Shoghi Effendi | Die Weltordnung Bahá’u’lláhs
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Die Behauptung wäre jedoch müßig, allein der Krieg mit all seinen Folgeschäden, seinen entfesselten Leidenschaften und seiner Hinterlassenschaft an Leid sei verantwortlich für die beispiellose Verwirrung, in die fast jeder Lebensbereich der zivilisierten Welt gegenwärtig gestürzt ist. Ist es nicht eine Tatsache – und das ist der Kerngedanke, den ich hier betonen möchte –, dass die grundlegende Ursache dieser weltweiten Unruhe nicht so sehr den Auswirkungen dessen zuzuschreiben ist, was man früher oder später als eine vorübergehende Gewichtsverlagerung in den Angelegenheiten einer sich ständig wandelnden Welt betrachten wird, sondern vielmehr dem Versäumnis jener, die die unmittelbaren Schicksale von Völkern und Nationen in Händen halten, – dem Versäumnis, ihr System wirtschaftlicher und politischer Institutionen den zwingenden Notwendigkeiten eines Zeitalters stürmischer Entwicklung anzupassen? Gehen diese immer wiederkehrenden Krisen, die die heutige Gesellschaft durchzucken, nicht hauptsächlich zu Lasten der bedauerlichen Unfähigkeit der anerkannten Führer in der Welt, die Zeichen der Zeit richtig zu lesen, sich ein für alle Mal von ihren vorgefassten Meinungen, ihren engen Glaubensvorstellungen zu lösen und das Räderwerk ihrer jeweiligen Regierungen nach den Maßstäben zu erneuern, die sich aus Bahá’u’lláhs Verkündigung der Einheit der Menschheit, dem hauptsächlichen und hervorragenden Merkmal Seines Glaubens, zwingend ergeben? Denn dieses Prinzip der Einheit der Menschheit, Eckstein der weltumspannenden Herrschaft Bahá’u’lláhs, erfordert nicht mehr und nicht weniger als die Durchführung Seines Planes zur Vereinigung der Welt – des Planes, den wir bereits erwähnt haben. »In jeder Sendung«, schreibt ‘Abdu’l-Bahá, »war das Licht göttlicher Führung brennpunktartig auf ein zentrales Thema gerichtet … In dieser wundersamen Offenbarung, diesem herrlichen Jahrhundert, ist die Grundlage des Glaubens Gottes und das hervorstechende Merkmal Seines Gesetzes das Bewusstsein der Einheit der Menschheit.«
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Wie kläglich sind doch die Bemühungen jener Führer menschlicher Institutionen, welche in völliger Missachtung des Zeitgeistes bestrebt sind, nationale Verfahrensweisen, die längst vergangenen Tagen selbstgenügsamer Nationen entsprachen, einem Zeitalter anzupassen, das entweder, wie von Bahá’u’lláh vorgezeichnet, die Einheit der Welt erreichen oder aber zugrunde gehen muss. In einer so kritischen Stunde der Kulturgeschichte geziemt es den Führern aller Nationen der Erde, groß und klein, im Osten wie im Westen, Sieger oder Besiegte, dem Posaunenruf Bahá’u’lláhs Beachtung zu schenken und, völlig durchdrungen von einem Empfinden der Weltsolidarität, dem sine qua non der Treue zu Seiner Sache, sich mannhaft zu erheben, um den einen Heilsplan, den Er, der göttliche Arzt, für eine gequälte Menschheit verordnet hat, zur Gänze durchzuführen. Mögen sie ein für alle Mal jede vorgefasste Meinung, jedes nationale Vorurteil ablegen und den erhabenen Rat ‘Abdu’l-Bahás, des autorisierten Erklärers Seiner Lehren, beachten: »Sie können Ihrem Land am besten dienen«, erwiderte ‘Abdu’l-Bahá einem hohen Beamten im Dienste der Bundesregierung der Vereinigten Staaten von Amerika auf die Frage, wie er die Interessen seiner Regierung und seines Volkes am besten fördern könnte, »indem Sie in Ihrer Eigenschaft als Weltbürger bestrebt sind mitzuhelfen, dass das Prinzip des Föderalismus, das der Regierung Ihres eigenen Landes zugrunde liegt, endlich auf die Beziehungen angewandt wird, die jetzt zwischen den Völkern und Nationen der Welt bestehen.«Q
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In Das Geheimnis göttlicher Kultur, jenem hervorragenden Beitrag ‘Abdu’l-Bahás zur künftigen Neuordnung der Welt, lesen wir folgendes:
