‘Abdu’l-Bahá | Geheimnis göttlicher Kultur
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O Volk Persiens! Erwache aus deiner Schlaftrunkenheit! Erhebe dich aus deiner Stumpfheit! Sei gerecht in deinem Urteil: Lässt es das Gebot der Ehre zu, dass dieses geheiligte Land, einst der Ursprung der Weltkultur, die Quelle von Ruhm und Glück für die ganze Menschheit, beneidet von Ost und West, weiterhin bemitleidet wird, beklagt von allen Nationen? Die Perser waren einst das edelste Volk; wollt ihr es zulassen, dass die Zeitgeschichte für künftige Geschlechter seine heutige Erniedrigung festhält? Wollt ihr selbstzufrieden das gegenwärtige Elend Persiens hinnehmen, wo dieses Land doch einstmals die Sehnsucht der ganzen Menschheit war? Soll man dieses Land wegen seiner verachtenswerten Trägheit, seiner mangelnden Kampfbereitschaft und völligen Unwissenheit zur rückständigsten aller Nationen erklären?
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War nicht in vergangenen Zeiten das persische Volk an Verstand und Weisheit unübertroffen? Strahlte es nicht durch Gottes Gnade wie der Morgenstern vom Horizont göttlicher Erkenntnis? Wie kommt es, dass wir uns heute mit diesem elenden Zustand zufriedengeben, völlig verstrickt in unseren zügellosen Leidenschaften, blind für die höchste Glückseligkeit, für das, was Gott wohlgefällt, und uns allein mit unseren selbstischen Interessen befassen, ständig auf der Jagd nach unrühmlichen, persönlichen Vorteilen?
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Dieses schönste aller Länder war einst ein Leuchtfeuer, das die Strahlen göttlicher Erkenntnis, der Kunst und Wissenschaft, des Edelsinns und höchster Errungenschaften, der Weisheit und des Heldenmuts über die Welt ergoss. Heute ist sein glückliches Schicksal wegen der Trägheit und Lethargie seines Volkes, wegen seiner Antriebslosigkeit und undisziplinierten Lebensweise, seinem Mangel an Selbstachtung und fehlendem Ehrgeiz völlig in den Hintergrund getreten, ist dieses Licht der Finsternis gewichen. »Die sieben Himmel und die sieben Welten weinen über den Mächtigen, wenn er zu Fall gekommen ist.«
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Niemand sollte glauben, das persische Volk verfüge von Natur aus nicht über ausreichende Intelligenz, es sei an grundlegender Auffassungsgabe und an Verständnis, angeborenem Scharfsinn, Intuition und Weisheit oder natürlicher Begabung anderen Völkern unterlegen. Gott bewahre! Ganz im Gegenteil haben die Perser immer alle anderen Völker an ihnen durch Geburt verliehene Fähigkeiten übertroffen. Hinzu kommt, dass das Land selbst durch sein gemäßigtes Klima und seine Naturschönheiten, seine geographischen Vorzüge und seine Bodenschätze in höchstem Maße gesegnet ist. Was dieses Land jedoch dringend benötigt, sind tiefes Nachdenken, entschlossenes Handeln, Bildung, Inspiration und Ermutigung. Das Volk muss sich gewaltig anstrengen, sein Stolz muss geweckt werden.
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Unter den fünf Kontinenten des Erdballs sind heute Europa und weite Teile Amerikas für Gesetz und Ordnung, Staatskunst und Handel, Künste und Gewerbe, Wissenschaft, Philosophie und Erziehungswesen bekannt. In alten Zeiten jedoch waren dies die wildesten, unwissendsten und grausamsten Völker der Welt; sie wurden sogar als Barbaren, das heißt als völlig roh und unkultiviert, gebrandmarkt. Überdies herrschten vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert nach Christi Geburt, in der Zeit, die man das Mittelalter nennt, unter den Völkern Europas solch schlimme Kampfhandlungen und schwere Unruhen, so grausame Auseinandersetzungen und Schreckenstaten vor, dass die Europäer diese zehn Jahrhunderte mit Recht als das finstere Mittelalter beschreiben. Die Grundlage für Fortschritt und Zivilisation in Europa wurde tatsächlich erst im 15. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gelegt; und von dieser Zeit an befindet sich die gesamte heute offensichtliche Kultur Europas in einem Entwicklungsprozess, der unter dem Einfluss großer Geister steht; und die Folge davon ist, dass die Wissensgrenzen erweitert und zielstrebige, ehrgeizige Anstrengungen unternommen wurden.
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Durch Gottes Gnade und den geistigen Einfluss Seiner universalen Manifestation hat derzeit der redliche Herrscher des Írán sein Volk unter dem Schutzschild der Gerechtigkeit versammelt, und die Aufrichtigkeit des kaiserlichen Vorsatzes hat sich in hoheitlichen Maßnahmen gezeigt. In der Hoffnung, seine Herrschaft werde mit der ruhmreichen Vergangenheit wetteifern können, bemühte er sich, Gerechtigkeit und Rechtlichkeit zu begründen, überall in diesem edlen Land die Bildung und den Zivilisationsprozess zu fördern und alles, was seinen Fortschritt sichern wird, von der Möglichkeit in die Wirklichkeit umzusetzen. Bislang haben wir noch keinen Monarchen gesehen, der die Zügel der Staatsangelegenheiten in so fähigen Händen hält, von dessen hoher Entschlusskraft die Wohlfahrt aller seiner Untertanen abhängt, der, wie es ihm zukommt, als ein gütiger Vater seine Bemühungen auf die Bildung und Kultivierung seines Volkes lenkt, der den Wohlstand und den Seelenfrieden seiner Untertanen zu sichern sucht und ihren Interessen die gebührende Aufmerksamkeit bekundet; dieser Diener und Ihm Gleichgesinnte haben deshalb bislang geschwiegen. Nunmehr ist es für Menschen mit Scharfsinn offenkundig, dass sich der Sháh aus eigenem Antrieb entschlossen hat, eine gerechte Regierung aufzubauen und den Fortschritt aller seiner Untertanen zu sichern. Seine ehrenwerte Absicht hat den Anlass zu der vorliegenden Abhandlung gegeben.
