‘Abdu’l-Bahá | Geheimnis göttlicher Kultur
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Kann man, Gott bewahre, aus der Tatsache, dass einige göttliche Gesetze den Bräuchen aus den Tagen der Unwissenheit, den Sitten eines von allen Nationen verachteten Volkes ähneln, den Schluss ziehen, diese göttlichen Gesetze seien fehlerhaft? Oder kann man sich, Gott behüte, vorstellen, der Allmächtige Herr sei geneigt gewesen, den Ansichten der Heiden zu folgen? Die göttliche Weisheit nimmt viele Formen an. Wäre es Muḥammad nicht möglich gewesen, ein Gesetz zu offenbaren, das keinerlei Ähnlichkeit mit den Bräuchen, die in den Tagen der Unwissenheit üblich waren, gehabt hätte? Nein, Seine vollkommene Weisheit hatte zum Ziel, das Volk aus den Ketten des Fanatismus zu befreien, die es an Händen und Füßen fesselten, und genau denjenigen Einwendungen zuvorzukommen, die heutzutage den einfachen, ratlosen Seelen den Verstand verwirren und das Bewusstsein trüben.
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Manche, die über die Bedeutung des Wortes Gottes und die Inhalte der überlieferten und niedergeschriebenen Geschichte nicht ausreichend informiert sind, werden behaupten, jene Bräuche aus den Tagen der Unwissenheit seien Gesetze gewesen, die Seine Heiligkeit Abraham gegeben und die die Götzendiener beibehalten hätten. In diesem Zusammenhang werden sie den Qur’án-Vers anführen: »Folget der Religion Abrahams, der gesund im Glauben war.«Qur’án 16:123.Q. Es ist jedoch eine Tatsache, die in den Schriften aller islámischen Rechtsschulen belegt ist, dass die Monate des Gottesfriedens, der Mondkalender und das Abschlagen der rechten Hand als Strafe für Diebstahl keine Gesetze waren, die Teil des Gesetzes Abrahams waren. Jedenfalls sind die fünf Bücher Mose, die die Gesetze Abrahams enthalten, noch vorhanden und heute allgemein zugänglich. Lasst sie darauf verweisen. Sie werden dann natürlich darauf bestehen zu behaupten, die Thora sei verfälscht worden, und zum Beweis den Qur’án-Vers zitieren: »Sie verkehren den Text des Wortes Gottes.«Qur’án 4:46 und 5:13.Q Es ist jedoch bekannt, wo solche Verfälschungen stattfanden; in kritischen Texten und Kommentaren ist dies aufgezeichnet.vgl. Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewissheit 92, Hofheim 2004.A Wollten wir dieses Thema ausführlicher behandeln, müssten wir unsere eigentliche Absicht hintanstellen.
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Manchen Berichten zufolge wurde die Menschheit angewiesen, verschiedene gute Eigenschaften und Verhaltensweisen von den wilden Tieren zu übernehmen und von diesen etwas dazuzulernen. Wenn es statthaft ist, Tugenden dummer Tiere nachzuahmen, so ist es sicherlich viel eher erlaubt, Wissenschaften und Techniken von fremden Völkern zu übernehmen, die wenigstens der menschlichen Rasse angehören und sich durch Urteilsvermögen und die Macht der Sprache auszeichnen. Und wenn behauptet wird, solche löblichen Eigenschaften seien den Tieren angeboren, welchen Beweis können sie dann anführen, dass diese wesentlichen Grundsätze der Kultur, dieses Wissen und diese Wissenschaften, die unter anderen Völkern geläufig sind, nicht auch ›angeboren‹ seien? Gibt es einen Schöpfer außer Gott? Sprich: Gepriesen sei Gott!
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Die gelehrtesten und gebildetsten Geistlichen, die namhaftesten Gelehrten haben gründlich diejenigen Wissenszweige studiert, deren Wurzel und Ursprung die griechischen Philosophen wie Aristoteles und andere waren, und haben die Erforschung der griechischen Texte von Wissenschaften wie der Medizin und Zweigen der Mathematik einschließlich Algebra»Wenn wir mit dem Wort ›Algebra‹ denjenigen Zweig der Mathematik bezeichnen, der uns lehrt, wie wir die Gleichung x2 + 5 x = 14, auf diese Weise niedergeschrieben, lösen, dann beginnt diese Wissenschaft im 17. Jahrhundert. Wenn wir es zulassen, dass die Gleichung mit anderen, weniger geeigneten Symbolen geschrieben wird, beginnt Algebra bereits im 3. Jahrhundert. Wenn wir eine Beschreibung in Worten und eine Lösung für einfache Fälle positiver Wurzeln mit Hilfe geometrischer Figuren einbeziehen, war unsere Wissenschaft schon Euklid und anderen aus der Alexandrinischen Schule um 300 v. Chr. bekannt. Wenn wir mehr oder weniger wissenschaftliche Schätzungen bei der Annäherung an eine Lösung zulassen, lässt sich sagen, dass Algebra schon 2000 Jahre v. Chr. bekannt war und wahrscheinlich bereits viel früher die Aufmerksamkeit der intellektuellen Klasse auf sich zog … Der Name ›Algebra‹ ist rein zufällig. Als Mohammed ibn Mûsâ al-Khowârizmî … um 825 in Baghdad schrieb, gab er einem seiner Werke den Titel Al-jebr w’al-muqâbalah. Dieser Titel wird manchmal in ›Wiedereinsetzung und Gleichung‹ übersetzt, aber die Bedeutung war selbst den späteren arabischen Schriftstellern nicht klar.« (Encyclopaedia Britannica, 1952, Stichwort: Algebra).A und Arithmetik als besonders verdienstvolle Errungenschaft geschätzt. Alle bedeutenden Geistlichen studieren und lehren die Wissenschaft der Logik, obwohl sie als deren Begründer einen Sabäer ansehen. Die meisten von ihnen bestehen darauf, dass auf die Meinungen, Ableitungen und Schlussfolgerungen eines Gelehrten kein sicherer Verlass sei, wenn er zwar eine Reihe von Wissenschaften beherrsche, in der Logik jedoch keine gründlichen Kenntnisse habe.
