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0_1Das Universale Haus der Gerechtigkeit0_227. April 20170_3An einen einzelnen Gläubigen0_4Lieber Bahá’í-Freund,1das Universale Haus der Gerechtigkeit hat Ihren E-Mail-Brief vom 31. Januar 2017 erhalten, in dem Sie um Rat bitten, welchen Spielraum Bahá’í haben, um sich in sozialem Handeln und öffentlichem Diskurs zu engagieren, insbesondere in Bezug auf den Grundsatz der Nichteinmischung in politische Angelegenheiten. Wir sind gebeten worden, Ihnen Folgendes zu übermitteln.2Ihr aufrichtiger Wunsch, die Grundsätze des Glaubens anzuwenden, um die Missstände in der Gesellschaft zu beseitigen, wird von Herzen anerkannt. Das Haus der Gerechtigkeit stimmt mit vielen Ihrer durchdachten Vorschläge überein und möchte Ihnen einige zusätzliche Anregungen für Ihre Überlegungen geben.3Wie Sie zweifelsohne wissen, schrieb Shoghi Effendi bei der Erörterung des Grundsatzes der Nichteinmischung in die Politik, dass die Bahá’í „vermeiden [sollten], sich in Worten oder in Taten auf die politischen Bestrebungen ihrer jeweiligen Nation, auf die Diplomatie ihrer Regierung, auf die Aktionspläne und Programme von Parteien und Interessengruppen einzulassen“
. In politischen Kontroversen sollten sie „niemandem an irgendetwas die Schuld geben, keine Partei ergreifen, keinerlei Pläne fördern und sich selbst mit keinem System identifizieren, das den besten Interessen der weltweiten Bruderschaft, die zu behüten und zu fördern ihr eigenes Ziel ist, Abbruch tun könnte“
. Sie sind aufgerufen, „die von den Bestrebungen der Politiker untrennbaren Verwicklungen und Streitigkeiten zu meiden“
. Und sie sollen sich „über jegliche Absonderung und Parteilichkeit, über den fruchtlosen Wortstreit, die kleinlichen Berechnungen und die vergänglichen Leidenschaften erheben, die das Antlitz einer sich wandelnden Welt erregen und ihre Aufmerksamkeit fesseln.“
Bahá’í und Bahá’í-Institutionen sollten nicht zu politischen Entscheidungen von Regierungen Stellung nehmen, auch nicht zu Streitigkeiten zwischen Regierungen verschiedener Nationen; sie sollten sich nicht in Debatten über politische Kontroversen einmischen und weder mündlich noch anderweitig in einer Weise reagieren, die als Beweis für die Unterstützung eines parteipolitischen Standpunktes verstanden werden könnte. Es steht einem Bahá’í nicht zu, in Kommentaren bestimmte Personen, Organisationen oder Regierungen zu verunglimpfen oder sie anzugreifen. In der Tat hat der Hüter die Freunde ausdrücklich davor gewarnt, sich in ihren öffentlichen Äußerungen auf politische Persönlichkeiten zu beziehen, sei es als Kritik oder als Unterstützung.4Außerdem forderten Bahá’u’lláh und ʻAbdu’l-Bahá die Bahá’í auf, der Regierung ihres Landes gegenüber gehorsam zu sein. Einigkeit, Ordnung und Zusammenarbeit sind die Grundlage für einen gesunden und dauerhaften Wandel. Selbst ziviler Ungehorsam in Form einer bewussten Entscheidung, gegen das Gesetz zu verstoßen, um einen sozialen Wandel herbeizuführen, ist für Bahá’í nicht akzeptabel – ganz gleich, welche Verdienste er in bestimmten politischen Situationen gehabt haben mag. Letztlich hat der Gehorsam gegenüber der Regierung einen Einfluss auf die Einheit der Bahá’í-Gemeinde selbst. In einem in seinem Auftrag geschriebenen Brief erklärte Shoghi Effendi, dass die einzelnen Bahá’í nicht in die „fehlerhaften Systeme der Welt“
eintauchen oder ihre Regierung als „gerecht oder ungerecht“
beurteilen sollten – „denn jeder Gläubige würde mit Sicherheit einen anderen Standpunkt vertreten, und innerhalb unserer eigenen Bahá’í-Gemeinde würde eine Brutstätte der Uneinigkeit entstehen und unsere Einheit zerstören.“