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Es ist in der Tat seltsam, wie manche, statt dankbar für diesen Segen zu sein, der wahrhaft von der Gnade Gottes, des Allmächtigen, herrührt, indem sie sich wie ein Mann erheben und dafür beten, dass sich diese edlen Vorsätze täglich vervielfachen mögen – wie manche, deren Verstand durch persönliche Beweggründe beeinträchtigt und deren Wahrnehmungsvermögen von Selbstsucht und Eitelkeit umwölkt ist, deren Lebenskräfte sich dem Dienst an ihren Leidenschaften verschrieben haben, deren Ehrgefühl sich in Liebe zu Führerschaft verwandelt hat, wie solche Menschen das Banner des Widerstands aufpflanzen und sich in lauten Klagen ergehen. Bis jetzt haben sie den Sháh getadelt, weil er sich nicht aus eigenem Antrieb für das Wohlergehen seines Volkes einsetzte und ihm nicht Frieden und Wohlstand zu bringen suchte. Nun, da er diesen großen Plan gefasst hat, schlagen sie einen anderen Ton an. Einige sagen, dies seien neumodische Methoden und fremde Ismen, die in keinerlei Beziehung zu den gegenwärtigen Bedürfnissen und den altehrwürdigen Sitten Persiens stünden. Andere scharen die hilflosen Massen um sich, die nichts von Religion oder deren Gesetzen und Grundsätzen verstehen und deshalb kein Unterscheidungsvermögen besitzen, und reden ihnen ein, diese modernen Methoden seien heidnische Praktiken und stünden im Widerspruch zu den verehrten Lehren des wahren Glaubens; dem fügen sie hinzu: »Wer ein Volk nachahmt, gehört ihm an«. Eine Gruppe von ihnen besteht darauf, die Reformen müssten mit größter Behutsamkeit, Schritt für Schritt, vorangetrieben werden; jede Übereilung sei unzulässig. Andere beharren darauf, nur solche Maßnahmen, die die Perser selbst ausgedacht haben, dürften übernommen werden; sie selbst sollten ihre politische Verwaltung, ihr Bildungssystem und ihren Kulturzustand reformieren und es gebe keine Notwendigkeit, Verbesserungen von anderen Nationen zu entlehnen. Kurz, jede Gruppe folgt ihrer eigenen besonderen Vorstellung.
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O Volk Persiens! Wie lange wollt ihr noch umherirren? Wie lange muss eure Verwirrung noch fortdauern? Wie lange soll es mit diesen Meinungsverschiedenheiten, diesem nutzlosen Widerstreit, dieser Unwissenheit, dieser Denkverweigerung noch weitergehen? Andere sind hellwach, und wir schlafen unseren traumlosen Schlaf. Andere Nationen unternehmen jede Anstrengung, um ihre Verhältnisse zu verbessern; wir sind in unseren Leidenschaften und in unserer Selbstgefälligkeit gefangen und stolpern mit jedem Schritt in eine neue Falle.
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Gott ist unser Zeuge, dass wir keinen Hintergedanken haben, wenn wir dieses Thema aufgreifen. Weder suchen wir uns bei irgendjemandem einzuschmeicheln oder jemanden an uns zu ziehen, noch erwarten wir irgendwelchen materiellen Gewinn daraus. Wir sprechen nur als einer, der ernsthaft das Wohlgefallen Gottes sucht, denn wir haben unseren Blick von der Welt und ihren Völkern abgewandt und in der schützenden Obhut des Herrn Zuflucht gesucht. »Nicht verlange ich von euch einen Lohn hierfür … Mein Lohn ist bei Gott allein.«Qur’án 6:90 und 11:29.Q
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Jene, die behaupten, dass diese modernen Konzepte nur für andere Länder gelten und für den Írán bedeutungslos seien, dass sie seine Bedürfnisse nicht befriedigten und nicht zu seiner Lebensart passten, jene Leute übersehen die Tatsache, dass andere Nationen einst genauso waren, wie wir heute sind. Haben diese neuen Systeme und Verfahren, diese fortschrittlichen Vorhaben nicht zur Entwicklung jener Länder beigetragen? Hat es den Menschen in Europa geschadet, dass sie solche Maßnahmen ergriffen? Haben sie nicht vielmehr dadurch die höchste Stufe materieller Entwicklung erlangt? Stimmt es etwa nicht, dass das persische Volk Jahrhunderte lang so gelebt hat, wie wir es heute nach vergangenen Verhaltensmustern leben sehen? Hat dies zu irgendeinem erkennbaren Nutzen geführt? Sind irgendwelche Fortschritte gemacht worden? Wenn diese Fragen nicht durch Erfahrung geprüft worden wären, könnten Zeitgenossen, in deren Köpfen das Licht natürlicher Intelligenz umwölkt ist, sie leichtfertig in Frage stellen. In anderen Ländern dagegen sind alle Aspekte der erforderlichen Voraussetzungen für den Fortschritt immer wieder überprüft worden; ihr Nutzen ist dort so klar bewiesen worden, dass ihn der trübste Verstand erfassen kann.