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Es ist nun klar und unwiderleglich dargestellt worden, dass Grundsätze und Verfahrensweisen kultivierten Lebens aus fremden Ländern zu übernehmen und wissenschaftliche Kenntnisse und Techniken aus dem Ausland zu erwerben – mit anderen Worten: alles, was zum allgemeinen Wohl beiträgt – uneingeschränkt zulässig ist. Dies wurde dargelegt, damit sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Angelegenheit von so umfassendem Nutzen fokussiere, damit sich das Volk mit ganzer Kraft erhebe, dies zu fördern, bis mit Gottes Hilfe dieses geheiligte Land in kurzer Zeit zur ersten Nation unter allen anderen Nationen werde.
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O ihr, die ihr weise seid! Erwäget sorgfältig: Kann man eine gewöhnliche Waffe mit einem Martini-Henry-Gewehr oder einer Krupp-Kanone vergleichen? Wollte jemand behaupten, unsere alten Feuerwaffen seien gut genug für uns und es sei sinnlos, Waffen einzuführen, die im Ausland erfunden wurden – würde da auch nur ein Kind ihm zuhören? Oder sollte jemand sagen: »Wir haben immer unsere Waren von Land zu Land auf dem Rücken der Tiere befördert: Warum brauchen wir Dampfmaschinen? Warum sollten wir anderen Völkern versuchen nachzueifern?«, könnte ein intelligenter Mensch eine solche Feststellung hinnehmen? Nein, bei dem einen Gott! Es sei denn, er wollte sich auf Grund eines geheimen Motivs oder aus Feindseligkeit weigern, offenkundige Tatsachen anzuerkennen.
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Fremde Nationen zögern nicht, Ideen voneinander zu übernehmen, obwohl sie höchste Fachkenntnis in Wissenschaft, Kunst und Industrie erworben haben. Wie kann man da zulassen, dass Persien, ein Land in tiefster Not, zurückgeblieben und aufgegeben hinterherhinkt?
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Jene bedeutenden Geistlichen und Gelehrten, die auf dem geraden Pfad wandeln, mit den Geheimnissen göttlicher Weisheit und den inneren Zusammenhängen der Heiligen Bücher wohlvertraut sind, die das Juwel der Gottesfurcht in ihren Herzen tragen und deren strahlende Angesichter vom heilbringenden Licht erleuchtet sind – diese Geistlichen und Gelehrten achten auf die gegenwärtige Bedürfnisse, sie verstehen die Erfordernisse der Moderne und verwenden sicherlich ihre ganze Kraft darauf, Bildung und Kultur voranzutragen. »Sind jene, die wissen, gleich denen, die nicht wissen? … Oder ist die Finsternis gleich dem Licht?«Qur’án 39:9 und 13:16.Q
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Die geistig Gebildeten sind Lampen der Führung unter den Nationen und Sterne des Glücks, die am Horizont der Menschheit strahlen. Sie sind Springbrunnen des Lebens für solche, die dem Tode von Unwissenheit und Unkenntnis verfallen sind, und reine Quellen der Vollkommenheit für jene, die dürstend durch die Wüsten ihrer Fehler und Irrtümer wandern. Dämmerorte der Zeichen göttlicher Einheit sind sie und Eingeweihte in die Geheimnisse des ruhmreichen Qur’án. Sie sind erfahrene Ärzte für den kranken Körper der Welt und das sichere Heilmittel gegen das Gift, das die menschliche Gesellschaft verdorben hat. Sie sind es, die als starke Feste die Menschheit beschützen, sie sind der unbezwingbare Zufluchtsort für die Bedrängten, Bekümmerten und Gequälten und für die Opfer der Unwissenheit. »Wissen ist ein Licht, das Gott ins Herz wirft, wem immer Er will.«
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Für alles hat Gott ein Zeichen und Sinnbild geschaffen, hat Er Maßstäbe und Prüfsteine aufgestellt, durch die es erkannt werden kann. Die geistig Gebildeten müssen sich durch innere wie äußere Vollkommenheiten auszeichnen; sie müssen einen guten Charakter, ein aufgeklärtes Wesen, reine Absichten und ebenso Verstandeskraft, Scharfsinn und Urteilsvermögen, Verschwiegenheit und Weitsicht besitzen, ferner müssen sie besonnen, ehrfürchtig und aufrichtig gottesfürchtig sein. Denn eine Kerze, die nicht brennt, so dick und groß sie auch sein mag, ist nicht besser als eine trockene Palme oder ein Haufen abgestorbenes Holz.
