstärkte sie. Der Ruf seiner Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit erscholl über die ganze Welt, bis sich die Völker aus ihrer Erniedrigung und ihrem Elend zu den Höhen des Glücks und der Ehre erhoben. Obwohl er ein Magier war, sagte Muḥammad, dieser Mittelpunkt der Schöpfung, die Sonne des Prophetenamtes, von ihm: »Ich wurde zur Zeit eines gerechten Königs geboren«, und Er war erfreut, dass Er während dessen Herrschaft auf die Welt gekommen war. Hat nun diese erlauchte Persönlichkeit ihre erhabene Stufe durch bewundernswürdige Eigenschaften erlangt oder etwa dadurch, dass er sich aufmachte, die Erde zu erobern und das Blut ihrer Völker zu vergießen? Bedenket, er erreichte einen so hohen Rang im Herzen der Welt, dass seine Größe durch die Unendlichkeit der Zeit dringt und er ewiges Leben erwarb. Wollten wir über das Fortleben großer geschichtlicher Gestalten ausführlicher berichten, würde diese kurze Abhandlung unnötig in die Länge gezogen, und da es keineswegs feststeht, dass die öffentliche Meinung Persiens durch solche Lektüre wesentlich beeinflusst wird, wollen wir diese Arbeit verkürzen und zu denjenigen Fragen übergehen, die im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen. Sollte es sich jedoch herausstellen, dass diese Kurzfassung Erfolg hat, werden wir, so Gott will, eine Anzahl Bücher schreiben, die sich ausführlich und nutzbringend mit den Grundsätzen göttlicher Weisheit in ihrem Zusammenhang mit der Erscheinungswelt befassen.
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Keine Macht der Erde kommt gegen die Armeen der Gerechtigkeit an, und jede Feste muss vor ihnen fallen; denn die Menschen beugen sich willig unter den siegreichen Schlägen dieser entscheidenden Waffe, und verwüstete Orte blühen unter den Füßen dieser Heerschar wieder auf. Zwei mächtige Banner sind es, deren Schatten, wenn er auf die Krone eines Königs fällt, bewirkt, dass der Einfluss seiner Herrschaft rasch und leicht wie das Sonnenlicht die ganze Erde durchdringt. Das erste ist das Banner der Weisheit, das zweite das der Gerechtigkeit. Gegen diese beiden mächtigsten Streitkräfte können selbst Berge von Eisen nichts ausrichten, und die Mauer Alexanders bricht vor ihnen in Stücke. Es ist doch offensichtlich, dass das Leben in dieser vergänglichen Welt so flüchtig und unbeständig wie der Morgenwind ist. Wie glücklich sind deshalb jene großen Menschen, die einen guten Namen und die Erinnerung an ein Leben hinterlassen, das auf dem Pfade des Wohlgefallens Gottes verbracht wurde.
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»Ob unter Thrones Baldachin
ob unter freiem Himmelszelt –
was kümmert’s, wo ein reines Herz
zur letzten Ruh’ sich niederlegt.«Sa‘dí, Gulistán, Über die Lebensführung der Könige.Q
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Ein Feldzug kann lobenswert sein, und es gibt Zeiten, in denen der Krieg zu einer mächtigen Grundlage des Friedens wird und Zerstörung das wahre Mittel zum Wiederaufbau. Wenn zum Beispiel ein edelmütiger Herrscher seine Truppen aufs Schlachtfeld führt, um den Angriff eines Aufrührers oder eines Aggressors abzuwenden, wenn er sich mit Heeresmacht anschickt, ein entzweites Staatsvolk zu einigen, kurz, wenn er den Krieg für eine gerechte Sache führt, dann ist dieses scheinbare Unheil, diese äußerliche Gewaltanwendung wirkliche Gerechtigkeit und dieser Krieg der Grundstein des Friedens. Heute besteht jedoch die Aufgabe, die großen Herrschern zukommt, darin, den Weltfrieden zu errichten, denn in ihm liegt die Freiheit aller Völker begründet.
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Der vierte Teil der früher wiedergegebenen Äußerung über den Weg des Heils lautet: » … die Gebote seines Herrn befolgen.« Ohne Zweifel besteht des Menschen höchste Würde darin, dass er seinem Gott gegenüber demütig und gehorsam ist, und des Menschen größte Ehre, seine erhabenste Stufe und sein Ruhm hängen von der genauen Befolgung der göttlichen Gebote und Verbote ab. Die Religion ist das Licht der Welt; Fortschritt, Erfolg und Glück des Menschen sind das Ergebnis seines Gehorsams gegenüber den Gesetzen, die in den heiligen Büchern niedergelegt sind. Kurz, es lässt sich beweisen, dass in diesem Leben – sowohl nach außen wie nach innen – die Religion das mächtigste Bollwerk, der sicherste, dauerhafteste und beständigste Schutz für die ganze Welt ist. Sie gewährt die geistigen wie die materiellen Errungenschaften der Menschheit und sichert das Glück und die Kultur der Gesellschaft.