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Lasst uns gerecht und unvoreingenommen darüber nachdenken! Lasst uns die Frage stellen, welcher dieser Grundsätze und dieser gesunden, gut bewährten Verfahrensweisen könnte unseren gegenwärtigen Nöten nicht abhelfen oder widerspräche den besten politischen Interessen Persiens oder schadete dem allgemeinen Wohl des Volkes. Wäre es von Nachteil, das Bildungswesen zu erweitern, nützliche Künste und Wissenschaften zu entwickeln, Industrie und Technik zu fördern? Solche Bemühungen heben doch den einzelnen Menschen inmitten der Masse empor und führen ihn aus den Tiefen der Unwissenheit zu den Gipfeln der Erkenntnis und der Vortrefflichkeit. Würde die Einführung einer gerechten Gesetzgebung im Einklang mit den göttlichen Gesetzen, die das Glück der Gesellschaft sichern, die Menschenrechte schützen und einen unüberwindlicher Schutz vor Gewalttaten bilden – würden solche Gesetze, die für die Unversehrtheit der Mitglieder der Gesellschaft und für ihre Gleichheit vor dem Gesetz Gewähr bieten, ihr Wohlergehen und ihren Erfolg beeinträchtigen?
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Wenn man durch die Nutzung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit Vergleiche zwischen den gegenwärtigen Verhältnissen und den durch Kollektiverfahrung gebildeten Schlussfolgerungen ziehen kann, wenn man dadurch Gegebenheiten, die heute erst als Möglichkeit vorhanden sind, als künftige Wirklichkeiten vorausschauen kann, wäre es dann unvernünftig, heute Maßnahmen zu ergreifen, die unsere künftige Sicherheit garantieren? Erscheint es kurzsichtig, unvorsichtig oder bedenklich, ist es eine Abkehr von dem, was recht und billig ist, wenn wir unsere Beziehungen zu Nachbarländern festigen, bindende Verträge mit den Großmächten eingehen, Freundschaft mit friedliebenden Regierungen pflegen, die Handelsbeziehungen mit den Nationen in Ost und West erweitern, unsere Bodenschätze erschließen und den Reichtum unseres Volkes mehren?
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Würde es für unsere Untertanen Verderben bedeuten, wenn die Provinz- und Bezirksgouverneure ihrer heutzutage absoluten Macht entbunden würden, durch die sie schalten und walten, wie es ihnen passt, wenn sie statt dessen auf Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit verpflichtet würden, wenn Todesurteile und Kerkerstrafen, die sie verhängen, der Bestätigung durch den Sháh und durch übergeordnete Gerichte in der Hauptstadt unterworfen würden, die den Fall zuvor gründlich prüfen, Art und Ausmaß des Verbrechens bestimmen und dann eine gerechtes Urteil abgeben müssten, vorbehaltlich der Erteilung eines Dekrets durch den Herrscher? Wenn Bestechung und Korruption, heute unter den wohlklingenden Namen Geschenke und Vergünstigungen bekannt, für alle Zeit ausgeschlossen sein würden, wäre das eine Bedrohung für die Grundmauern der Gerechtigkeit? Wäre es ein Zeichen krankhafter Denkweise, Soldaten, die doch lebendige Opfer für Volk und Staat sind, ständig bereit, dem Tod ins Auge zu schauen, aus ihrer heutzutage unvorstellbaren Not und Armut zu befreien, angemessene Vorkehrungen für ihre Ernährung, Kleidung und Unterbringung zu treffen und keine Mühe zu scheuen, ihre Offiziere in der Militärausbildung zu unterweisen und die Armee mit den modernsten Arten von Gewehren und anderen Waffen auszustatten?
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Wollte jemand einwenden, solche Reformen seien noch nie völlig durchgesetzt worden, dann müsste er dieser Frage unvoreingenommen nachgehen und feststellen, dass diese Schwachpunkte auf dem völligen Fehlen einer einheitlichen öffentlichen Meinung sowie auf dem Mangel an Einsatzbereitschaft, Entschlossenheit und Hingabe bei den Führern des Landes beruhen. Offensichtlich kann das Land nicht in angemessener Weise verwaltet werden, bevor das Volk erzogen und die öffentliche Meinung auf das Wesentliche richtig fokussiert ist, bevor Regierungsbeamte, selbst der unteren Grade, frei von den geringsten Spuren von Korruption sind. Erst wenn Disziplin, Ordnung und gute Regierungsführung eine Stufe erreichen, auf der es einem Bürger auch mit äußerster Anstrengung nicht gelänge, um Haaresbreite vom Pfade der Rechtschaffenheit abzuweichen – erst dann können die gewünschten Reformen als vollständig durchgeführt betrachtet werden.
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Überdies kann jede Einrichtung, auch wenn sie dem höchsten Wohl der Menschheit dient, missbraucht werden. Ihr richtiger oder falscher Gebrauch hängt davon ab, wie unterschiedlich stark Aufklärung, Fähigkeit, Glaube, Redlichkeit, Hingabe und edle Gesinnung bei den Führern der öffentlichen Meinung ausgeprägt sind.