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»Die Maid mag schmollen oder mit mir spielen. Grausame Schönheit, groll nur, sei kokett! Jedoch der Hässlichen steht Scheu nicht an, und Schmerz in blindem Aug’ tut doppelt weh.«Jaláli’d-Dín-i-Rúmí, Mathnaví, I:1906–1907.Q
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Eine autorisierte Überlieferung besagt: »Wer zu den GebildetenDas arabische Wort ʿUlamá läßt sich auch als ›Gelehrte‹, ›Wissenschaftler‹ or ›religiöse Autoritäten‹ übersetzen.A gehört, muss sich selbst bewahren, seinen Glauben verteidigen, seinen Leidenschaften widerstehen und die Gebote seines Herrn befolgen. Sodann ist es die Pflicht des Volkes, sich an sein Beispiel zu halten.« Da diese erlauchten und heiligen Worte alle Voraussetzungen wahren Wissens veranschaulichen, ist eine kurze Erläuterung ihres Sinns angebracht. Wem es auch immer an diesen göttlichen Fähigkeiten fehlt, wer diese unabdingbaren Erfordernisse nicht in seiner Lebensführung an den Tag legt, sollte nicht als ein Gebildeter angesehen werden und ist nicht wert, den Gläubigen als Vorbild zu dienen.
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Das erste dieser Erfordernisse ist, sich selbst zu bewahren. Offensichtlich bedeutet dies nicht, dass man sich vor Unglück und materiellen Prüfungen schützt; denn alle Propheten und Heiligen waren den bittersten Trübsalen, welche die Welt zu bieten hat, ausgesetzt und dienten der Menschheit zur Zielscheibe für jede Art an Grausamkeit und Angriffslust. Sie opferten ihr Leben für das Wohlergehen des Volkes, und aus ganzem Herzen eilten sie der Stätte ihres Martyriums entgegen. Durch ihre innere und äußere Vollkommenheit schmückten sie die Menschenwelt mit neuen Gewändern vortrefflicher Eigenschaften, angeborener wie erworbener. Sich selbst zu bewahren bedeutet vor allem, die Attribute geistiger und materieller Vollkommenheit zu erwerben.
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Das erste Attribut der Vollkommenheit besteht in der Bildung und in den kulturellen Erkenntnissen des Geistes. Diese hohe Stufe ist erreicht, wenn der Mensch umfassende Kenntnis besitzt von den vielschichtigen und transzendenten Wahrheiten, die Gott zugehören, den Grundwahrheiten der politisch-religiösen Gesetze des Qur’án, dem Inhalt der heiligen Schriften anderer Bekenntnisse sowie von Satzungen und Verfahren, die zum Fortschritt und zur Kultur dieses hervorragenden Landes beitragen können. Darüber hinaus sollte ein solcher Mensch über anderer Länder Gesetze und Grundsätze, Sitten, Lebensumstände und Gepflogenheiten sowie über die materiellen und sittlichen Verdienste, die deren Staatskunst kennzeichnen, Bescheid wissen; er sollte auf allen nutzbringenden Wissensgebieten seiner Zeit höchst bewandert sein und die geschichtlichen Aufzeichnungen vergangener Regierungen und Völker studieren. Denn wenn ein gebildeter Mensch nicht die heiligen Schriften und das gesamte Gebiet der Religions- und Naturwissenschaften, des religiösen Rechts, der Staatskunst, des vielfältigen Wissens der Zeit und der großen geschichtlichen Ereignisse kennt, kann es leicht sein, dass er einem Ernstfall nicht gewachsen ist, und das wäre unvereinbar mit dem notwendigen Erfordernis umfassenden Wissens.
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Wenn zum Beispiel ein islámischer Gelehrter mit einem Christen ein Gespräch führt und die herrlichen Melodien des Evangeliums nicht kennt, wird es ihm nicht möglich sein, den Christen zu überzeugen; wie viele Wahrheiten aus dem Qur’án er auch anführt, er wird tauben Ohren predigen. Sollte der Christ jedoch bemerken, dass der Muslim über die Grundwahrheiten des Christentums besser Bescheid weiß als die christlichen Theologen und dass er den Sinn der Schriften tiefer erfasst hat als jene, dann wird er den Ausführungen des Muslims gern zustimmen; tatsächlich bleibt ihm dann keine andere Wahl.