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Es gibt tatsächlich Toren, die die Grundwahrheiten der göttlichen Religionen niemals richtig geprüft haben, vielmehr das Verhalten einiger weniger religiöser Heuchler zum Maßstab genommen und alle gläubigen Menschen mit diesem Zollstock gemessen haben. So kamen sie zu der Auffassung, Religionen seien ein Hindernis für den Fortschritt, ein trennendes Element, Ursache von Boshaftigkeit und Feindschaft unter den Menschen. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass die Grundsätze der göttlichen Religionen nicht nach den Taten derjenigen gewertet werden können, die nur vorgeben, sie zu befolgen. Denn alles Erhabene, so unvergleichlich es sein mag, kann zu bösen Zwecken missbraucht werden. Eine brennende Lampe in der Hand eines unwissenden Kindes oder eines Blinden wird weder die sie umgebende Dunkelheit beseitigen noch das Haus erhellen, sondern den Träger wie das Haus in Flammen setzen. Können wir da der Lampe die Schuld geben? Nein, bei Gott dem Herrn! Für den Sehenden ist die Lampe eine Führung und zeigt ihm den Weg, aber dem Blinden bringt sie Unheil.
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Unter denen, die Religion ablehnten, befand sich der Franzose Voltaire, der viele Bücher schrieb, in denen er die Religionen angriff – Werke, die nicht mehr taugen als Kinderspielzeug. Dieser Mensch nahm die Taten und Unterlassungen des Papstes, des Oberhaupts der römisch-katholischen Kirche, und die Intrigen und Streitigkeiten der geistlichen Führer der Christenheit zu seinem Maßstab, tat den Mund weit auf und lästerte gegen den Geist Gottes (Jesus). In seiner unzulänglichen Beweisführung gelang es ihm nicht, den wahren Sinn der heiligen Schriften zu erfassen; er stieß sich an gewissen Stellen in den offenbarten Texten und konzentrierte sich auf die damit zusammenhängenden Probleme. »Wir haben vom Qur’án das herniedergesandt, was den Gläubigen Heilung und Gnade bringt; den Frevlern aber wird es das Verderben nur noch mehren.«Qur’án 17:82.Q
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»Der Greis von Ghaznáder Dichter Saná’í.A sprach in einem Gleichnis,
als er das göttliche Geheimnis pries:
Die Zweifler sehen nichts in dem Qur’án
als eitel Worte; doch wen wundert das?
Von all dem Feuer, das die Sonne schenkt,
erreicht die Wärme nur des Blinden Auge.«Rúmí, Mathnaví, III:4229–4231.Q
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»Viele wird Er durch solche Gleichnisse irreleiten, viele den rechten Weg führen; aber nur die Frevler wird Er irreleiten.«Qur’án 2:26.Q
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Fürwahr, das stärkste Mittel, um Ruhm und Fortschritt des Menschen zu erlangen, die höchste Wirkkraft für die Erleuchtung und Erlösung der Welt sind Liebe, Freundschaft und Einheit unter allen Mitgliedern des Menschengeschlechts. Nichts in der Welt ist durchführbar, ja nicht einmal denkbar, ohne Einheit und Einklang, und das vollkommene Mittel, das Freundschaft und Einheit hervorbringt, ist wahre Religion. »Hättest Du auch alle Schätze der Erde verschwendet, Du hättest ihre Herzen doch nicht vereinigen können; aber Gott hat sie vereinigt …«Qur’án 8:63.Q
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Wenn die Offenbarer Gottes erscheinen, führt ihre Macht, wahre Einheit sowohl nach außen als auch in den Herzen zu schaffen, feindselige Völker, die einander nach dem Leben trachteten, unter dem Schutz des Wortes Gottes zusammen. Dann werden hunderttausend Seelen zu einer Seele, und aus zahllosen Einzelwesen entsteht ein Menscheitskörper.
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»Einst waren sie wie die Wogen der See,
und der Wind trieb sie zahllos vor sich her.
Dann sandte Gott Seine Sonne auf sie,
und Seine Sonne kann Einheit nur sein.
Hunde und Wölfe leben getrennt,
doch die Seele der Löwen Gottes ist eins.«vgl. Rúmí, Mathnaví II:185 und II:189, ferner die Ḥadíth: »Gott schuf die Geschöpfe in Finsternis, dann streute Er etwas von Seinem Licht über sie. Diejenigen, auf die etwas von diesem Licht fiel, nahmen den rechten Weg, während die, die es nicht traf, vom geraden Pfad abirrten.« Vgl. R. A. Nicholson, The Mathnawí of Jaláli’d-Dín-i-Rúmí, in E. J. W. Gibb Memorial Series.A
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Die Ereignisse beim Kommen der Propheten vergangener Zeiten, ihr Leben, ihre Taten und die Verhältnisse, die sie antrafen – all dies ist nur unzureichend in den geschichtlichen Quellen festgehalten; im Qur’án, in den heiligen Überlieferungen und in der Thora wird darauf nur in zusammengefasster Form Bezug genommen. Da jedoch alle Begebenheiten seit den Tagen Moses bis auf die heutige Zeit im mächtigen Qur’án, in den beglaubigten Überlieferungen, in der Thora und anderen verlässlichen Quellen aufgezeichnet sind, wollen wir uns hier mit einigen kurzen geschichtlichen Beispielen begnügen, um überzeugend zu klären, ob die Religion die eigentliche Grundlage und das Grundprinzip der Kultur und Zivilisation ist oder ob sie, wie Voltaire und seinesgleichen annehmen, allen sozialen Fortschritt, Wohlstand und Frieden vereitelt.