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Der Sháh hat seinen Teil getan; die Ausführung der nützlichen Maßnahmen, die vorgeschlagen wurden, ist nun in die Hände derjenigen Personen gelegt, die in den Beratungsgremien arbeiten. Wenn diese Menschen sich als unbescholten und edelmütig erweisen, wenn sie sich vom Makel der Korruption freihalten, werden die Bestätigungen Gottes sie zu einer nie versiegenden Quelle des Segens für die Menschheit machen. Gott wird ihren Lippen und ihren Federn entströmen lassen, was dem ganzen Volk zum Segen gereicht, so dass jeder Winkel des edlen Írán von ihrer Gerechtigkeit und Redlichkeit erleuchtet wird und die Strahlen dieses Lichts die ganze Erde erfassen werden. »Dies wird Gott kein Schweres sein. «Qur’án 14:20 und 35:17.Q
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Andernfalls ist es klar, dass die Ergebnisse sich als nicht hinnehmbar erweisen werden, hat es sich doch in bestimmten fremden Ländern gezeigt, dass nach der Einführung von Parlamenten das Volk in Wirklichkeit entmutigt und verwirrt wurde und dass selbst gutgemeinte Reformen schlechte Wirkungen zur Folge hatten. Die Errichtung von Parlamenten, der Aufbau beratender Körperschaften ist in Wahrheit die Grundlage der Staatsführung; solche Einrichtungen müssen jedoch eine Reihe wesentlicher Anforderungen erfüllen. Erstens müssen ihre gewählten Mitglieder rechtschaffen, gottesfürchtig, edelgesinnt und unbestechlich sein. Zum anderen müssen sie die Gesetze Gottes in allen Einzelheiten kennen; sie müssen auch über die wichtigsten Rechtsgrundsätze Bescheid wissen, in den Regeln, die für den Umgang mit inneren Angelegenheiten und mit auswärtigen Beziehungen gelten, erfahren und in den nutzbringenden Künsten der Zivilisation geschult sein. Schließlich müssen sie sich mit ihren rechtmäßigen Einkünften zufrieden geben.
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Man sollte nicht glauben, dass es Menschen dieser Art nicht gäbe. Durch Gottes Gnade und Seine Erwählten, durch große Anstrengungen hingebungsvoller und geheiligter Seelen lässt sich jede Schwierigkeit leicht beheben, und jedes noch so vielschichtige Problem erweist sich als einfacher denn ein Augenzwinkern.
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Wenn jedoch die Mitglieder derartiger beratender Körperschaften von minderwertigem Charakter, unwissend, über die Gesetze der Staatsführung und der Verwaltung nicht unterrichtet, wenn sie dumm, niedrig gesinnt, gleichgültig, müßig und eigennützig sind, ist es nutzlos, derartige Einrichtungen ins Leben zu rufen. Während in der Vergangenheit ein armer Mann, der zu seinem Recht kommen wollte, nur einen Einzelnen zu bestechen hatte, müsste er jetzt alle Hoffnung auf Gerechtigkeit aufgeben oder aber die gesamte Mitgliederzahl zufriedenstellen.
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Eine eingehende Untersuchung wird belegen, dass der Grund für Unterdrückung und Unrecht, für Unehrlichkeit, Regelwidrigkeit und Missstände hauptsächlich darin besteht, dass es dem Volk an religiöser Gläubigkeit und an Erziehung mangelt. Wenn das Volk echt religiös, gebildet und geschult ist und eine Schwierigkeit sich zeigt, kann es sich an die örtlichen Behörden wenden; trifft es dort nicht auf Gerechtigkeit und kann es nicht seine angemessenen Ansprüche durchsetzen, stellt es vielmehr fest, dass die örtliche Verwaltung im Widerspruch zu Gottes Wohlgefallen und zur Rechtlichkeit des Königs steht, dann kann das Volk seinen Fall der höheren Gerichtsinstanz vortragen und die Abweichung der örtlichen Behörden von dem geistigen Gesetz darstellen. Das Gericht kann sich die Akten der Behörden über den Fall kommen lassen und auf diese Weise wird der Gerechtigkeit Genüge getan. Zurzeit fehlen jedoch dem größten Teil der Bevölkerung aus Mangel an Schulbildung sogar die Worte, um ihr Anliegen vorzubringen.
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Und nun zu denen, die hier und da als Staatsführer angesehen werden. Wir stehen erst am Anfang des neuen Verwaltungsprozesses, und diese Staatsführer sind selbst noch nicht ausreichend ausgebildet, um die Freuden bei der Ausübung von Gerechtigkeit erlebt und das Hochgefühl bei der Förderung von Rechtssicherheit gekostet zu haben; sie haben noch nicht von den Quellen eines reinen Gewissens und einer aufrechten Absicht getrunken. Sie haben noch nicht richtig erkannt, dass des Menschen höchste Ehre und wahres Glück in der Selbstachtung liegt, in hohen Entschlüssen und edlen Vorsätzen, in der Unversehrtheit und Sittlichkeit der Person, in der Reinheit des Denkens. Stattdessen bilden sie sich ein, ihre Größe läge darin, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln weltliche Güter anzuhäufen.
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Jeder Mensch sollte innehalten, nachdenken und gerecht urteilen: Sein Herr hat ihn aus unermesslicher Gnade zu einem menschlichen Wesen gemacht und mit den Worten geehrt: »Wahrlich, Wir schufen den Menschen in schönster Gestalt.«Qur’án 95:4.Q Er hat Seine Barmherzigkeit aus der Dämmerung der Einheit aufsteigen und über dem Menschen strahlen lassen, bis dieser zum Brunnquell des Wortes Gottes, zum Offenbarungsort himmlischer Geheimnisse wurde. Am Morgen der Schöpfung wurde er mit den Eigenschaften der Vollkommenheit und mit heiliger Anmut übersät. Wie kann er dieses makellose Gewand mit dem Schmutz selbstischer Begierden besudeln, wie kann er diese ewige Ehre gegen Schande tauschen? »Wähnst du dich eine schwache Form, wo doch das Weltall in dir zusammengefaltet liegt?«Imám ʿAlí, Ḥadíth.Q
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Wäre es nicht unser Anliegen, uns kurz zu fassen und unser Hauptthema zu entwickeln, würden wir hier eine Zusammenfassung von Themen in Bezug auf die Göttliche Welt und die Wirklichkeit des Menschen, seine hohe Stufe und den alles überragenden Wert der menschlichen Rasse geben. Aber lassen wir dies für eine andere Gelegenheit!