Diese Überlegungen bedeuten jedoch nicht, dass man die Handlungen oder die Politik der eigenen Regierung gutheißt. Wie Shoghi Effendi in einem anderen, in seinem Auftrag geschriebenen Brief erklärte: „Der Grundsatz des Gehorsams gegenüber der Regierung verpflichtet keinen Bahá’í, die Lehren seines Glaubens mit dem politischen Programm zu identifizieren, das von der Regierung durchgesetzt wird. Denn eine solche Identifizierung wäre nicht nur falsch und widerspräche sowohl dem Geist als auch der Form der Bahá’í-Botschaft, sondern würde auch zwangsläufig einen Gewissenskonflikt in jedem loyalen Gläubigen hervorrufen.“
5Die Grundsätze der Nichteinmischung in die Politik und des Gehorsams gegenüber der Regierung sind keineswegs Hindernisse für soziale Veränderungen, sondern Aspekte eines Ansatzes, der in den Bahá’í-Schriften dargelegt wird, um wirksame Abhilfemaßnahmen zu ergreifen und die Ursachen für Missstände in der Gesellschaft zu bekämpfen. Dieser Ansatz schließt die aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ebenso ein wie die Möglichkeit, die Sozialpolitik der Regierung mit allen rechtmäßigen Mitteln zu beeinflussen und zu ihr beizutragen. In der Tat ist der Dienst am Nächsten und an der Gesellschaft ein Kennzeichen des Bahá’í-Lebens. Und Shoghi Effendi hat erklärt: „Der Verwaltungsapparat der Sache Gottes, des sollten wir uns gleichfalls bewusst sein, ist so gestaltet worden, dass ihm nach den Vorkehrungen Bahá’u’lláhs all das, was als notwendig erachtet wird, um diese Sache an der Spitze aller fortschrittlichen Bewegungen zu halten, getrost einverleibt werden kann.“
Die Art und Weise, wie die Bahá’í versuchen, einen sozialen Wandel zu bewirken, wird in der Botschaft des Hauses der Gerechtigkeit an die Bahá’í im Iran vom 2. März 2013 beschrieben. Eine Kopie dieser Botschaft ist zu Ihrer Kenntnisnahme beigefügt.6Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass die Bahá’í sich den Bemühungen um einen sozialen Wandel verpflichtet fühlen. „So sehr die Freunde sich hüten müssen, jemals den Anschein zu erwecken, als wollten sie sich oder den Glauben mit einer politischen Partei identifizieren“
, mahnte Shoghi Effendi durch seinen Sekretär, „so müssen sie sich auch vor dem anderen Extrem hüten, niemals mit anderen fortschrittlichen Gruppen zusammenarbeiten zu wollen, etwa in Konferenzen oder Komitees zur Förderung von Aktivitäten, die völlig mit unseren Lehren übereinstimmen, wie zum Beispiel für bessere Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft.“
Diese Beteiligung an Aktivitäten für soziale Reformen und das Wohlergehen kann unter bestimmten Umständen sogar bis zur Teilnahme an Demonstrationen gehen. In einem Brief, der im Auftrag des Hüters geschrieben wurde, heißt es, dass er keine Einwände dagegen hat, dass Bahá’í-Studenten als Bahá’í an einer Demonstration gegen rassistische Vorurteile auf dem Campus teilnehmen, da „nichts Politisches daran ist“
und „er nicht versteht, wie sie gleichgültig bleiben können, wenn Kommilitonen unsere eigene Bahá’í-Haltung zu einem so wichtigen Thema zum Ausdruck bringen, das uns so sehr am Herzen liegt.“
So steht es den einzelnen Bahá’í frei, sich an jenen Bemühungen und Aktivitäten zu beteiligen, wie z.B. an friedlichen Kundgebungen, die konstruktive, im Einklang mit den Bahá’í-Lehren stehende Ziele verfolgen, z.B. die Förderung der Frauen, die Förderung sozialer Gerechtigkeit, den Schutz der Umwelt, die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung und die Wahrung der Menschenrechte.7Bei der Entscheidung darüber, ob es für Bahá’í angemessen ist, an bestimmten öffentlichen Aktivitäten teilzunehmen, sollte eine deutliche Abgrenzung zwischen Veranstaltungen mit und ohne parteipolitischem Charakter getroffen werden. Eine weitere Unterscheidung kann zwischen solchen Aktivitäten getroffen werden, die voll und ganz im Einklang mit den Lehren stehen und ausdrücklich von Bahá’í-Institutionen unterstützt werden können, und solchen, bei denen die Situation weniger eindeutig ist und an denen Bahá’í-Institutionen