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Als der ExilarchDer Resch Galuta, ein Prinz oder Herrscher über die Verbannten in Babylon, dem die Juden, wo sie auch waren, Tribut zollten.A in die Gegenwart des Imám Riḍá, jenes Leuchtfeuers göttlicher Weisheit, des Heils und der Gewissheit, gelangte, hätte er nie die Größe seiner Heiligkeit anerkannt, wenn der Imám, dieses Bergwerk an Wissen, im Verlauf ihrer Unterredung nicht seine Argumente auf die dem Exilarch vertraute und wichtige Autorität gestützt hätte.
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Auf zwei mächtigen Kräften basiert der Staat: die gesetzgebende und die ausführende Gewalt. Die ausführende Gewalt geht von der Regierung aus, während im Mittelpunkt der Gesetzgebung der Gelehrte steht. Wie wäre es denkbar, dass ein Staat Bestand hätte, wenn diese letztere starke Stütze, dieser Grundpfeiler, sich als unbrauchbar erweist?
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Angesichts der Tatsache, dass heutzutage solch vollkommen entwickelte und umfassend gebildete Persönlichkeiten kaum zu finden sind und Regierung und Volk der Ordnung und Führung dringend bedürfen, ist es wichtig, ein Gremium von Gelehrten zu bilden, dessen verschiedene Mitgliedergruppen jeweils in einem der oben erwähnten Wissenszweige sachkundig sind. Diese Körperschaft sollte mit größtem Eifer und aller Tatkraft über gegenwärtige und künftige Erfordernisse beraten und Ruhe und Ordnung herbeiführen.
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Bisher ist dem religiösen Gesetz noch keine entscheidende Rolle an unseren Gerichten eingeräumt worden, weil jeder ʿUlamá diejenigen Urteile fällte, die er nach seiner eigenmächtigen Auslegung und nach seiner persönlichen Meinung für angebracht hielt. Es mag sein, dass zwei Männer vor Gericht gehen und einer der ʿUlamá zu Gunsten des Klägers, ein anderer zu Gunsten des Beklagten entscheidet. Dann mag es sogar geschehen, dass in ein und demselben Fall zwei widersprüchliche Urteile von ein und demselben Mujtahid gefällt werden, weil er das erste Mal in die eine Richtung, das zweite Mal in die andere Richtung beeinflusst worden war. Zweifellos hat dieser Zustand alle wichtigen Belange durcheinandergebracht und muss die eigentlichen Grundlagen der Gesellschaft gefährden; denn Kläger wie Beklagter geben die Hoffnung nie auf, schließlich doch noch Erfolg zu haben, und jeder vergeudet sein Leben mit dem Versuch, ein später ergehendes Urteil zu erwirken, das das vorhergehende rückgängig macht. Ihre ganze Zeit vertun sie mit Rechtsstreitigkeiten, was dazu führt, dass ihr ganzes Leben in dem Streitfall verwickelt ist, statt gemeinnützigen Unternehmungen und angemessenen persönlichen Bedürfnissen gewidmet zu sein. Diese beiden Prozessgegner könnten in der Tat auch tot sein, denn sie können ihrer Regierung und der Gesellschaft nicht im Geringsten einen Dienst erweisen. Wenn jedoch ein endgültiges, unwiderrufliches Urteil erginge, müsste die ordnungsgemäß verurteilte Person notgedrungen alle Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Falles aufgeben, würde in dieser Hinsicht entlastet werden und könnte sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten und diejenigen anderer kümmern.
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Da diese überaus wichtige Frage das vornehmste Mittel für die Sicherung des Friedens und der Ruhe des Volkes und die wirksamste Triebkraft für die Weiterentwicklung von Hoch und Niedrig ist, obliegt es denjenigen gelehrten Mitgliedern der großen beratenden Versammlung, die sich mit dem Göttlichen Gesetz genau auskennen, eine einheitliche, direkte und endgültige Verfahrensweise für die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zu entwickeln. Dieser Rechtsgang sollte dann im ganzen Land auf Befehl des Königs veröffentlicht werden, seine Vorkehrungen müssten genauestens einzuhalten sein. Diese so wichtige Frage bedarf dringendster Aufmerksamkeit.
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Das zweite Attribut der Vollkommenheit ist Gerechtigkeit und Unparteilichkeit. Dies bedeutet, persönlichem Nutzen und eigensüchtigen Vorteilen keine Beachtung zu schenken, vielmehr die Gesetze Gottes ohne den leisesten Hintergedanken an irgendetwas anderes anzuwenden. Es bedeutet ferner, sich selbst nur als einen der Diener Gottes, des Allbesitzenden, anzusehen und nie danach zu trachten, andere zu übertreffen, es sei denn im Streben nach geistiger Vortrefflichkeit. Es bedeutet, das Wohl der Gemeinschaft als das eigene zu empfinden. Kurz gesagt heißt dies, die ganze Menschheit als ein einziges Lebewesen, sich selbst als ein Teil dieses großen Körpers anzusehen und genau zu wissen, dass jeder Schmerz, jede Wunde, die ein Körperteil trifft, unweigerlich alles übrige in Mitleidenschaft zieht.