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Die höchste Stufe und die oberste Ebene, den vornehmsten und erhabensten Rang in der ganzen Schöpfung – ob sichtbar oder unsichtbar, ob Alpha oder Omega – nehmen die Propheten Gottes ein, obwohl sie größtenteils dem äußeren Anschein nach nichts als ihre Armut ihr eigen nannten. Desgleichen ist den Heiligen und denen, die der Schwelle Gottes am nächsten sind, unaussprechliche Herrlichkeit vorbehalten, obwohl sich ihresgleichen niemals, und sei es auch nur für einen Augenblick, um irdischen Gewinn kümmerten. Dann kommt die Stufe jener gerechten Könige, deren Ruf als Beschützer des Volkes und als Wahrer göttlicher Gerechtigkeit die Welt erfüllte und deren Namen als machtvolle Verfechter der Rechte des Volkes in der ganzen Schöpfung widerhallten. Solche Könige vergeuden keinen Gedanken darauf, riesige Reichtümer für sich anzusammeln; sie sehen vielmehr ihren eigenen Reichtum in der Förderung des Wohlstands ihrer Untertanen. Für sie sind die königlichen Schatzkammern gefüllt, wenn jeder einzelne Bürger in Wohlstand und Behagen lebt. Sie sind nicht stolz auf Gold und Silber, sondern auf ihre aufgeklärte Gesinnung und ihre Entschlossenheit, das Beste für die Allgemeinheit zu erreichen.
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Als Rangnächste folgen jene hervorragenden und ehrenhaften Minister und Vertreter des Staates, die den Willen Gottes über ihren eigenen stellen und deren fachliche Kompetenz und Weisheit bei der Verwaltung ihrer Ämter die Staatskunst zu neuen Gipfeln der Vollkommenheit führt. Sie strahlen in der Welt der Gebildeten wie Leuchten des Wissens; ihre Gedanken, ihr Verhalten und ihre Taten beweisen, wie sehr ihnen das Vaterland und sein Fortschritt am Herzen liegen. Mit bescheidenen Bezügen zufrieden, widmen sie ihre Tage und Nächte der Erfüllung ihrer wichtigen Aufgaben und dem Ersinnen von Methoden, um den Fortschritt des Volkes sicherzustellen. Durch den Einfluss ihres weisen Rates und durch ihr gesundes Urteil haben sie eh und je ihre Regierung zu einem nachahmenswerten Beispiel für alle anderen Regierungen der Welt werden lassen. Ihre Hauptstadt ward zum Brennpunkt großer weltweiter Unternehmungen; sie selbst gewannen an Würde, erlangten in hohem Maß persönliche Berühmtheit und erklommen die höchsten Höhen an Wertschätzung und an Charaktereigenschaften.
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Dann folgen jene berühmten, erfahrenen Gelehrten, die über edle Eigenschaften und umfassendes Wissen verfügen, sich fest an die Gottesfurcht halten und auf den Wegen des Heils bleiben. Im Spiegel ihres Geistes werden Formen transzendenter Wahrheiten reflektiert, und die Lampe ihrer inneren Schau empfängt ihr Licht von der Sonne universalen Wissens. Tag und Nacht stehen sie im Dienste gründlicher Forschungen auf solchen Wissensgebieten, die von Nutzen für die Menschheit sind, und widmen sich der Ausbildung befähigter Studenten. Würde man alle Schätze der Könige ihnen anbieten, so wären sie, da sie so hohe Ansprüche vertreten, nicht mit einem einzigen Tropfen aus den Wassern des Wissens zu vergleichen, und Berge von Gold und Silber könnten nicht die Freude an einer erfolgreichen Lösung eines schwierigen Problems aufwiegen. Alle Freuden, die abseits ihrer Arbeit liegen, sind in ihren Augen nur Kindertand, und die beschwerliche Last unnötiger Besitztümer ist nur für Unwissende und kleine Geister gut. Zufrieden gleich den Vögeln, sind sie für eine Handvoll Samen dankbar, und der Gesang ihres Wissens entzückt den Geist der Weltweisen.
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Schließlich trifft man unter dem Volk kluge Führer und im ganzen Lande einflussreiche Persönlichkeiten an, die als Pfeiler den Staatsbau tragen. Ihr Rang, ihre Position und ihr Erfolg hängen davon ab, ob sie dem Volk wohlgesinnt sind und ob sie sich bemühen, solche Mittel herauszufinden, die die Nation in ihrer Entwicklung fördern und den Reichtum und das Wohlergehen der Bürger steigern.
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Stellt euch vor, ein Mensch sei in seinem Land eine einflussreiche Persönlichkeit, er sei strebsam, weise, reinen Herzens, bekannt für seine angeborenen Fähigkeiten, seine Intelligenz und seinen natürlichen Scharfsinn; außerdem sei er ein wichtiges Mitglied der Staates: Worin kann ein solcher Mensch Ehre und bleibendes Glück, Rang und Ansehen in dieser und der kommenden Welt sehen? Etwa nicht darin, dass er gewissenhaft der Wahrheit und Rechtschaffenheit Beachtung schenkt, dass er entschlossen und hingebungsvoll nach dem Wohlgefallen Gottes trachtet, dass er danach strebt, die Gunst des Herrschers zu erlangen und die Anerkennung des Volkes zu verdienen? Oder vielleicht eher darin, dass er wegen der Freude an nächtlichen Festgelagen und Ausschweifungen seinem Land schadet und bei Tageslicht seinem Volk das Herz bricht, so dass er von Gott verstoßen, von seinem König vertrieben, von seinem Volk verunglimpft und mit der verdienten Verachtung gestraft wird? Bei Gott, die modernden Gebeine auf den Friedhöfen sind besser als solche Menschen! Welchen Wert haben sie, die niemals von der himmlischen Speise wahrer menschlicher Tugenden gekostet und nie von den kristallklaren Wassern jener Gnadengaben getrunken haben, die zum Reich des Menschen gehören?