nicht teilnehmen sollten, bei denen aber Einzelpersonen ein gewisser Spielraum für eine persönliche Entscheidung zur Teilnahme eingeräumt werden kann, ohne dass in irgendeiner Weise der Eindruck entsteht, dass sie durch ihre Entscheidung den Glauben direkt vertreten. Wenn ein Gläubiger Zweifel an der Angemessenheit einer Teilnahme an einer bestimmten Veranstaltung oder an einem bestimmten Ansatz hat, sollte er sich an den Nationalen Geistigen Rat wenden, der am besten in der Lage ist, die spezifischen Umstände zu beurteilen und der für die endgültige Entscheidung in solchen Fragen verantwortlich ist.8Neben dieser Klärung der Grundprinzipien gibt es weitere wichtige Überlegungen. Allzu oft sind politische Ziele, selbst wenn sie im Namen der Gerechtigkeit verfolgt werden, eine Schimäre, denn die grundsätzliche Parteilichkeit im heutigen politischen Leben führt dazu, dass politische Maßnahmen oft ohne Konsens umgesetzt werden und somit die Saat für Unzufriedenheit und anhaltende politische Kämpfe gelegt wird. Konflikte und Auseinandersetzungen führen letztlich zu weiteren Konflikten und Auseinandersetzungen. Um soziale Probleme zu beseitigen, anstatt sie nur ein wenig zu lindern, bedarf es der Einheit des Denkens und Handelns, eines offenen Herzens und einer offenen Hand – Bedingungen, die Bahá’u’lláhs Offenbarung herbeiführen soll.9Nach dem zweiten großen Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts bewegte sich die Menschheit viele Jahrzehnte lang stoßweise auf das Versprechen einer geeinten Welt zu. Das Scheitern des Projekts der Einigung der Nationen hinterließ jedoch Lücken in den Beziehungen, in denen supranationale Probleme bestehen und die Sicherheit und das Wohlergehen von Völkern und Staaten bedrohen konnten, was zu einem Wiederaufleben von Vorurteilen, verschiedenen Ausdrucksformen interner Streitigkeiten und virulentem Nationalismus führte, die genau das Gegenteil von Bahá’u’lláhs Botschaft des Friedens und der Einheit sind.10Eines der aktuellen Merkmale des Zerfallsprozesses der alten Weltordnung, der sich in den Vereinigten Staaten manifestiert, ist die zunehmende Polarisierung und Fragmentierung, die so viele Bereiche des politischen und sozialen Lebens kennzeichnet. Die Standpunkte haben sich verhärtet, die Unhöflichkeit hat zugenommen, die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen oder auch nur andere Sichtweisen in Betracht zu ziehen, hat abgenommen, und es besteht die Tendenz, automatisch Partei zu ergreifen und zu kämpfen. Wissenschaft und Religion, zwei große Erkenntnissysteme, die den menschlichen Fortschritt leiten sollten, werden oft infrage gestellt oder beiseite geschoben. Moralische Grundsätze und Fragen der Gerechtigkeit werden auf unüberwindbare liberale oder konservative Standpunkte reduziert, und das Land ist zunehmend in unterschiedliche Richtungen gespalten. In diesem Kontext müssen die Freunde unerschütterlich an den Bahá’í-Lehren und den Beratungsmethoden festhalten und dürfen nicht zulassen, dass ihr Streben nach edlen Zielen und hohen Erwartungen sie auf die eine oder andere Seite fruchtloser Debatten und strittiger Prozesse zieht.11Bei ihren Überlegungen, wie sie zur Verbesserung der Welt beitragen können, werden die weifelsohne erkennen, dass Demonstrationen nicht das einzige oder gar das wirksamste Mittel sind, das ihnen zur Verfügung steht. Vielmehr können sie im Laufe der Zeit lernen und ihre Fähigkeit ausbauen, ihren Mitbürgern dabei zu helfen, ihre Anliegen so zu formulieren, dass sie die Gräben überwinden, ihre Ansichten auf eine Art und Weise auszutauschen, die über spaltende Ansätze hinausgeht, und Räume zu schaffen und sich an ihnen zu beteiligen, um gemeinsam nach Lösungen für die Probleme zu suchen, die ihre Nation plagen. Wie Bahá’u’lláh sagte: „Sprich: Der Mensch kann seine wahre Stufe nicht erlangen, es sei denn durch seine Gerechtigkeit. Keine Macht kann bestehen, es sei denn durch Einheit. Keine Wohlfahrt und kein Wohlergehen kann erreicht werden, es sei denn durch Beratung.“