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»Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen und hochgesinnten Herrscher – leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschlossenheit – mit festem Entschluss und klarem Blick zu Nutz und Glück der ganzen Menschheit daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand gemeinsamer Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. Sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen eindeutig, unverletzlich und bestimmt sind. Sie müssen ihn der ganzen Welt bekannt geben und die Bestätigung der gesamten Menschheit für ihn erlangen. Dieses erhabene und edle Unterfangen – der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für alle Welt – sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein. Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und den Bestand dieses größten aller Bündnisse zu sichern. In diesem allumfassenden Vertrag sollten die Grenzen jedes einzelnen Landes deutlich festgelegt, die Grundsätze, die den Beziehungen der Regierungen untereinander zugrunde liegen, klar verzeichnet und alle internationalen Vereinbarungen und Verpflichtungen bekräftigt werden. In gleicher Weise sollte der Umfang der Rüstungen für jede Regierung genauestens umgrenzt werden, denn wenn die Zunahme der Kriegsvorbereitungen und Truppenstärken in irgendeinem Land gestattet würde, so würde dadurch das Misstrauen anderer geweckt werden. Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so festgelegt werden, dass bei späterer Verletzung einer Bestimmung durch eine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die gesamte Menschheit sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu stürzen. Sollte dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Weltkörper angewandt werden, so wird er sich gewiss wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.«‘Abdu’l-Bahá, Geheimnis göttlicher Kultur 120, S. 62–63 – Anm. d. Hrsg.Q
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»Einzelne«, fügt Er weiter hinzu, »welche die im menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen, halten diese Gedanken für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen, was selbst die äußersten Anstrengungen des Menschen je erreichen können; doch dies ist nicht der Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade Gottes, der Herzensgüte Seiner Begünstigten, den beispiellosen Bemühungen weiser und fähiger Seelen und den Gedanken der unvergleichlichen Führer dieses Zeitalters nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer, unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlusskraft kann das Werk vollbringen. Manches hat man in vergangenen Zeiten als reines Hirngespinst betrachtet; heute ist es leicht durchführbar geworden. Warum sollte diese wichtigste und erhabenste Sache – das Tagesgestirn am Himmelszelt wahrer Kultur und die Ursache des Ruhmes, des Fortschrittes, des Wohlergehens und Erfolges der ganzen Menschheit – unmöglich sein? Der Tag wird sicher kommen, an dem ihr klares Licht Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird.«‘Abdu’l-Bahá, Geheimnis göttlicher Kultur 122, S. 64 – Anm. d. Hrsg.Q
Die sieben Lichtstrahlen der Einheit
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Um Sein hehres Thema weiter zu erläutern, offenbarte ‘Abdu’l-Bahá in einem Seiner Sendschreiben folgendes:
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»Obwohl in vergangenen Religionszyklen Einklang begründet wurde, war in Ermangelung der Mittel die Einheit der Menschheit unerreichbar. Die Kontinente blieben weit voneinander getrennt, ja sogar unter den Völkern ein und desselben Kontinents waren Verbindung und Austausch nahezu unmöglich. Infolgedessen waren Umgang, Verständigung und Einheit zwischen allen Völkern und Geschlechtern der Erde unerreichbar. Heute jedoch haben sich die Kommunikationsmittel vervielfacht, und die fünf Kontinente der Erde sind im Grunde genommen zu einem Ganzen verschmolzen. … Ebenso sind alle Glieder der menschlichen Familie, ob Völker oder Regierungen, Städte oder Dörfer, in steigendem Maße voneinander abhängig geworden. Keiner kann mehr in Selbstgenügsamkeit leben, weil politische Bindungen alle Völker und Nationen vereinen, die Bande des Handels und der Industrie, der Landwirtschaft und des Bildungswesens Tag für Tag stärker werden. Folglich ist die Einheit der ganzen Menschheit heutzutage erreichbar geworden. Wahrlich, dies istnur eines der Wunder dieses wunderbaren Zeitalters; dieses ruhmreichen Jahrhunderts. Die vergangenen Zeitalter waren all dessen beraubt, denn dieses Jahrhundert – das Jahrhundert des Lichtes – ist mit einzigartiger, unvergleichlicher Herrlichkeit, mit Macht und Erleuchtung ausgestattet worden. Darum entfaltet sich mit jedem Tag ein ungeschautes, erstaunliches Wunder. Schließlich wird man sehen, wie hell seine Lichtstrahlen in der Gemeinschaft der Menschen leuchten werden.