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Zweifellos ist mit der Einführung von Parlamenten beabsichtigt, für Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit Sorge zu tragen; alles hängt jedoch von den Anstrengungen der gewählten Abgeordneten ab. Wenn ihre Absicht rein ist, wird es zu wünschenswerten Ergebnissen und zu unerwarteten Verbesserungen kommen; andernfalls ist alles sinnlos. Das Land wird zum Erliegen kommen, und die öffentliche Ordnung wird sich verschlechtern. »Wie ich sehe, kommen tausend Bauleute nicht gegen einen Störenfried an. Was aber soll geschehen, wenn einem Baumeister tausend Störenfriede auf dem Fuße folgen?«
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Im Vorangegangenen wurde zumindest darzulegen versucht, dass Glück und Größe, Rang und Stufe, Freude und Frieden eines Menschen nie auf seinem persönlichen Reichtum beruhen, vielmehr auf seinem hervorragenden Charakter, seinem hehren Entschluss, seiner umfassenden Bildung und seiner Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen. Wie klar ist doch gesagt worden: »Was ich auf dem Körper trage, ist keinen Pfennig wert, wollte man es verkaufen; aber darunter schlägt ein Herz, das – gegen alle Herzen der Welt aufgewogen – größer und edler wäre.«
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Nach Ansicht des Verfassers sollte die Wahl von nichtständigen Mitgliedern beratender Körperschaften in souveränen Staaten vom Willen und der Wahl des Volkes abhängen; denn Abgeordnete, die gewählt werden, sind eher geneigt, Gerechtigkeit walten zu lassen, damit ihr Ruf keinen Schaden leide und sie nicht vor der Öffentlichkeit in Ungnade fallen.
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Man sollte nicht glauben, mit den vorstehenden Bemerkungen wollte der Verfasser Reichtum verurteilen oder Armut empfehlen. Reichtum ist allen Lobes wert, wenn er durch eigene Anstrengungen des Menschen und durch die Gnade Gottes auf den Gebieten des Handels, der Landwirtschaft, der Kunst oder Industrie erworben und für menschenfreundliche Zwecke ausgegeben wird. Vor allen Dingen gäbe es, wenn ein vernünftiger und ideenreicher Mensch Maßnahmen in die Wege leiten würde, um das Einkommen der Volksmassen allgemein zu heben, kein wichtigeres Vorhaben als dieses, und in den Augen Gottes würde dies als die größte Errungenschaft gelten, denn solch ein Wohltäter würde die Bedürfnisse einer großen Menge stillen und ihr Sicherheit und Wohlfahrt verschaffen. Reichtum ist in höchstem Maße lobenswert, sofern die ganze Bevölkerung reich ist. Wenn jedoch nur einige wenige übermäßige Reichtümer besitzen und alle übrigen verarmt sind, wenn keine Frucht, kein Nutzen aus dem Reichtum erwächst, dann bedeutet dieser nur eine Belastung für den Besitzer. Wird der Reichtum andererseits dazu verwendet, Wissen zu fördern, Grund- und andere Schulen zu eröffnen, Kunst und Industrie anzuregen, Waisen und Arme zu erziehen – kurz gesagt, ist er dem Wohle der Gesellschaft gewidmet –, dann ragt sein Besitzer vor Gott und den Menschen als der Vortrefflichste unter allen, die auf Erden wohnen, hervor und wird zum Volke des Paradieses gezählt.
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Nun zu jenen, die die Meinung vertreten, die Einführung von Reformen und Einrichtung machtvoller Institutionen stünde im Widerspruch zum Wohlgefallen Gottes, würden gegen die Gesetze des Göttlichen Gesetzgebers verstoßen und gegen die religiösen Grundsätze und das Lebensvorbild des Propheten. Lasst sie überlegen, wie weit solches zutreffen könnte. Laufen Reformen dem religiösen Gesetz zuwider, weil sie von Ausländern übernommen werden und sie uns dazu bringen, so zu sein, wie sie sind nach dem Wort: »Wer ein Volk nachahmt, gehört ihm an«? Zunächst beziehen sich diese Angelegenheiten auf den zeitlichen, äußerlichen Rahmen der Zivilisation, die Förderung von Wissenschaften, die Begleiterscheinungen des Fortschritts im Berufsleben und in den Künsten sowie die ordnungsgemäße Amtsführung der Regierung. Sie haben absolut nichts zu tun mit Fragen des Geistes und den vielfältigen Wahrheiten religiöser Lehre. Wenn eingewandt würde, vom Ausland etwas zu übernehmen, selbst wenn es materielle Angelegenheiten betrifft, sei unzulässig, würde eine solche Behauptung nur die Unwissenheit und Unvernunft ihrer Befürworter beweisen. Haben sie den berühmten ḤadíthHeilige Überlieferung, belegter Ausspruch des Propheten Muḥammad.A vergessen: »Suchet nach Wissen, selbst bis nach China«? Sicherlich gehörten die Chinesen in den Augen Gottes zu den am meisten beklagenswerten Menschen, weil sie Götzenbilder anbeteten und des allwissenden Herrn nicht gedachten. Die Europäer sind wenigstens ein »Volk des Buches«Vgl. Qur’án, mehrere Dutzend Stellen – Anm. d. Hrsg.Q und glauben an Gott; darauf wird ausdrücklich in dem heiligen Vers Bezug genommen: »Du wirst sicherlich jene den Gläubigen liebreich am nächsten finden, die sagen ›Wir sind Christen‹«Qur’án 5:82.Q. Es ist deshalb durchaus zulässig und in der Tat vorzuziehen, von christlichen Ländern Wissen zu erwerben. Wie könnte die Suche nach Wissen unter den Heiden vor Gott annehmbar sein und die Suche unter dem »Volk des Buches« Ihm missfallen?