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Die dritte Voraussetzung für Vollkommenheit ist, sich aufrichtig und mit der lautersten Absicht aufzumachen, die Massen zu erziehen: sich bis zum äußersten anzustrengen, um sie in den verschiedenen Wissensgebieten und nutzbringenden Wissenschaften zu unterweisen, um eine fortschrittliche Entwicklung zu fördern, die Bereiche des Handels, der Industrie und der Künste zu erweitern und solche Maßnahmen zu unterstützen, die den Wohlstand des Volkes erhöhen. Die breiten Schichten der Bevölkerung sind nämlich in Unkenntnis über jene lebenspendenden Kräfte, die die chronischen Leiden der Gesellschaft umgehend heilen könnten.
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Es ist unerlässlich, dass Gelehrte und geistig Gebildete aufrichtigen und reinen Herzens und nur aus Liebe zu Gott daran gehen, die Massen zu beraten, zu ermahnen und ihre Sicht mit jenem Heilmittel zu erhellen, das Wissen heißt. Denn in ihrem tief verwurzelten Aberglauben meinen viele Leute heutzutage, ein Mensch, der an Gott und Seine Zeichen, an die Propheten, ihre Offenbarungen und ihre Gesetze glaubt, der fromm und gottesfürchtig ist, müsse notwendigerweise müßig gehen und seine Tage mit Nichtstun verbringen, um in den Augen Gottes als jemand dazustehen , der der Welt und ihren Nichtigkeiten entsagt, sein Herz dem künftigen Leben zugewandt und sich von den anderen Menschen abgesondert hat, damit er dadurch Gott näher kommt. Da dieses Thema anderweitig in der vorliegenden Schrift behandelt wird, wollen wir es hier auf sich beruhen lassen.
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Weitere Attribute der Vollkommenheit sind, Gott zu fürchten, Ihn zu lieben, indem man Seine Diener liebt, Sanftmut, Nachsicht und Besonnenheit zu üben, aufrichtig, zugänglich, gütig und mitleidsvoll, entschlossen und mutig, zuverlässig und tatkräftig zu sein, zu ringen und zu streben, edelmütig, treu und ohne Hintergedanken zu sein, Eifer und Ehrgefühl an den Tag zu legen, hochgesinnt und großmütig zu sein und die Rechte anderer zu achten. Wem es an diesen hervorragenden menschlichen Eigenschaften fehlt, der ist unvollkommen. Wollten wir die inneren Bedeutungen aller dieser Tugenden erklären, »das Gedicht würde siebzig ManEin altes orientalisches Gewicht, entspricht ca. 3,5 kg.A Papier füllen.«
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Der zweite geistige Maßstab, der an den Gebildeten anzulegen ist, besteht darin, dass er seinen Glauben verteidigen sollte. Natürlich beziehen sich diese heiligen Worte nicht nur darauf, dass man nach dem tieferen Sinn des Gesetzes forscht, gottesdienstliche Vorschriften einhält, größere und kleinere Sünden vermeidet, die religiösen Vorschriften befolgt und mit allen diesen Mitteln den Glauben schützt. Weit eher bedeuten diese Worte, dass die ganze Bevölkerung in jeder Weise geschützt werden sollte, dass jegliche Anstrengung unternommen werden sollte, um eine Bündelung aller erdenklichen Maßnahmen zu ermöglichen und dadurch das Wort Gottes zu verkünden, die Zahl der Gläubigen zu vergrößern, den Glauben Gottes zu fördern, ihn zu erhöhen und zum Sieg über andere Glaubensformen zu führen.
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Hätten sich die religiösen Autoritäten der Muslime wirklich so verhalten , wie sie es hätten tun sollen, wäre heutzutage jedes Volk auf Erden unter dem Schutzdach der Einheit Gottes versammelt, und das helle Feuer des »damit Er sie siegreich mache über jede andere Religion«Qur’án 9:33, 48:28, 61:9.Q wäre wie die Sonne mitten im Herzen der Welt aufgeflammt.