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Sieh, wie dieses Licht nun am dunklen Horizont der Welt zu dämmern beginnt! Der erste Lichtstrahl ist die Einheit im politischen Bereich; der allererste Schimmer davon lässt sich nunmehr erkennen. Der zweite Lichtstrahl ist die Einheit des Denkens in weltweiten Unternehmungen, die bald vollzogen werden wird. Der dritte Lichtstrahl ist die Einheit in der Freiheit, die sicherlich eintreten wird. Der vierte Lichtstrahl ist die Einheit in der Religion, der Eckstein, auf dem die Grundlage ruht; auch sie wird durch die Macht Gottes in ihrer ganzen Strahlenfülle offenbar werden. Der fünfte Lichtstrahl ist die Einheit der Nationen – eine Einheit, die in diesem Jahrhundert sicher begründet werden wird, so dass sich alle Völker der Welt als Bürger eines gemeinsamen Vaterlandes betrachten. Der sechste Lichtstrahl ist die Einheit der Rassen, die alle Erdenbewohner zu Völkern und Geschlechtern einer Rasse macht. Der siebte Lichtstrahl ist die Einheit der Sprache, das heißt die Wahl einer universalen Sprache, in der alle Menschen unterrichtet werden und miteinander verkehren. All dies wird unausweichlich eintreten, weil die Macht des Reiches Gottes seine Verwirklichung fördern und unterstützen wird.«‘Abdu’l-Bahá, in: Briefe und Botschaften 15:6–7 – Anm. d. Hrsg.Q
Ein Welt-Überstaat
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In Seinem Sendschreiben an Königin Viktoria wandte sich Bahá’u’lláh vor über 60 Jahrenum 1870 – Anm. d. Hrsg.A an die »Schar der Herrscher auf Erden« und offenbarte folgende Worte:
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»Beratet miteinander über das, was der Menschheit nützt und ihre Lage bessert …. Betrachtet die Welt wie einen menschlichen Leib, der bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, jedoch aus vielerlei Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen wurde. Nicht einen Tag lang wurde ihm Linderung zuteil, nein, seine Krankheit verschlimmerte sich noch, weil er in die Hände unfähiger Ärzte fiel, die sich nur von ihren persönlichen Wünschen leiten ließen und sich schmählich irrten. Und wurde einmal ein Organ von einem fähigen Arzt geheilt, so blieb doch der Rest so krank wie zuvor. So unterrichtet euch der Allwissende, der Allweise. … Die wirksamste Arznei, das mächtigste Mittel, das der Herr für die Heilung der Welt verfügt hat, ist die Vereinigung aller Völker in einer allumfassenden Sache, in einem gemeinsamen Glauben. Nur ein allmächtiger, erleuchteter Arzt hat die Fähigkeit, diese Einheit zu stiften. Bei Meinem Leben, dies ist die Wahrheit, und alles andere nichts als Irrtum.«Bahá’u’lláh, Lawḥ-i-Malikih, in: Anspruch und Verkündigung 1:174, 1:176 – Anm. d. Hrsg.Q
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In einem weiteren Abschnitt fügt Bahá’u’lláh diese Worte hinzu: »Wir sehen euch Jahr um Jahr eure Ausgaben vermehren und diese Lasten euren Untertanen aufbürden. Das ist, wahrlich, ein großes Unrecht. Fürchtet die Seufzer und Tränen dessen, dem Unrecht geschah, und belastet eure Völker nicht … Versöhnt euch miteinander, so dass ihr nicht mehr an Rüstung benötigt, als der Schutz eurer Herrschaftsgebiete erfordert. Hütet euch, den Rat des Allwissenden, des Getreuen, zu missachten. Seid einig, o Könige auf Erden, denn nur so wird der Sturm der Zwietracht gestillt, und nur so werden eure Völker Ruhe finden – o dass ihr es verstündet! Wenn einer von euch gegen einen anderen zu den Waffen greift, so geht vereint gegen ihn vor, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.«Bahá’u’lláh, Lawḥ-i-Malikih, in: Anspruch und Verkündigung 1:179, 1:181–182 – Anm. d. Hrsg.Q