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In der ›Grabenschlacht‹Ghazwatu’l-Ḥandaq‹. Angriff einer von dem Stamm der Quraysh organisierten Allianz auf Medina, im Jahre 627 n. Chr. – Anm. des Hrsg.A verschaffte sich Abú-Sufyán die Hilfe der Baní-Kinánih, der Baní-Qaḥṭán und der jüdischen Baní Qurayzah; er erhob sich mit allen Stämmen der Quraysh, um das Göttliche Licht, das in der Lampe von Yathrib (Medina) flammte, zu löschen. In jenen Tagen heulten die Stürme der Prüfungen und Schicksalsschläge aus jeder Richtung, wie geschrieben steht: »Wähnen die Menschen, in Ruhe gelassen und nicht geprüft zu werden, wenn sie nur sagen ›Wir glauben‹?«Qur’án 29:2.Q Die Gläubigen waren gering an Zahl, der Feind griff mit Macht an und versuchte, die neu erschienene Sonne der Wahrheit durch den Staub der Unterdrückung und der Gewaltherrschaft auszulöschen. Da trat der Perser Salmán vor den Propheten, den Aufgangsort der Offenbarung, den Brennpunkt der unendlichen Strahlen göttlicher Gnade, und sagte, dass man in Persien zum Schutz vor einem eindringenden Feind Festungsgräben oder Schanzen um das Land anlegte und dies habe sich als eine höchst wirksame Vorsichtsmaßnahme gegen plötzliche Überfälle erwiesen. Hat nun daraufhin jener Brunnquell umfassender Weisheit, jenes Bergwerk göttlicher Erkenntnis erwidert, solche Verteidigungsanlagen seien ein Brauch götzendienerischer, feueranbetender Magierzoroastrischer Priester – Anm.des Hrsg.A und könnte deshalb von den Gläubigen des einen wahren Gottes schwerlich übernommen werden? Oder hat Er nicht vielmehr sofort Seinen Anhängern befohlen, so rasch wie möglich einen Graben auszuheben? Gemeinsam mit ihnen nahm Er selbst in Seiner eigenen gesegneten Person die Werkzeuge in die Hand und machte sich an die Arbeit.
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In den Büchern der verschiedenen islámischen Rechtsschulen und in den Schriften führender Gelehrter und Historiker ist zudem berichtet, dass heilige Gesetze offenbart wurden, die teilweise den Bräuchen aus den Tagen der UnwissenheitJáhilíyyih: die heidnische Zeit in Arabien vor dem Auftreten Muḥammads.A entsprachen – und dies, nachdem das Licht der Welt über dem Ḥijáz aufgegangen war, die ganze Menschheit mit Seinem Strahlenglanz überflutet und durch die Offenbarung eines neuen, göttlichen Gesetzes, neuer Grundsätze und neuer Einrichtungen eine grundlegende Veränderung in der ganzen Welt geschaffen hatte. So achtete Muḥammad zum Beispiel die Monate des GottesfriedensDie heidnischen Araber beachteten einen gesonderten und drei zusammenhängende Monate religiöser Waffenruhe, während derer Pilgerfahrten nach Mecca, Jahrmärkte, poetische Wettbewerbe und ähnliche Ereignisse stattfanden..A, Er behielt das Verbot des Schweinefleisches, den Mondkalender sowie die Monatsnamen bei und dergleichen mehr. Es gibt eine beträchtliche Zahl solcher Gesetze, die einzeln in den Texten aufgeführt sind:
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»In den Tagen der Unwissenheit hielt sich das Volk an viele Bräuche, die das Gesetz des Islám später bestätigte. Sie heirateten keine Mutter und deren Tochter gleichzeitig; der schimpflichste Akt war in ihren Augen, zwei Schwestern zu heiraten. Ein Mann, der die Frau seines Vaters heiratete, wurde verspottet und als seines Vaters Nebenbuhler gebrandmarkt. Sie hatten den Brauch, zu dem Haus in Mekka zu pilgern und dort Besuchsriten zu verrichten, indem sie Pilgerkleider anlegten, das Haus feierlich umschritten, zwischen den Hügeln hin und her liefen, an den Halteplätzen warteten und Steine warfen. Weiter war es ihre Gewohnheit, in dreijährigen Abständen einen Schaltmonat in den Kalender einzufügen, nach dem Geschlechtsverkehr Waschungen zu verrichten, den Mund zu spülen, Wasser durch die Nasenlöcher einzuziehen, das Haar zu scheiteln, Zahnstocher zu benutzen, die Nägel zu schneiden und die Haare der Achselhöhlen auszurupfen. Desgleichen pflegten sie einem Dieb die rechte Hand abzuhacken.«
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Kann man, Gott bewahre, aus der Tatsache, dass einige göttliche Gesetze den Bräuchen aus den Tagen der Unwissenheit, den Sitten eines von allen Nationen verachteten Volkes ähneln, den Schluss ziehen, diese göttlichen Gesetze seien fehlerhaft? Oder kann man sich, Gott behüte, vorstellen, der Allmächtige Herr sei geneigt gewesen, den Ansichten der Heiden zu folgen? Die göttliche Weisheit nimmt viele Formen an. Wäre es Muḥammad nicht möglich gewesen, ein Gesetz zu offenbaren, das keinerlei Ähnlichkeit mit den Bräuchen, die in den Tagen der Unwissenheit üblich waren, gehabt hätte? Nein, Seine vollkommene Weisheit hatte zum Ziel, das Volk aus den Ketten des Fanatismus zu befreien, die es an Händen und Füßen fesselten, und genau denjenigen Einwendungen zuvorzukommen, die heutzutage den einfachen, ratlosen Seelen den Verstand verwirren und das Bewusstsein trüben.