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Fünfzehn Jahrhunderte nach Christus wandte sich Luther, ursprünglich eines von zwölf Mitgliedern einer katholischen Religionskörperschaft im Zentrum der päpstlichen Verwaltung und später der Begründer des protestantischen Glaubens, gegen den Papst und zwar wegen gewisser Lehraussagen wie des Eheverbots für Mönche, des verehrungsvollen Niederkniens vor den Bildern von Aposteln und ehemaligen christlichen führenden Persönlichkeiten sowie wegen verschiedener anderer religiöser Praktiken und Zeremonien, die den Geboten des Evangeliums zugeschrieben worden waren. Obwohl zu jener Zeit die Macht des Papstes so groß war und er mit solcher Ehrfurcht behandelt wurde, dass die Könige Europas vor ihm zitterten und bebten, obwohl der Papst alle wichtigen Belange Europas kontrollierend im Griff seiner Macht hielt, haben doch in den letzten 400 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung Amerikas, vier Fünftel von Deutschland und England und ein großer Prozentsatz von Österreichern, alles in allem etwa hundertfünfundzwanzig Millionen Menschen, andere christliche Konfessionen verlassen und sind in die protestantische Kirche eingetreten, weil Luthers Einstellung in Bezug auf die Freiheit von Priestern, heiraten zu dürfen, in seiner Abkehr von der Anbetung und dem Niederknien vor in den Kirchen aufgehängten Bildern und Darstellungen und in der Abschaffung von Zeremonien, die dem Evangelium beigefügt worden waren, nachweislich richtig war, und weil die geeigneten Mittel ergriffen wurden, seine Ansichten zu verbreiten. Die Anführer dieser Konfession geben sich nach wie vor jede Mühe, diese zu verbreiten, und haben heute an der Ostküste Afrikas – vordergründig zur Emanzipation der Sudanesen und verschiedener afrikanischer Völker – Schulen und Ausbildungsstätten eingerichtet, in denen völlig unzivilisierte afrikanische Stämme erzogen und ausgebildet werden, während ihre wahre und vorrangige Absicht darin liegt, einige der muslimischen indigenen Völker zum Protestantismus zu bekehren. Jede Gemeinschaft müht sich um den Fortschritt ihrer Anhänger, und wir (d. h. die Muslime) schlafen weiter!
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Obwohl es unklar war, welche Zielvorstellung jenen Mann antrieb oder was er vorhatte, seht nur den Eifer und die Mühe, mit der die protestantischen Führer seine Lehren weit und breit verkündet haben!
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Es ist sicher, dass das Licht Gottes die ganze Erde umhüllen würde, wollte nur das erlauchte Volk des einen wahren Gottes als Empfänger Seiner Bestätigungen und Seiner göttlichen Hilfe mit aller Kraft und mit völliger Hingabe, ganz im Vertrauen auf Gott und losgelöst von allem außer Ihm, entsprechende Maßnahmen ergreifen, um den Glauben zu verbreiten, und alle Mühe auf dieses Ziel ausrichten.
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Einzelne Menschen, denen die Wirklichkeit unter der Oberfläche der Ereignisse verborgen bleibt, die den Pulsschlag der Welt nicht fühlen können, die nicht wissen, welch große Dosis Wahrheit verabreicht werden muss, um dieses chronische alte Leiden der Lüge zu heilen, sind der Ansicht, dass der Glaube nur durch das Schwert verbreitet werden kann; sie unterbauen ihre Meinung mit der Überlieferung: »Ich bin ein Prophet durch das Schwert.« Wenn sie diese Frage jedoch sorgfältig prüfen würden, müssten sie erkennen, dass das Schwert heutzutage, in diesem Zeitalter, kein passendes Mittel ist, um den Glauben zu verbreiten, denn es erfüllt die Herzen der Menschen nur mit Abscheu und Schrecken. Nach dem göttlichen Gesetz Muḥammads geht es nicht an, dass das »Volk des Buches« gezwungen wird, den Glauben anzuerkennen und anzunehmen. Während es eine heilige Pflicht für jeden ist, der mit Überzeugung an die Einheit Gottes glaubt, die Menschen zur Wahrheit zu führen, beziehen sich die Überlieferungen »Ich bin ein Prophet durch das Schwert« und »Mir ist befohlen, den Leuten nach dem Leben zu trachten, bis sie sagen: ›Es gibt keinen Gott außer Gott‹vgl. Qur’án 59:22, 59:2 – Anm. d. Hrsg.«Q auf die Götzendiener aus den Tagen der Unwissenheit, die in ihrer Blindheit und Grausamkeit tief unter die menschliche Stufe gesunken waren. Auf einen Glauben, der durch Schwerthiebe entstanden ist, wäre schwerlich Verlass; durch den geringsten Anlass würde er in Irrtum und Unglauben zurückfallen. So fielen z. B. auch die Stämme in der Umgebung Medinas nach dem Heimgang Muḥammads, nach Seinem Aufstieg auf »den Sitz der Wahrheit in der Gegenwart des allmächtigen Königs«Qur’án 54:55.Q, von ihrem Glauben ab und wandten sich wieder dem Götzendienst aus heidnischen Zeiten zu.