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Was anderes können diese schwerwiegenden Worte bedeuten als den Hinweis, dass die Einschränkung der vollen nationalen Souveränität als unerlässlicher erster Schritt zur Bildung des künftigen Gemeinwesens aller Nationen der Erde unumgänglich geworden ist? Ein Welt-Überstaat, an den alle Nationen der Erde willig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und alle Rechte auf Kriegsrüstung außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten – ein solcher Staat muss notwendigerweise in irgendeiner Form entwickelt werden. Sein Organisationsrahmen wird eine internationale Exekutive einschließen müssen, die jedem widerspenstigen Mitglied der Gemeinschaft ihre höchste und unantastbare Autorität aufzwingen kann; ein Weltparlament, dessen Mitglieder durch das Volk aller Länder gewählt werden und in ihrer Amtsübernahme von den jeweiligen Regierungen bestätigt werden, sowie einen Obersten Gerichtshof, dessen Urteil bindende Gültigkeit haben wird, selbst in Fällen, in denen die Parteien ihren Streit nicht freiwillig seiner Rechtsfindung unterwerfen. Eine Weltgemeinschaft, in der alle wirtschaftlichen Schranken für immer niedergerissen werden, in der die gegenseitige Abhängigkeit von Kapital und Arbeit ausdrücklich anerkannt wird, in der das Geschrei religiösen Eifers und Streites endgültig verstummt ist, in der die Flamme des Rassenhasses ein für alle Mal gelöscht ist, deren einheitliches System internationalen Rechts als Ergebnis der wohlüberlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter durch das sofortige, zwingende Eingreifen der vereinten Streitkräfte der Verbündeten sanktioniert wird; und schließlich: eine Weltgemeinschaft, in der der Sturm eines tollkühn-militanten Nationalismus in ein dauerhaftes Bewusstsein des Weltbürgertums verwandelt ist – so wahrlich sieht, in groben Zügen gezeichnet, die von Bahá’u’lláh vorausgeschaute Ordnung aus, eine Ordnung, die einmal als die edelste Frucht eines langsam heranreifenden Zeitalters betrachtet werden wird.
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»Das Tabernakel der Eintracht«, verkündet Bahá’u’lláh in Seiner Botschaft an die ganze Menschheit, »ist errichtet; betrachtet einander nicht als Fremde. … Ihr seid die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges. … Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger. … Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt.«Bahá’u’lláh, vgl. Lawḥ-i-Maqṣúd, Ishráqát, in: Botschaften aus ‘Akká 11:5, 8:56, 11:12, 8:56 – Anm. d. Hrsg.Q
Einheit in der Mannigfaltigkeit
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Der belebende Sinn des weltweiten Gesetzes Bahá’u’lláhs darf keine Befürchtungen hervorrufen. Weit davon entfernt, auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung abzuzielen, sucht es ihre Grundlage zu erweitern, ihre Institutionen in einer Weise umzugestalten, die mit den Bedürfnissen einer stets sich wandelnden Welt in Einklang steht. Es kann mit keiner rechtmäßigen Untertanenpflicht in Widerspruch sein, noch kann es wirkliche Treue untergraben. Seine Absicht ist weder, die Flamme einer vernünftigen Vaterlandsliebe in den Herzen der Menschen zu ersticken, noch den Grundsatz nationaler Selbständigkeit abzuschaffen, der so wesentlich ist, wenn die Übel übertriebener Zentralisation vermieden werden sollen. Es übersieht weder die Verschiedenheiten der völkischen Herkunft, des Klimas, der Geschichte, Sprache und Überlieferung, des Denkens und der Gewohnheit, die die Völker und Länder der Welt unterschiedlich gestalten, noch versucht es, sie auszumerzen. Es ruft nach größerer Treue, stärkerem Bemühen als irgendein anderes, das je die Menschenwelt beseelt hat. Es besteht auf der Unterordnung nationaler Regungen und Belange unter die zwingenden Ansprüche einer geeinten Welt. Es verwirft einerseits die übersteigerte Zentralisation und entsagt zum andern allen Versuchen der Gleichmacherei. Seine Losung ist Einheit in der Mannigfaltigkeit, wie ‘Abdu’l-Bahá selbst erklärte:
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»Betrachtet die Blumen eines Gartens. Obwohl sie nach Art, Farbe, Form und Gestalt verschieden sind, werden sie doch vom Wasser einer Quelle erfrischt, vom selben Windhauch belebt und von den Strahlen einer Sonne gestärkt, und so erhöht die Verschiedenheit ihren Reiz und steigert ihre Schönheit. Wie unerfreulich wäre es für das Auge, wenn alle Blumen und Pflanzen, Blätter und Blüten, Früchte, Zweige und Bäume jenes Gartens die gleiche Form und Farbe hätten! Verschiedenheit in Farbe, Form und Gestalt bereichert und verschönert den Garten und erhöht dessen Ausdruck. Werden verschiedene Schattierungen von Gedanken, Temperamenten und Charakteren unter der Macht und dem Einfluss einer zentralen Kraftquelle zusammengeführt, so wird in gleicher Weise die Schönheit und der Glanz menschlicher Vollkommenheit offenbar und sichtbar werden. Nichts als die himmlische Macht des Wortes Gottes, die die Wirklichkeit aller Dinge beherrscht und übersteigt, ist fähig, die auseinandergehenden Gedanken, Gefühle, Ideen und Überzeugungen der Menschenkinder in Einklang zu bringen.«‘Abdu’l-Bahá, in: Sendschreiben zum göttlichen Plan 14:4 – Anm. d. Hrsg.Q
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Der Ruf Bahá’u’lláhs ist in erster Linie gegen jede Art von Provinzialismus, jede Engstirnigkeit, jedes Vorurteil gerichtet. Wenn lang gehegte Ideale, wenn altehrwürdige Institutionen, wenn gesellschaftliche Postulate und religiöse Glaubensbekenntnisse das Wohl der Gesamtheit aller Menschen nicht mehr fördern, wenn sie den Bedürfnissen einer sich ständig entwickelnden Menschheit nicht länger gerecht werden, dann fegt sie hinweg und verbannt sie in die Rumpelkammer veralteter und vergessener Doktrinen! Warum sollten sie in einer Welt, die dem unabänderlichen Gesetz des Wandels und des Verfalls unterliegt, von der Entartung verschont bleiben, die alle menschlichen Einrichtungen zwangsläufig ereilt? Rechtsnormen, politische und wirtschaftliche Theorien sind nur dazu da, die Interessen der Menschheit als Ganzes zu schützen; nicht aber ist die Menschheit dazu da, für die unversehrte Aufrechterhaltung eines bestimmten Gesetzes oder Lehrsatzes gekreuzigt zu werden.
Das Prinzip der Einheit
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Hier darf sich kein Denkfehler einschleichen! Der Grundsatz der Einheit der Menschheit – der Angelpunkt, um den alle Lehren Bahá’u’lláhs kreisen – ist kein bloßer Ausdruck unkundiger Gefühlsseligkeit oder unklarer frommer Hoffnung. Sein Ruf ist nicht gleichbedeutend mit einer bloßen Wiedererweckung des Geistes der Brüderlichkeit und des guten Willens unter den Menschen, noch geht es nur um die Förderung harmonischer Zusammenarbeit zwischen einzelnen Völkern und Ländern. Die Folgerungen gehen tiefer, der Anspruch ist höher als alles, was den früheren Propheten zu äußern erlaubt war. Die Botschaft gilt nicht nur dem einzelnen, sondern befasst sich in erster Linie mit der Natur jener notwendigen Beziehungen, die alle Staaten und Nationen als Glieder einer menschlichen Familie verbinden müssen. Der Grundsatz der Einheit stellt nicht nur die Verkündigung eines Ideals dar, sondern ist unzertrennlich mit einer Institution verbunden, die seine Wahrheit verkörpert, seine Gültigkeit bekundet und seinen Einfluss dauernd zur Geltung bringt. Er verlangt eine organische, strukturelle Veränderung der heutigen Gesellschaft, eine Veränderung, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat. Er stellt eine Herausforderung, kühn und weltumfassend, für die nationalen Glaubensparolen dar, deren Zeit vorüber ist und die im normalen Verlauf der Ereignisse, wie die Vorsehung sie formt und fügt, einem neuen Evangelium Platz machen müssen, das grundlegend anders und unendlich höherwertig ist als das, was die Welt bis jetzt begriffen hat. Er fordert nichts Geringeres als den Wiederaufbau und die Entmilitarisierung der ganzen zivilisierten Welt, einer Welt, die in allen Grundfragen des Lebens, in ihrem politischen Mechanismus, ihren geistigen Bestrebungen, in Handel und Finanzwesen, Schrift und Sprache organisch zusammengewachsen und doch in den nationalen Eigentümlichkeiten ihrer verbündeten Staatenglieder von einer unendlichen Mannigfaltigkeit ist.