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Um Einwände von Seiten irgendeines Volkes der Erde ein für alle Male auszuschließen, werden wir unsere Ausführungen in Übereinstimmung mit jenen autoritativen Berichten durchführen, auf die sich alle Nationen geeinigt haben.
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Als die Israeliten in Ägypten so zahlreich geworden waren, dass sie sich über das ganze Land verteilt hatten, beschlossen die koptischen Pharaonen Ägyptens, ihre koptischen Untertanen zu unterstützen und zu begünstigen, die Kinder Israels hingegen, die sie als fremde Eindringlinge betrachteten, zu erniedrigen und zu entehren. Lange Zeit waren die Juden, weit verstreut und zersplittert, Gefangene in der Hand der tyrannischen Kopten; von allen wurden sie verlacht und verachtet, und der Geringste der Kopten konnte die vornehmsten Israeliten ungestraft knechten und verfolgen. Die Versklavung, das Elend und die Hilflosigkeit der Hebräer gingen so weit, dass sie bei Tag und Nacht ihres Lebens nicht mehr sicher waren und nicht wussten, wie sie ihre Frauen und Kinder vor dem gewalttätigen Zugriff ihrer pharaonischen Entführer schützen sollten. Die Splitter ihrer gebrochenen Herzen waren ihre tägliche Speise und ein Strom von Tränen ihr Trank. In dieser Bedrängnis lebten sie dahin, bis plötzlich Moses, der Allherrliche, das göttliche Licht aus dem gesegneten Tal, dem Ort, der Heiliger Boden war, strömen sah und die lebenspendende Stimme Gottes vernahm, wie sie aus der Flamme des Busches sprach, der »weder vom Osten noch vom Westen«Qur’án 24:35.Q ist. Und Er erhob sich in der vollen Pracht seines allumfassenden Offenbarertums. Wie eine Leuchte göttlicher Führung erstrahlte Er inmitten der Israeliten, und durch das Licht des Heils geleitete Er jenes verlorene Volk aus den Schatten der Unwissenheit zu Erkenntnis und Vollkommenheit. Er sammelte die zerstreuten Stämme Israels unter dem Schutz des einenden, alles umfassenden Wortes Gottes, und hisste über den Höhen der Vereinigung das Banner der Eintracht. Auf diese Weise erlangten jene unwissenden Menschen in kürzester Zeit geistige Erziehung; sie, denen die Wahrheit bisher fremd war, fanden sich im Glauben an die Einheit Gottes zusammen, wurden von ihrem Elend, ihrer Armut, ihrer Verständnislosigkeit und Knechtschaft erlöst und erreichten ein Höchstmaß an Ehre und Glück. Sie zogen aus Ägypten fort, machten sich auf nach ihrer ursprünglichen Heimat und kamen nach Kanaan und Philisterland. Zunächst eroberten sie die Ufer des Jordan und Jericho, dann siedelten sie sich in diesem Gebiet an, und schließlich gerieten alle Nachbarländer wie Phönizien, Edom und Ammon unter ihre Herrschaft. In der Zeit Josuas waren einunddreißig Länder in der Hand der Israeliten, und in jeder edlen menschlichen Eigenschaft – Gelehrsamkeit, Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Mut, Ehrenhaftigkeit, Freigiebigkeit- übertraf dieses Volk alle anderen auf der Erde. Wenn in jenen Tagen ein Israelit mit anderen Menschen zusammentraf, erkannten sie ihn sogleich an seinen vielen Tugenden, und sogar Angehörige fremder Völker sagten, wenn sie jemanden loben wollten, er sei wie ein Israelit.
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In zahlreichen Geschichtswerken wird darüber hinaus berichtet, dass die Philosophen Griechenlands wie etwa Pythagoras den größten Teil ihrer Philosophie – sowohl im geistigen wie im materiellen Sinn – von den Schülern Salomons übernahmen. Und Sokrates, der unermüdlich gereist war, um mit den berühmtesten Gelehrten und Geistlichen Israels zusammenzutreffen, entwickelte bei seiner Rückkehr nach Griechenland die Lehre von der Einheit Gottes und dem ewigen Leben der Menschenseele nach dem stofflichen Tode. Schließlich verklagten die Unwissenden unter den Griechen diesen Mann, der die tiefsten Geheimnisse der Weisheit ergründet hatte, und trachteten ihm nach dem Leben; dann nötigte der Pöbel die Herrscher, gegen Sokrates vorzugehen, und die Ratsversammlung verurteilte ihn dazu, den Giftbecher zu leeren.