In diesem Sinne ist Gerechtigkeit in der Tat unerlässlich, um den eitlen Vorstellungen und müßigen Phantasien der sozialen und politischen Machenschaften zu widerstehen, die Wirklichkeit mit eigenen Augen zu sehen und die Voraussetzungen für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu erkennen. Aber dann ist auch Einigkeit erforderlich, die durch den Prozess der Beratung, einschließlich Aktion und Reflexion, geschmiedet werden muss, um die für einen positiven sozialen Wandel erforderliche Kraft zu erlangen.12Leider kann es vorkommen, dass die Freunde bei der Behandlung solch wichtiger und tief empfundener Themen Dichotomien schaffen, wo keine sind. So wird zum Beispiel behauptet, man müsse sich entscheiden zwischen Nichtbeteiligung an der Politik oder sozialem Handeln, zwischen der Lehre des Glaubens oder dem Engagement in der Gesellschaft, zwischen dem Institutsprozess und den gemeinschaftsbildenden Aktivitäten, die er fördert, oder einem Programm für ethnische Harmonie und so weiter. Solche offensichtlichen Konflikte lassen sich erheblich entschärfen, wenn man sich den Rat Shoghi Effendis vor Augen hält, der in einem in seinem Auftrag geschriebenen Brief gegeben wurde, die Lehren als ein großes Ganzes mit vielen Facetten zu betrachten. „Die Wahrheit mag, wenn sie verschiedene Themen abdeckt, widersprüchlich erscheinen“
, heißt es in demselben Brief, „und doch ist alles eins, wenn man den Gedanken bis zum Ende führt.“
Eine sorgfältige Lektüre der Bahá’í-Schriften und der Führung des Hauses der Gerechtigkeit kann verdeutlichen, wie zwei Dinge, zwischen denen scheinbar Spannung besteht, kohärent sind, sobald die Konzepte und Prinzipien, die sie verbinden, verstanden werden. Die besonderen Umstände vor Ort, die Aktualität und die Notwendigkeit, sich immer wieder neu zu fokussieren, haben ebenfalls Einfluss auf diese Fragen.13In einem kürzlich in seinem Auftrag verfassten Schreiben hat das Universale Haus der Gerechtigkeit Ihrem Nationalen Geistigen Rat erklärt, dass der Fünfjahresplan den Gläubigen reichlich Gelegenheit bietet, sich mit den sozialen Belangen ihrer Gemeinden und der Gesellschaft als Ganzes zu befassen. Die Aktivitäten des Plans für nachhaltiges Wachstum und den Aufbau von Gemeinschaften stehen im Mittelpunkt eines umfassenden Plans zur sozialen Umgestaltung. Die Freunde sind zu drei gleichzeitigen, sich überschneidenden und kohärenten Aktionsbereichen aufgerufen: gemeinschaftsbildende Bemühungen in Clustern; Projekte und Aktivitäten für soziales Handeln; und die Beteiligung an den gesellschaftlichen Diskursen, sei es in Nachbarschaften oder in der persönlichen oder beruflichen Umgebung. Eine Bewertung der Bemühungen der Bahá’í in den Vereinigten Staaten wird zeigen, dass es bereits eine Armee von Gläubigen gibt, die in allen Schichten der Gesellschaft daran arbeiten, die Bahá’í-Lehren zu verbreiten und die geistigen und sozialen Missstände in ihrem Land zu bekämpfen. In dem Maße, in dem der Lernprozess, der sich in der weltweiten Ausbreitungs- und Festigungsarbeit als so wirksam erwiesen hat, zunehmend in allen Bereichen einsetzt, wird die Fähigkeit von Einzelnen, Gemeinden und Institutionen, Bahá’u’lláhs Heilmittel anzuwenden, um tiefgreifende und dauerhafte Veränderungen zu erreichen, immer ausgeprägter werden und der Nation auf dem Weg ihrer Bestimmung helfen.14Seien Sie der Gebete des Universalen Hauses der Gerechtigkeit in den Heiligen Schreinen gewiss, dass die Bestätigungen Bahá’u’lláhs Ihre Bemühungen segnen mögen, ein Förderer von Einheit und Gerechtigkeit zu sein.14_5Mit liebevollen Bahá’í-Grüßen, Sekretariatsabteilung
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