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Er stellt die Vollendung der menschlichen Entwicklung dar, einer Entwicklung, die ihren Uranfang in der Geburt des Familienlebens hat, deren weitere Entfaltung zur Stammeseinheit und zur Bildung des Stadtstaates führte, und die sich später zur Bildung unabhängiger, souveräner Nationen erweiterte.
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Das Prinzip der Einheit der Menschheit, wie Bahá’u’lláh es verkündet, bringt nicht mehr und nicht weniger als die heilige Versicherung mit sich, dass der Durchbruch zu dieser letzten Stufe einer unendlich langen Entwicklung nicht nur notwendig, sondern unumgänglich ist, dass sich seine Verwirklichung rasch nähert und dass nichts außer einer Kraft, die aus Gott geboren ist, ihn erfolgreich herbeiführen kann.
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Dieser wundervolle Plan findet seine ersten Kundgebungen in dem bewussten Bemühen und den bescheidenen praktischen Erfolgen der erklärten Anhänger Bahá’u’lláhs, die, der Erhabenheit ihrer Berufung eingedenk und in die veredelnden Grundsätze Seiner Gemeinschaftsordnung eingeweiht, voranstreben, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Mittelbar drückt sich dieser Plan in der allmählichen Verbreitung des Geistes der Weltsolidarität aus, der spontan aus dem Wirrwarr einer ungeordneten Gesellschaft aufsteigt.
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Es wäre anregend, das geschichtliche Wachstum und die Entfaltung dieses erhabenen Gottesplanes, der in steigendem Maße die Aufmerksamkeit der für das Schicksal von Völkern und Nationen Verantwortlichen auf sich ziehen muss, zu verfolgen. Den Staaten und Fürstentümern, die aus den Wirren der großen napoleonischen Umwälzung ans Licht traten und deren Hauptziel es war, ihre Rechte auf selbstbestimmte Existenz wiederzugewinnen oder aber ihre nationale Einheit zu erlangen, schien ein Plan der Weltsolidarität nicht nur ferne Phantasie, sondern schlechthin unbegreiflich. Erst als die Kräfte des Nationalismus die Grundlagen der Heiligen Allianz, die ihre aufkommende Macht zu zügeln suchte, umgestoßen hatten, wurde die Möglichkeit einer Weltordnung, die in ihrer Reichweite die politischen Einrichtungen dieser Nationen überragt, ernsthaft erwogen. Erst nach dem Weltkrieg begannen diese Vertreter eines hochmütigen Nationalismus damit, eine solche Weltordnung als Gegenstand einer verderblichen Lehre zu betrachten, die nur darauf abzielte, die Loyalität, von der ihr nationales Leben abhängt, zu untergraben. Mit demselben Nachdruck, mit dem die Mitglieder der Heiligen Allianz den aufkommenden Nationalismus in den vom napoleonischen Joch befreiten Völkern zu ersticken suchten, kämpften und kämpfen diese Verfechter einer uneingeschränkten nationalen Souveränität, um Grundsätze unglaubwürdig zu machen, von denen ihre eigene Rettung letztlich abhängen muss.
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Die hitzige Opposition, die dem misslungenen Versuch des Genfer ProtokollsGenfer Protokoll über die Ächtung des Angriffskrieges 1924 – Anm. d. Hrsg.A entgegenprallte, der Spott, mit dem man den nachfolgenden Vorschlag der Vereinigten Staaten von Europa überschüttete, und der Fehlschlag des Rahmenplanes für eine europäische Wirtschaftsunion können als Rückschläge in den Bemühungen betrachtet werden, die eine Handvoll weitsichtiger Menschen ernsthaft unternimmt, um diesem edlen Ideal näher zu kommen. Und doch: Haben wir nicht das Recht, neuen Mut zu schöpfen, wenn wir feststellen, dass bereits die Diskussion solcher Vorschläge ein Beweis für ihr ständiges Wachstum in den Gedanken und Herzen der Menschen ist? Können wir nicht in den organisierten Versuchen, einen so erhabenen Plan zu verunglimpfen, auf einer breiteren Ebene die Wiederholung jener aufwühlenden Kämpfe und hitzigen Kontroversen sehen, die der Geburt der geschlossenen Nationalstaaten des Westens vorangingen und zu ihrem Wiederaufbau beitrugen?