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Nachdem die Israeliten auf allen Ebenen der Kultur Fortschritte gemacht und die denkbar größten Erfolge erzielt hatten, fingen sie allmählich an, die Grundprinzipien des mosaischen Gesetzes und ihres Glaubens außer Acht zu lassen, sich mit Riten und Zeremonien zu beschäftigen und ein ungebührliches Betragen an den Tag zu legen. In den Tagen von Rehoboam, dem Sohn Salomons, brach verheerende Zwietracht unter ihnen aus. Einer von ihnen, Jeroboam mit Namen, schmiedete Ränke, um den Thron an sich zu reißen, und er war es auch, der den Götzendienst einführte. Der Streit zwischen Rehoboam und Jeroboam führte zu jahrhundertelangen Fehden zwischen ihren Nachkommen und brachte es mit sich, dass die Stämme Israels zerstreut und aufgelöst wurden. Kurz, weil sie die Bedeutsamkeit des Gesetzes Gottes vergaßen, wurden sie auf tadelswerte Weise in dummen Fanatismus, Unruhen und Aufruhr verwickelt. Ihre Geistlichen kamen zu dem Schluss, dass all diese wesentlichen menschlichen Eigenschaften, die im Heiligen Buche dargelegt worden sind, nur noch tote Buchstaben seien; sie trachteten lediglich danach, ihre eigenen selbstsüchtigen Interessen zu verfolgen, und schädigten das Volk, indem sie es in die tiefsten Tiefen der Achtlosigkeit und Unwissenheit sinken ließen. Die Frucht all ihrer Untaten war, dass sich die Herrlichkeit der alten Zeiten, die so lange Bestand hatte, in Erniedrigung verwandelte und sie von den Herrschern Persiens, Griechenlands und Roms übermannt wurden. Die Banner ihrer Eigenstaatlichkeit wurden umgestoßen, und die Unwissenheit, Torheit, Würdelosigkeit und Eigenliebe ihrer religiösen Führer und Gelehrten kam ans Licht, als Nebukadnezar, der König von Babylon, erschien, der sie vernichtete. Nachdem er alles niedergemetzelt, ihre Häuser geplündert und zerstört und sogar ihre Bäume ausgerissen hatte, nahm Nebukadnezar alle gefangen, die noch übrig waren und die sein Schwert verschont hatte, und führte sie nach Babylon. Siebzig Jahre später wurden die Nachkommen dieser Gefangenen freigelassen und kehrten nach Jerusalem zurück. Hesekiel und Esra richteten unter ihnen die Grundsätze der Heiligen Schrift wieder auf; Tag für Tag machten die Israeliten Fortschritte, und der Morgenglanz der alten Zeit dämmerte wieder herauf. Nach kurzer Zeit jedoch kam es wieder zu Meinungsverschiedenheiten über Glaubenssätze und Lebensführung, und wieder hatten die jüdischen Gelehrten nur die eine Sorge, ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen. Die Reformen, welche die Zeit Esras bestimmten, verwandelten sich in Ausbeutung und Korruption. Die Lage verschlimmerte sich so sehr, dass die Heere der römischen Republik mehrere Male das Land Israel erobern konnten. Schließlich zertrat der kriegerische Titus als Befehlshaber der römischen Streitmacht die Heimat der Juden zu Staub. Alle Männer ließ er mit dem Schwert umbringen, Frauen und Kinder führte er als Gefangene fort; ihre Häuser ließ er dem Erdboden gleichmachen, ihre Bäume ausreißen, ihre Bücher verbrennen und ihre Schätze plündern. Jerusalem und der Tempel wurden in einen Aschenhaufen verwandelt. Nach diesem überwältigenden Unheil versank der Stern des Reiches Israel ins Nichts, und bis auf den heutigen Tag sind die Überreste dieses verschollenen Volkes in alle vier Winde verstreut. »Erniedrigung und Elend drückten auf sie nieder.«Qur’án 2:61.Q Auf diese beiden heftigsten Heimsuchungen, die Nebukadnezar und Titus herbeigeführt hatten, bezieht sich der ruhmreiche Qur’án, wenn gesagt ist: »Und feierlich erklärten Wir den Kindern Israels in dem Buche: ›Zweimal, wahrlich, sollt ihr Unheil stiften auf Erden, und mit großem Stolz und Hochmut werdet ihr euch erheben.‹ Und als die verheißene Drohung zum ersten Mal erfüllt werden sollte, sandten Wir Unsere Diener gegen euch aus: Leute von schrecklichem Mut. Und sie durchsuchten das Innerste eurer Wohnstätten, und erfüllt ward die Drohung … Als nun die Strafe für eure späteren Sünden vollzogen werden sollte, sandten Wir euch einen Feind, eure Gesichter traurig zu stimmen und in euren Tempel einzudringen wie beim ersten Mal und zu zerstören und zu vernichten, was er eroberte.«Qur’án 17:4–5, 17:7.Q
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Unsere Absicht ist zu zeigen, wie wahre Religion Kultur und Würde, Wohlstand und Ansehen, Bildung und Fortschritt eines vormals elenden, unwissenden und versklavten Volkes fördert und wie der Gottesglauben, wenn er törichten, fanatischen Religionsführern in die Hände fällt, auf schlimme Art missbraucht wird, bis sich diese höchste Pracht in schwarzes Dunkel verwandelt.