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Erinnert euch an die Zeit, als die heiligen Düfte des Geistes Gottes (Jesus) ihre Süße über Palästina und Galiläa, über die Ufer des Jordan und die Gefilde um Jerusalem ergossen, als die wundersamen Melodien des Evangeliums in den Ohren der geistig Erleuchteten erklangen: Alle Völker Asiens und Europas, Afrikas und Amerikas als auch von Ozeanien, das die Inseln und Inselgruppen des Pazifischen und des Indischen Ozeans umfasst, waren Feueranbeter und Heiden, in Unkenntnisder Göttlichen Stimme, die am Tage des BundesQur’án 7:172: Yawm-i-Alast, der Tag, an dem sich Gott an die künftige Nachkommenschaft Adams wandte mit den Worten »Bin Ich nicht euer Herr?« (Aalastu-bi-Rabbikum), und sie antworteten: »Ja, wir bezeugen es.«.A sprach. Allein die Juden glaubten an den EINEN wahren Gott Göttlichkeit und Einheit Gottes. Nach der Erklärung Jesu verlieh der reine, belebende Odem Seines Mundes drei Jahre lang den Bewohnern jener Landstriche ewiges Leben, und durch Göttliche Offenbarung trat das Gesetz Christi, zur damaligen Zeit das lebenswichtige Heilmittel für den siechen Körper der Welt, in Kraft. In den Tagen Jesu wandten nur wenige Menschen ihr Angesicht Gott zu. Tatsächlich wurden nur die zwölf Jünger und ein paar Frauen wahre Gläubige, und einer der Jünger, Judas Ischariot, verriet seinen Glauben, so dass nur elf übrigblieben. Nach dem Aufstieg Jesu ins Reich der Herrlichkeit erhoben sich diese wenigen Seelen mit ihren geistigen Tugenden und mit Taten, die rein und heilig waren, und machten sich durch die Allmacht Gottes und den lebenspendenden Odem des Messias auf, alle Völker der Erde zu erretten. Da standen alle götzendienerischen Nationen sowie die Juden in ihrer Gesamtheit auf, das Göttliche Feuer zu löschen, das in der Lampe von Jerusalem entzündet war. »Gern hätten sie Gottes Licht mit ihren Mäulern ausgeblasen; aber Gott will Sein Licht vervollkommnen, wiewohl die Ungläubigen es verabscheuen.«Qur’án 9:32.Q Unter den schlimmsten Folterungen brachten sie jede dieser heiligen Seelen zu Tode; mit Schlachtermessern hackten sie die reinen, unbefleckten Leiber von einigen unter ihnen in Stücke und verbrannten sie in Feueröfen; andere Gläubige streckte man auf der Folter und begrub sie dann bei lebendigem Leibe. Obwohl solche Todesqualen ihr Lohn waren, fuhren die Christen fort, die Sache Gottes zu lehren; nie zogen sie ein Schwert aus der Scheide oder streiften auch nur eine Wange. Am Ende umfing der Glaube Christi die ganze Erde, so dass in Europa und Amerika keine Spuren von anderen Religionen übrig blieben und heute in Asien, Afrika und Ozeanien große Volksmassen im Heiligtum der vier Evangelien leben.
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Es ist nun durch die oben angeführten unwiderlegbaren Beweise untermauert worden, dass der Glaube Gottes durch menschliche Vollkommenheiten, durch hervorragende und anziehende Tugenden und ein durchgeistigtes Verhalten verkündet werden muss. Wenn sich eine Seele aus eigenem Antrieb Gott zuwendet, wird sie an der Schwelle der Einheit aufgenommen; denn ein solcher Mensch ist frei von persönlichen Beweggründen, von Habgier und selbstischer Gewinnsucht. Er hat unter dem Schutz und Schirm seines Herrn Zuflucht gefunden. Unter seinen Mitmenschen wird er auf Grund seiner Vertrauenswürdigkeit und Wahrheitsliebe, Mäßigung und Gewissenhaftigkeit, Großherzigkeit und Treue, Unbestechlichkeit und Gottesfurcht bekannt werden. So wird das höchste Ziel bei der Verkündigung des göttlichen Gesetzes – nämlich Glück im kommenden Leben, eine hochentwickelte Kultur und edle Charaktereigenschaften auf dieser Welt zu schaffen – verwirklicht. Das Schwert hingegen wird nur Menschen hervorbringen, die äußerlich Gläubige, in ihrem Herzen aber Verräter und Abtrünnige sind.
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Wir wollen hier eine Geschichte erzählen, die allen als Beispiel dienen mag. Die arabischen Chroniken berichten, wie in der Zeit vor dem Kommen Muḥammads Nuʿmán, der Sohn Mundhirs des Lakhmiden – ein arabischer König aus den Tagen der Unwissenheit, dessen Residenz die Stadt Ḥírih war – dem Wein einmal so sehr zugesprochen hatte, dass sich seine Sinne verfinsterten und der Verstand ihn verließ. In diesem volltrunkenen, gefühllosen Zustand befahl er, seine beiden Zechbrüder und vertrauten, vielgeliebten Freunde, Khálid, den Sohn des Mudallil, und ʿAmr, den Sohn des Masʿúd-Kaldih, hinzurichten. Als der König am anderen Morgen nach seinem Zechgelage erwachte und nach seinen beiden Freunden fragte, wurde ihm die schmerzhafte Nachricht mitgeteilt. Kummer befiel sein Herz; in seiner aufrichtigen Liebe und Sehnsucht nach ihnen ließ er über den beiden Gräbern zwei herrliche Denkmäler erbauen, denen er die Bezeichnung ›die Blutbeschmierten‹ gab.
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Daraufhin bestimmte er zwei Tage des Jahres zum Gedächtnis an die beiden Gefährten. Den einen nannte er den ›Tag des Übels‹, den anderen den ›Tag der Gnade‹. Jedes Jahr pflegte er an diesen bestimmten Tagen mit Prunk und Pracht hinauszuziehen und sich zwischen den beiden Grabmälern niederzulassen. Wenn an dem ›Tag des Übels‹ sein Auge auf irgendjemanden fiel, wurde dieser hingerichtet; wer jedoch am ›Tag der Gnade‹ vorüberging, wurde mit Geschenken und Gunstbeweisen überschüttet. Solches war sein königliches Gebot, das, mit einem mächtigen Eid besiegelt, immer streng eingehalten wurde.