Die Föderation der Menschheit
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Nehmen wir nur ein Beispiel: Wie überzeugt klangen die Erklärungen, die in den Tagen vor der Vereinigung der Staaten des nordamerikanischen Kontinents über die unüberwindlichen Schranken auf dem Weg zu diesem Zusammenschluss abgegeben wurden! Hat man nicht ausführlich und nachdrücklich dargelegt, die widersprüchlichen Interessen, das gegenseitige Misstrauen, die Unterschiede in Amtsführung und Brauchtum zwischen den Staaten seien so stark, dass keine geistliche oder weltliche Macht jemals hoffen dürfe, sie zu harmonisieren oder zu beherrschen? Und doch, wie verschieden waren die vor 150 Jahrenum 1780 – Anm. d. Hrsg.A herrschenden Bedingungen von denen, die für die heutige Gesellschaft bezeichnend sind! Ohne Übertreibung kann man sagen, dass das Fehlen jener Erleichterungen, die der neueste wissenschaftliche Fortschritt der heutigen Menschheit dienstbar machte, das Problem, die amerikanischen Staaten zu einem Bund zu verschweißen, weit komplizierter machte als es die Aufgabe ist, der eine gespaltene Menschheit bei ihrem Bemühen um Welteinheit gegenübersteht.
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Wer weiß andererseits, ob nicht für die Verwirklichung eines so erhabenen Planes noch schlimmere Leiden über die Menschheit kommen müssen als alle, die sie bis jetzt ausgestanden hat? Konnte etwas Geringeres als das Feuer eines Bürgerkrieges mit all seiner Gewalttätigkeit und seinen Wechselfällen – ein Krieg, der die große amerikanische Republik fast gespalten hätte – die Staaten nicht nur zu einem Bund unabhängiger Einheiten, sondern zu einer Nation verschmelzen, trotz all der völkischen Unterschiede, die ihre Bestandteile charakterisieren? Dass eine so grundlegende Umwälzung mit einem so weitreichenden Wandel in der Gesellschaftsstruktur auf dem gewöhnlichen Weg der Diplomatie und der Erziehung erreicht werden kann, scheint höchst unwahrscheinlich. Wir brauchen nur die blutgetränkte Menschheitsgeschichte zu betrachten, um festzustellen, dass allein die heftigste geistige und körperliche Pein imstande war, derart epochemachende Wandlungen, wie sie die wichtigsten Wahrzeichen der Kulturentwicklung bilden, rasch herbeizuführen.
Das Feuer des Gottesgerichts
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So groß und weitreichend jene früheren Veränderungen auch gewesen sind – in ihrer richtigen Perspektive betrachtet, können sie doch nur als zweitrangige Anpassungsvorgänge erscheinen, als Vorspiel für diese Wandlung von unvergleichlicher Majestät und Reichweite, die die Menschheit in unserem Zeitalter erdulden muss. Dass nur die Kräfte einer Weltkatastrophe eine derart neue Phase menschlichen Denkens vorantreiben können, wird leider immer deutlicher. Dass nichts Geringeres als das Feuer eines harten Gottesgerichts, heftiger als je zuvor, die uneinigen Elemente der heutigen Zivilisation zu sich ergänzenden Bestandteilen des künftigen Weltgemeinwesens verschweißen und verschmelzen kann, ist eine Wahrheit, die künftige Ereignisse immer mehr beweisen werden.
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Die prophetische Stimme Bahá’u’lláhs warnte in den abschließenden Sprüchen der Verborgenen Worte »die Völker der Welt«, dass »unerwartete Trübsal sie verfolgt und schmerzhafte Vergeltung ihrer harrt«vgl. Bahá’u’lláh, Verborgene Worte pers. 63 – Anm. d. Hrsg.Q. Dies wirft in der Tat ein gespenstisches Licht auf die unmittelbaren Geschicke einer bekümmerten Menschheit. Nur eine Feuerprobe, aus der diese Menschheit geläutert und vorbereitet wiederersteht, kann ihr ein Gefühl für die Verantwortung einbrennen, welche die Führer eines neugeborenen Zeitalters auf ihre Schultern nehmen müssen.