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Als zum zweiten Mal die unmissverständlichen Zeichen für Israels Zerfall, Erniedrigung, Unterjochung und Vernichtung zu erkennen waren, da erfüllte der liebliche und heilige Odem des Geistes Gottes (Jesus) das Tal des Jordan und das Land Galiläa; die Wolken göttlichen Erbarmens überzogen jene Himmelsstriche und ergossen in Fülle über sie die Wasser des Geistes. Und nach den anschwellenden Regenschauern, die dem Größten Meer entströmten, entfaltete das Heilige Land seinen Duft und erblühte in der Erkenntnis Gottes. Die Hymnen des Evangeliums erklangen und stiegen auf bis zu den Bewohnern der Himmelsgemächer, und die achtlosen Toten, die in den Gräbern ihrer Unwissenheit lagen, erhoben ihre Häupter, um ewiges Leben zu empfangen, wenn sie mit dem Odem Jesu in Berührung kamen. Drei Jahre lang wandelte diese Leuchte der Vollkommenheiten vor den Toren Jerusalems über die Felder Palästinas, führte alle Menschen in das Morgenlicht der Erlösung und lehrte sie, geistige Eigenschaften und gottgefällige Tugenden zu erlangen. Hätte das Volk Israel an dieses herrliche Wesen geglaubt, so hätte es sich aufgemacht, Ihm mit Leib und Seele zu dienen und gehorsam zu sein; durch den belebenden Hauch Seines Geistes hätte das Volk seine alte Schwungkraft wiedererlangt und neue Siege errungen.
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Aber ach! Was nutzte dies alles? Sie wandten sich ab und widersetzten sich Ihm. Alle erhoben sich, um Ihn zu quälen, Ihn, der die Quelle göttlicher Erkenntnis, der Dämmerort der Offenbarung war, alle außer einer Handvoll Gläubiger, die ihr Antlitz Gott zuwandten und vom Makel dieser Welt gereinigt den Weg zu den Höhen des unsichtbaren Königreiches fanden. Jede nur denkbare Qual fügte man jenem Brunnquell der Gnade zu, bis es Ihm unmöglich wurde, in den Städten zu weilen, aber dennoch hielt Er das Banner des Heils empor und schuf feste Grundlagen für menschliche Rechtschaffenheit, diese wesentliche Voraussetzung wahrer Kultur.
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Im fünften Kapitel Matthäi, Vers 39, rät Er: »Ihr sollt dem Bösen und dem Unrecht nicht mit gleichen Mitteln entgegentreten; sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin. « Und weiterhin im 43. Vers: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ›Lieben sollst du deinen Nächsten, und deinen Feind sollst du nicht mit Feindschaft quälen.‹In der Luther-Bibel heißt es: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.« Gegen diese Lesart wenden die Gelehrten ein, dass sie dem bekannten Gesetzestext zuwiderläuft, wie er in Lev. 19:18, Ex. 23:4–5, Spr. 25:21, im Talmud usw. dargestellt ist.A Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr die Kinder eures Vaters im Himmel seid; denn Er lässt Seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und sendet den Regen seiner Gnade hernieder auf Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebet, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr da? Tun das nicht auch die Zöllner?«
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Zahllos waren Ratschläge dieser Art, die jener Tagesanbruch göttlicher Weisheit verkündete, und Menschen, die sich durch solche Eigenschaften der Heiligkeit auszeichnen, sind die reinen Wesen der Schöpfung und die Quellen wahrer Kultur.
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Jesus begründete sodann das heilige Gesetz auf der Grundlage sittlicher Charakterstärke und völliger Vergeistigung, und für jene, die an Ihn glaubten, zeigte Er eine besondere Lebensweise auf, welche die höchste Verhaltensart auf Erden darstellt. Obwohl jene Wahrzeichen der Erlösung äußerlich der böswilligen Verfolgung ihrer Peiniger ausgeliefert schienen, waren sie in Wirklichkeit von dem hoffnungslosen Dunkel befreit, das die Juden umfangen hatte, und erstrahlten in immerwährender Herrlichkeit am Morgen dieses neuen Tages.
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Die mächtige Nation der Juden stürzte und zerfiel, aber jene wenigen Seelen, die unter dem Baum der messianischen Sendung Schutz suchten, gestalteten alles menschliche Leben neu. Alle Völker der Welt waren damals äußerst unwissend, fanatisch und götzendienerisch. Nur eine Handvoll Juden bekannte sich zum Glauben an die Einheit Gottes, und sie waren armselige Ausgestoßene. Diese heiligen Seelen der Christenheit erhoben sich nun, um eine Sache zu verkünden, die den Anschauungen der gesamten Menschheit völlig entgegengesetzt und zuwider war. Die Herrscher in vieren der fünf Erdteile fassten den unerbittlichen Entschluss, die Anhänger Christi völlig zu vernichten, und dennoch schickten sich schließlich die meisten von ihnen an, den Glauben Gottes mit ganzem Herzen zu verbreiten. Alle Nationen Europas, zahlreiche Völker Asiens und Afrikas und sogar einige Einwohner der pazifischen Inseln versammelten sich unter dem Schutz der Einheit Gottes.