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Eines Tages bestieg der König sein Ross, Maḥmúd genannt, und ritt hinaus in die Steppe, um zu jagen. Plötzlich erblickte er in der Ferne ein Wildpferd, gab seinem Ross die Sporen, um das Wild einzuholen, und hetzte mit solcher Geschwindigkeit davon, dass er von seinem Gefolge abgeschnitten wurde. Die Nacht brach herein, und der König war hoffnungslos verloren. Da entdeckte er fern in der Wüste ein Zelt; er wandte sein Pferd und ritt drauf zu. Als er den Eingang des Zeltes erreicht hatte, fragte er den Besitzer, Ḥanzalá, den Sohn des Abí-Ghafráy-i-Ṭá’í: »Nimmst du einen Gast auf?« Ḥanzalá antwortete: »Ja«, trat heraus und half Nuʿmán beim Absteigen. Dann ging er zu seiner Frau und sagte zu ihr: »Im Verhalten dieses Mannes sind deutliche Anzeichen hohen Ranges zu erkennen. Tue dein Bestes, um ihm Gastfreundschaft zu erweisen, und bereite ein Festmahl vor.« Die Frau erwiderte: »Wir haben ein Mutterschaf, das du opfern könntest, und ich habe noch ein bisschen Mehl für solche Gelegenheiten aufgespart.« Ḥanzalá molk zunächst das Schaf und bot Nuʿmán eine Schale zum Trunk an, dann schlachtete er das Tier und bereitete ein Mahl zu, und dank seiner gütigen Gastfreundschaft verbrachte Nuʿmán die Nacht in Frieden und Behagen. Als die Dämmerung heraufzog, machte sich Nuʿmán für die Abreise fertig und sagte zu Ḥanzalá: »Du hast mir größte Freigebigkeit erwiesen, indem du mich aufgenommen und festlich bewirtet hast. Ich bin Nuʿmán, der Sohn des Mundhir, und warte sehnlichst darauf, dich an meinem Hofe begrüßen zu können.«
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Die Zeit ging dahin, Hungersnot zog ein im Lande Ṭayy. Ḥanzalá geriet in äußerste Not, und darum suchte er den König auf. Ein seltsamer Zufall fügte es, dass er am ›Tag des Übels‹ eintraf. Nuʿmán zeigte sich höchst beunruhigt. Er machte seinem Freund Vorwürfe: »Warum bist du gerade heute zu mir gekommen? Denn dies ist der ›Tag des Übels‹, das heißt der Tag des Zornes und der Pein. Selbst wenn mir heute Qábús, mein einziger Sohn, unter die Augen träte, käme er nicht mit dem Leben davon. Nun bitte mich um irgendeine Gunst, die du willst.«
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Ḥanzalá erwiderte: »Ich wusste nichts von eurem ›Tag des Übels‹. Die Gaben dieser Welt sind für die Lebenden da. Da ich jetzt den Tod erleiden muss, was nützen mir alle Vorräte dieser Welt?«
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»Daran ist nichts zu ändern«, sagte Nuʿmán.
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Ḥanzalá sprach: »So gewähre mir denn Aufschub, dass ich zu meinem Weib heimkehren und mein Testament machen kann. Im nächsten Jahr werde ich am ›Tag des Übels‹ wiederkommen.«
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Nuʿmán verlangte sodann einen Bürgen, der an Ḥanzalás statt hingerichtet werden sollte, falls dieser nicht zurückkehrte. Bestürzt und hilflos sah sich Ḥanzalá um. Da fiel sein Blick auf einen aus Nuʿmáns Gefolge, Sharík, den Sohn des Qays aus Shaybán, und an ihn wandte er sich mit den Worten: »O Sohn des ʿAmr, mein Gefährte! Gibt es irgendein Entkommen vor dem Tode? O du Bruder jedes Bedrängten, du Bruder des Bruderlosen, du Bruder Nuʿmáns! Du könntest dem Shaykh Bürgschaft leisten. Wo ist Shaybán, der Edelmütige – möge der Allbarmherzige ihm Gunst bezeigen!« Aber Sharík erwiderte nur: »O mein Bruder, ein Mann darf nicht sein Leben aufs Spiel setzen.« Da wusste das Opfer nicht mehr, wohin es sich wenden sollte. Doch ein Mann namens Qarád, Sohn Ajdaʿs des Kalbiten, stand auf und bot sich als Bürge an; er willigte ein, dass der König mit ihm, Qarád, tun könne, was er wolle, wenn er zum nächsten ›Tag des Zornes‹ das Opfer nicht auslieferte. Nuʿmán schenkte daraufhin Ḥanzalá fünfhundert Kamele und ließ ihn ziehen.
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