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Zum wiederholten Male möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf jene bedeutenden Worte Bahá’u’lláhs lenken, die ich bereits angeführt habe: »Und wenn die festgesetzte Stunde kommt, wird plötzlich erscheinen, was der Menschheit Glieder zittern macht.«Bahá’u’lláh, in: Ährenlese 61:1 – Anm. d. Hrsg.Q
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Hat nicht ‘Abdu’l-Bahá selbst in unzweideutiger Sprache versichert, dass »ein zweiter Krieg, grimmiger als der letzte, sicherlich ausbrechen wird«‘Abdu’l-Bahá, in: Briefe und Botschaften 228:2 – Anm. d. Hrsg.Q?
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Von der Vollendung dieses kolossalen, dieses unsagbar ruhmreichen Unternehmens – eines Unternehmens, das die Erfindergabe römischer Staatskunst in Verwirrung stürzte, vor dem die verzweifelten Kraftakte eines Napoleon versagten – wird die endgültige Verwirklichung jenes Tausendjährigen Reiches abhängen, von dem die Dichter aller Zeiten sangen und die Seher seit alters träumten. Von dieser Vollendung wird es abhängen, dass die Verheißungen der alten Propheten sich erfüllen, wonach die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden und der Löwe und das Lamm beisammen ruhen. Allein diese Vollendung kann zum Reich des Himmlischen Vaters führen, wie es der Glaube Jesu Christi verheißen hat. Allein diese Vollendung kann das Fundament für die neue Weltordnung, wie sie Bahá’u’lláh vor Augen stand, legen – eine Weltordnung, die, wenn auch nur schwach, auf Erden den unbeschreiblichen Strahlenglanz des Reiches Abhá widerspiegeln wird.
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Ein weiteres Wort zum Beschluss: Die Verkündigung der Einheit der Menschheit – der Eckstein der allumfassenden Herrschaft Bahá’u’lláhs – kann unter keinen Umständen mit solchen Verlautbarungen frommer Hoffnung verglichen werden, wie sie früher geäußert wurden. Bahá’u’lláh hat nicht nur einen Ruf erschallen lassen, allein und ohne Hilfe im Angesicht des hartnäckigen, vereinten Widerstandes zweier der mächtigsten orientalischen Herrscher Seiner Zeit, während Er selbst ein Verbannter und Gefangener in ihren Händen war. Sein Ruf enthält zugleich eine Warnung und ein Versprechen: eine Warnung, dass in ihm selbst das einzige Mittel zum Heil einer grausam leidenden Welt liegt, und ein Versprechen, dass die Verwirklichung dieses Heils nahe bevorsteht.
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Verkündet zu einer Zeit, als man seine Möglichkeit noch in keinem Teil der Erde ernstlich ins Auge fasste, wird dieser Ruf kraft der himmlischen Macht des Geistes Bahá’u’lláhs heute von einer wachsenden Zahl denkender Menschen nicht nur als eine sich anbahnende Möglichkeit betrachtet, sondern als das notwendige Ergebnis der Kräfte, die in unserer Welt am Werke sind.
Das Sprachrohr Gottes
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Sicherlich hat es diese Welt – durch den erstaunlichen Fortschritt im Reich der Physik sowie durch die weltweite Ausdehnung von Handel und Industrie zusammengeschrumpft und in einen eng verflochtenen Organismus verwandelt, unter dem lastenden Druck der weltwirtschaftlichen Mächte und inmitten der Fallgruben einer materialistischen Zivilisation – bitter nötig, dass ihr die Wahrheit, die allen Offenbarungen der Vergangenheit zugrunde liegt, neu dargereicht wird, und zwar in einer Sprache, die ihren wesentlichen Bedürfnissen entspricht. Und welche Stimme außer Bahá’u’lláh, dem Sprachrohr Gottes für dieses Zeitalter, ist imstande, eine Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen, so radikal wie die Veränderung, die Er bereits in den Herzen jener Männer und Frauen bewirkte, die aus ihrer scheinbaren Verschiedenartigkeit und Unversöhnlichkeit zur Körperschaft Seiner erklärten Anhänger auf der ganzen Erde zusammengewachsen sind?
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Dass eine so mächtige Idee im menschlichen Denken rasch aufblühen wird, dass sich Stimmen zu ihrer Unterstützung erheben werden, dass ihre wesentlichen Strukturen im Bewusstsein der Machthaber rasch kristallisieren müssen, kann in der Tat kaum jemand bezweifeln. Dass ihre bescheidenen Anfänge in der weltweiten Gemeinschaftsordnung, die das Wesen der Anhängerschaft Bahá’u’lláhs ausmacht, bereits Gestalt annehmen, können nur jene, deren Herzen vom Vorurteil vergiftet sind, übersehen.
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