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Überleget, ob es in der Schöpfung ein Prinzip gibt, das in irgendeiner Hinsicht machtvoller ist als die Religion, ob eine Kraft gedacht werden kann, die durchdringender ist als die vielfältigen göttlichen Offenbarungen, ob irgendeine Institution wahre Liebe, Freundschaft und Einheit zwischen allen Völkern hervorbringt, wie es der Glaube an einen allmächtigen und allwissenden Gott vermag, oder ob es außer den Gesetzen Gottes Beweise für eine Wirkkraft gibt, die für die Erziehung der ganzen Menschheit auf jeder Stufe rechtschaffener Lebensführung von Bedeutung ist!
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Diese Eigenschaften, die die Philosophen erlangten, wenn sie die wahren Höhen ihrer Weisheit erreicht hatten, diese edlen menschlichen Eigenschaften, wie sie jene Philosophen auf dem Gipfel ihrer Vollkommenheit auszeichneten, wurden von den Gläubigen verwirklicht, sobald sie den Glauben angenommen hatten. Seht, wie jene Seelen, die die lebenspendenden Wasser der Erlösung aus den huldvollen Händen Jesu, des Geistes Gottes, tranken und unter den schützenden Schatten des Evangeliums traten, eine solch hohe Stufe sittlicher Lebensführung erreichten, dass Galen, der berühmte Arzt, in seinem Abriss über Platos Republik ihre Taten pries, obwohl er selbst kein Christ war. Die wörtliche Übersetzung lautet wie folgt:
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»Die Masse der Menschheit ist nicht fähig, eine Folge logischer Argumente aufzunehmen. Deshalb bedarf es der Symbole und Gleichnisse, die von Belohnung und Bestrafung in der nächsten Welt sprechen. Der Beweis für diese Einsicht ist, dass es heute Leute gibt, die ›Christen‹ genannt werden, und bei denen der Glaube an Lohn und Strafe in einem künftigen Leben tief verwurzelt ist. Diese Gruppe weist ein hervorragendes Verhalten auf, ähnlich demjenigen eines Menschen, der ein wahrer Philosoph ist. So sehen wir alle mit unseren eigenen Augen, dass sie keine Furcht vor dem Tode haben, und ihre leidenschaftliche Liebe zu Gerechtigkeit und Ehrlichkeit ist so groß, dass man sie als wahre Philosophen ansehen sollte.«Vgl. ‘Abdu’l-Bahá, Beantwortete Fragen, Kap. 84, sowie seine Ansprache vom 6.11.1912 in Washington, D. C., wiedergegeben in The Promulgation of Universal Peace 118:3, Chicago 1925, S. 385; ferner Richard Walzer, Galen on Jews and Christians, Oxford University Press, 1949, S. 15. Der Verfasser stellt fest, dass Galens Abriss, der hier angeführt wird, verschollen und nur in arabischen Zitaten erhalten geblieben ist.A
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Zu jener Zeit und in den Augen Galens war die Stufe eines Philosophen allen anderen Stufen in der Welt übergeordnet. Bedenkt also, wie die erleuchtende und vergeistigende Kraft der göttlichen Religionen die Gläubigen zu solchen Höhen der Vollkommenheit emporführt, dass ein Philosoph wie Galen, der selbst kein Christ ist, ein derartiges Zeugnis ablegt.
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Der hervorragende Charakter der Christen zeigte sich auch darin, dass sie sich wohltätigen und guten Werken widmeten und Krankenhäuser und gemeinnützige Einrichtungen schufen. So war der erste, der im ganzen römischen Reich öffentliche Krankenhäuser für die ärztliche Pflege der Armen, Verwundeten und Hilfsbedürftigen einrichtete, Kaiser Konstantin. Dieser große König war der erste römische Herrscher, der für die Sache Christi eintrat. Er scheute keine Mühe und weihte sein Leben der Verbreitung der Lehren des Evangeliums. Das römische Staatswesen, das in Wirklichkeit nur ein System uneingeschränkter Unterdrückung war, gründete er auf Mäßigung und Gerechtigkeit. Sein gesegneter Name erstrahlt aus dem Dunkel der Geschichte wie der Morgenstern, und sein Ansehen und Ruhm als einer der edelsten und kultiviertesten Persönlichkeiten ist heute noch im Munde von Christen aller Konfessionen.