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Manche, die über die Bedeutung des Wortes Gottes und die Inhalte der überlieferten und niedergeschriebenen Geschichte nicht ausreichend informiert sind, werden behaupten, jene Bräuche aus den Tagen der Unwissenheit seien Gesetze gewesen, die Seine Heiligkeit Abraham gegeben und die die Götzendiener beibehalten hätten. In diesem Zusammenhang werden sie den Qur’án-Vers anführen: »Folget der Religion Abrahams, der gesund im Glauben war.«Qur’án 16:123.Q. Es ist jedoch eine Tatsache, die in den Schriften aller islámischen Rechtsschulen belegt ist, dass die Monate des Gottesfriedens, der Mondkalender und das Abschlagen der rechten Hand als Strafe für Diebstahl keine Gesetze waren, die Teil des Gesetzes Abrahams waren. Jedenfalls sind die fünf Bücher Mose, die die Gesetze Abrahams enthalten, noch vorhanden und heute allgemein zugänglich. Lasst sie darauf verweisen. Sie werden dann natürlich darauf bestehen zu behaupten, die Thora sei verfälscht worden, und zum Beweis den Qur’án-Vers zitieren: »Sie verkehren den Text des Wortes Gottes.«Qur’án 4:46 und 5:13.Q Es ist jedoch bekannt, wo solche Verfälschungen stattfanden; in kritischen Texten und Kommentaren ist dies aufgezeichnet.vgl. Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewissheit 92, Hofheim 2004.A Wollten wir dieses Thema ausführlicher behandeln, müssten wir unsere eigentliche Absicht hintanstellen.
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Manchen Berichten zufolge wurde die Menschheit angewiesen, verschiedene gute Eigenschaften und Verhaltensweisen von den wilden Tieren zu übernehmen und von diesen etwas dazuzulernen. Wenn es statthaft ist, Tugenden dummer Tiere nachzuahmen, so ist es sicherlich viel eher erlaubt, Wissenschaften und Techniken von fremden Völkern zu übernehmen, die wenigstens der menschlichen Rasse angehören und sich durch Urteilsvermögen und die Macht der Sprache auszeichnen. Und wenn behauptet wird, solche löblichen Eigenschaften seien den Tieren angeboren, welchen Beweis können sie dann anführen, dass diese wesentlichen Grundsätze der Kultur, dieses Wissen und diese Wissenschaften, die unter anderen Völkern geläufig sind, nicht auch ›angeboren‹ seien? Gibt es einen Schöpfer außer Gott? Sprich: Gepriesen sei Gott!
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Die gelehrtesten und gebildetsten Geistlichen, die namhaftesten Gelehrten haben gründlich diejenigen Wissenszweige studiert, deren Wurzel und Ursprung die griechischen Philosophen wie Aristoteles und andere waren, und haben die Erforschung der griechischen Texte von Wissenschaften wie der Medizin und Zweigen der Mathematik einschließlich Algebra»Wenn wir mit dem Wort ›Algebra‹ denjenigen Zweig der Mathematik bezeichnen, der uns lehrt, wie wir die Gleichung x2 + 5 x = 14, auf diese Weise niedergeschrieben, lösen, dann beginnt diese Wissenschaft im 17. Jahrhundert. Wenn wir es zulassen, dass die Gleichung mit anderen, weniger geeigneten Symbolen geschrieben wird, beginnt Algebra bereits im 3. Jahrhundert. Wenn wir eine Beschreibung in Worten und eine Lösung für einfache Fälle positiver Wurzeln mit Hilfe geometrischer Figuren einbeziehen, war unsere Wissenschaft schon Euklid und anderen aus der Alexandrinischen Schule um 300 v. Chr. bekannt. Wenn wir mehr oder weniger wissenschaftliche Schätzungen bei der Annäherung an eine Lösung zulassen, lässt sich sagen, dass Algebra schon 2000 Jahre v. Chr. bekannt war und wahrscheinlich bereits viel früher die Aufmerksamkeit der intellektuellen Klasse auf sich zog … Der Name ›Algebra‹ ist rein zufällig. Als Mohammed ibn Mûsâ al-Khowârizmî … um 825 in Baghdad schrieb, gab er einem seiner Werke den Titel Al-jebr w’al-muqâbalah. Dieser Titel wird manchmal in ›Wiedereinsetzung und Gleichung‹ übersetzt, aber die Bedeutung war selbst den späteren arabischen Schriftstellern nicht klar.« (Encyclopaedia Britannica, 1952, Stichwort: Algebra).A und Arithmetik als besonders verdienstvolle Errungenschaft geschätzt. Alle bedeutenden Geistlichen studieren und lehren die Wissenschaft der Logik, obwohl sie als deren Begründer einen Sabäer ansehen. Die meisten von ihnen bestehen darauf, dass auf die Meinungen, Ableitungen und Schlussfolgerungen eines Gelehrten kein sicherer Verlass sei, wenn er zwar eine Reihe von Wissenschaften beherrsche, in der Logik jedoch keine gründlichen Kenntnisse habe.
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