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Welch feste Grundlage für hervorragende Charaktereigenschaften wurde doch dank der Ausbildung hehrer Seelen, die sich aufmachten, die Lehren des Evangeliums zu verbreiten, in jenen Tagen gelegt! Wie viele Grundschulen, Hochschulen und Krankenhäuser wurden geschaffen wie auch Einrichtungen, in denen elternlose und bedürftige Kinder erzogen wurden! Wie zahlreich waren die Menschen, die ihren persönlichen Vorteil hintanstellten und »aus dem Verlangen, dem Herrn zu gefallen«Qur’án 4:114, 2:207 usw.Q die Tage ihres Lebens damit verbrachten, die Massen zu lehren!
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Als nun die Zeit herannahte, in der die strahlende Schönheit Muḥammads über der Welt aufgehen sollte, fiel die Macht über die Christenheit unwissenden Priestern in die Hände. Der himmlische Hauch, der aus den Gefilden göttlicher Gnade strömte, verflog, und die Gesetze des erhabenen Evangeliums, der Felsgrund, auf dem die Kultur der Welt ruhte, zeitigten keine Erfolge mehr, weil sie missbraucht wurden und weil gewisse Menschen, äußerlich anständig, innerlich jedoch verdorben, gegen sie verstießen.
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Europäische Geschichtsforscher von Rang und Namen berichten übereinstimmend, wenn sie die politischen und sittlichen Zustände, die Bildung und die Kultur des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit in allen ihren Aspekten schildern, dass während der zehn Jahrhunderte des Mittelalters, vom Beginn des sechsten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung bis zum Ende des fünfzehnten, Europa in jeder Hinsicht und in höchstem Maße finster und barbarisch war. Der wichtigste Grund ist folgender: Die Mönche, von den europäischen Völkern als geistige und religiöse Führer angesehen, hatten die ewige Ehre, die von der Befolgung der heiligen Gebote und der himmlischen Lehren des Evangeliums herrührt, aufgegeben und mit den vermessenen, tyrannischen Oberhäuptern der weltlichen Regierungen jener Zeit gemeinsame Sache gemacht. Ihre Augen hatten sie von der unvergänglichen Herrlichkeit abgewendet und all ihr Streben darauf gerichtet, ihren gemeinsamen weltlichen Interessen und vergänglichen, kurzlebigen Vorteilen nachzugehen. Schließlich kam es so weit, dass die Massen hilflose Gefangene in den Händen dieser beiden Gruppen waren und dadurch das ganze Gefüge der Religion, Kultur, Wohlfahrt und Zivilisation der Völker Europas zusammenbrach.
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Als dieses würdelose Tun und Denken und die unehrenhaften Vorhaben der Anführer die süßen Düfte des Geistes Gottes (Jesu) schwächten und diese nicht mehr über die Welt strömten, und als die Finsternis bigotter Unwissenheit und gottloser Taten die Erde umfangen hielt, da leuchtete das Morgenlicht der Hoffnung wieder auf, und der göttliche Frühling kehrte zurück; eine Wolke von Barmherzigkeit breitete sich über die Welt aus, und aus den Gefilden der Gnade wehten fruchtbare Winde. Im Zeichen Muḥammads erhob sich die Sonne der Wahrheit über Yathrib (Medina) und dem Ḥijáz; über das ganze Weltall ergoss sie das Licht ewiger Herrlichkeit. Dies verwandelte die Erde menschlicher Möglichkeiten, und die Worte: »Die Erde wird leuchten mit dem Lichte ihres Herrn«Qur’án 39:69.Q waren erfüllt. Die alte Welt wurde wieder neu, und ihr toter Körper erwachte zu reichem Leben. Tyrannei und Unwissenheit wurden überwunden, und hoch ragten die Paläste der Erkenntnis und Gerechtigkeit empor, die an ihrer statt errichtet wurden. Ein Meer von Erleuchtung brandete heran, und die Wissenschaft goss ihre Strahlen über alle Lande. Bevor die Flamme höchsten Prophetentums in der Lampe von Mekka entzündet wurde, waren die wilden Stämme des Ḥijáz das grausamste und gottloseste Volk auf Erden. In allen Geschichtswerken sind ihre entartete, lasterhafte Lebensführung, ihre Wildheit und ihre ständigen Fehden aufgezeichnet. Damals betrachteten die zivilisierten Völker der Welt die arabischen Stämme von Mekka und Medina nicht einmal als menschliche Wesen. Als aber das Licht der Welt über ihnen erstrahlte, wurden sie – durch die Erziehung, die ihnen aus dieser Schatzgrube an Vollkommenheiten, diesem Brennpunkt der Offenbarung, zuteilwurde, und durch die Segnungen des göttlichen Gesetzes – innerhalb kürzester Frist unter dem Schutze des Prinzips der Einheit Gottes vereinigt. Später erlangte dieses grausame Volk eine so hohe Stufe menschlicher Vollkommenheit und Zivilisation, dass alle Zeitgenossen darüber staunten. Dieselben Völker, die bisher die Araber als Brut ohne Urteilsvermögen verspottet hatten, suchten nun eifrig die Gesellschaft der Araber und bereisten ihre Länder, um Bildung und Kultur, technische Fertigkeiten und Staatsführung, Künste und Wissenschaften von ihnen zu übernehmen.
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Seht, welcher Einfluss auf die materiellen Verhältnisse von der Bildung durch den wahren Erzieher ausgeht! Hier waren Stämme, so unwissend und wild, dass sie in der Zeit der Jáhilíyyih ihre siebenjährigen Töchter lebendig begruben – eine Tat, die selbst ein Tier, geschweige denn ein menschliches Wesen, verabscheut und vor der es zurückschrecken würde, die aber jene äußerst entarteten Stämme als den höchsten Ausdruck der Ehrbarkeit und Sittentreue ansahen. Dank der klaren Lehren jener großen Persönlichkeit entwickelte sich dieses barbarische Volk in solchem Maße, dass es zunächst Ägypten, Syrien und dessen Hauptstadt Damaskus, Chaldäa, das Zweistromland und Írán eroberte und dann so weit kam, dass es jedes wichtige Problem in vier Hauptregionen des Erdballs aus eigener Kraft lösen konnte.
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Die Araber übertrafen damals alle Völker der Welt auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft, Gewerbe und Erfindungen, der Philosophie, Staatsführung und Gesittung. Und wahrlich, der Aufstieg dieser grausamen, verachtenswerten Horden zur höchsten Stufe menschlicher Vollkommenheit in einer so kurzen Zeitspanne ist der größte Beweis für die Wahrheit der Offenbarung Muḥammads.
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In der Frühzeit des Islám übernahmen die Völker Europas die Wissenschaften und Künste der Zivilisation vom Islám, so wie sie die Einwohner Andalusiens anwandten. Eine genaue, eingehende Untersuchung der geschichtlichen Aufzeichnungen wird die Tatsache bekräftigen, dass die Zivilisation Europas auf den Islám zurückgeht; denn alle Schriften der muslimischen Gelehrten, Theologen und Philosophen wurden nach und nach in Europa gesammelt, mit emsiger Sorgfalt geprüft, in akademischen Versammlungen und in Bildungszentren diskutiert, worauf das, was als wertvoll erachtet wurde, Verwendung fand. Heute sind zahlreiche Abschriften von Werken muslimischer Gelehrter, die in den islámischen Ländern nicht mehr zu finden sind, in den Bibliotheken Europas verfügbar. Auch die in allen europäischen Ländern geltenden Gesetze und Rechtsgrundsätze sind in beträchtlichem Maße, ja nahezu vollständig von den Werken der Rechtswissenschaft und von Gerichtsentscheidungen muslimischer Geistlicher hergeleitet. Wäre nicht zu befürchten, dass sich die vorliegende Abhandlung übermäßig in die Länge zieht, würden wir solche Entlehnungen eine nach der anderen aufführen.
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Die Anfänge der europäischen Zivilisation gehen auf das siebte Jahrhundert islámischer Zeitrechnung zurück. Die näheren Umstände waren folgende: Gegen Ende des fünften Jahrhunderts nach der Hijrah erhob der Papst, das Oberhaupt der Christenheit, ein großes Gezeter darüber, dass die heiligen Stätten der Christen wie Jerusalem, Bethlehem und Nazareth unter muslimische Herrschaft gefallen waren. Er stachelte die Könige und das Volk Europas zu einem Vorhaben an, das er als heiligen Krieg ansah. Sein leidenschaftlicher Schrei der Empörung schwoll so an, dass alle Länder Europas darauf reagierten, und an der Spitze zahlloser Heerscharen zogen kreuzfahrende Könige über das Marmarameer und bahnten sich ihren Weg in den asiatischen Kontinent. Damals herrschten die Khalífen aus dem Haus der Fáṭimiden über Ägypten und einige Länder im Westen der arabischen Welt, und sehr lange waren ihnen auch die Seldschuken, die Könige Syriens, untertan. Kurz, die Könige des Westens fielen mit ihren unzähligen Truppen in Syrien und Ägypten ein, und während einer Zeitspanne von 203 Jahren führten die Herrscher Syriens und Europas ununterbrochen gegeneinander Krieg. Fortgesetzt kam Verstärkung aus Europa herüber; immer wieder stürmten und bezwangen die westlichen Herrscher jede Burg in Syrien, aber ebenso oft warfen die islámischen Könige sie wieder hinaus. Schließlich vertrieb Saladin im Jahr 693 n.d.H. die europäischen Könige und ihre Heere aus Ägypten und von der syrischen Küste. Hoffnungslos geschlagen, kehrten sie nach Europa zurück. Millionen Menschen kamen im Verlauf dieser Kreuzzüge ums Leben. Zusammenfassend kann man sagen, dass zwischen 490 und 693 n.d.H. Könige, Feldherren und andere Führer Europas sich ständig zwischen Ägypten, Syrien und dem Westen hin und her bewegten, und als sie schließlich alle in ihre Heimat zurückkehrten, verbreiteten sie in Europa, was sie im Laufe von über 200 Jahren in den islámischen Ländern auf den Gebieten der Staatskunst, der sozialen Entwicklung und Bildung, des Schulwesens und der Verfeinerung des Lebens kennengelernt hatten. Die Zivilisation Europas geht auf diese Zeit zurück.
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