Universales Haus der Gerechtigkeit | Botschaft vom 1. November 2022 Zum Ziel der Bahá’í-Gemeinde, die Einheit der Menschheit zu fördern und alle Hindernisse, einschließlich ethnischer Vorurteile, zu überwinden
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Das Universale Haus der Gerechtigkeit
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1. November 2022
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An die Anhänger Bahá’u’lláhs in der Demokratischen Republik Kongo
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Innig geliebte Freunde,
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der Neunjahresplan ist nun in Gang gekommen. Die herausragenden Leistungen, die Sie in dieser neuen Phase des Göttlichen Plans erbringen, stellen Ihre Gemeinde in die vordersten Reihen der weltweiten Bahá’í-Gemeinde. Vor Ihnen erstreckt sich ein Pfad großer Möglichkeiten und wir sind überzeugt, dass Sie alles zu übertreffen bereit sind, was Sie bisher erreicht haben.
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Ihr Land ist mit einer bemerkenswerten ethnischen und kulturellen Vielfalt gesegnet. Wie glücklich hat es uns im Laufe der Jahre gemacht, die Empfänglichkeit seiner Völker für die Lehren Bahá’u’lláhs zu sehen. Doch leider hat Ihr Land immer wieder unter Konflikten zwischen einigen seiner Völker gelitten. Als Teil der kongolesischen Gesellschaft sind Sie selbstverständlich nicht immun gegen die Kräfte, die Konflikte erzeugen und schüren. Dies erfordert Wachsamkeit von allen Gläubigen, um sicherzustellen, dass Spaltungen, insbesondere solche, die mit der Volkszugehörigkeit zusammenhängen, in Ihrer Gemeinde keine Wurzeln schlagen. Solche Spaltungen können Ihre Bemühungen behindern, Ihre Gemeinde zu entwickeln und den geistigen und materiellen Fortschritt Ihrer Nation zu fördern. Ihre Pflicht als Bahá’í ist es, als wahre Verfechter der Einheit der Menschheit zu handeln und die Einheit in Ihren Gemeinden und im Leben Ihrer Nation zu fördern. Wegen dieser lebenswichtigen Pflicht wenden wir uns nun an Sie.
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Jede der Hunderte von ethnischen Gruppen in Ihrem Land hat eine lange Geschichte, und jede von ihnen wurde durch Begegnungen mit anderen Gruppen und Kulturen in Zeiten des Friedens und des Konflikts allmählich geformt und umgeformt. Ein solches Muster gibt es natürlich nicht nur in der Demokratischen Republik Kongo. Es ist die Geschichte der Völker der Welt, eine Gegebenheit, auf die die Bahá’í-Geschichtsauffassung viel Licht wirft. Als eindeutig organische Einheit hat die Menschheit Entwicklungsphasen durchlaufen, die den Phasen des Säuglings- und Kindesalters im Leben ihrer einzelnen Mitglieder ähnlich sind. Die Spaltungen und Konflikte, die die Beziehungen zwischen und innerhalb der verschiedenen Völker kennzeichneten, sind Tendenzen aus der Kindheit der Menschheit. Die Menschheit hat sich jedoch unaufhaltsam auf dem Weg der Reifung weiterentwickelt. Auf diesem Weg hat sie von Zeitalter zu Zeitalter Impulse durch aufeinanderfolgende Göttliche Offenbarungen erhalten, von Gott gesandt, um sie schrittweise zu erziehen und zu zivilisieren. Die Menschheit befindet sich jetzt in der letzten Phase ihrer turbulenten Adoleszenz und durchläuft eine Zeit des Übergangs. Sie steht an der Schwelle eines lang erwarteten Erwachsenwerdens, und die Ideen und Verhaltensweisen früherer Phasen werden ihren Bedürfnissen nicht mehr gerecht.
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Bahá’u’lláh ist der Menschheit in dieser Zeit ihrer Adoleszenz, da sie der Reife bedarf, erschienen. Wie Ihnen wohl bewusst ist, hat Er die Mittel bereitgestellt, um die Einheit der Menschheit zu errichten, das Gütesiegel einer gereiften Welt. Was die Herzen aller Menschen miteinander verbinden wird, ist die Macht des Wortes Gottes. Dieses Wort hat eine schöpferische Kraft, die in jedem Zeitalter die Mittel zur Verfügung gestellt hat, um den menschlichen Charakter zu verfeinern und die menschlichen Angelegenheiten neu zu ordnen. Die Aufgabe der Bahá’í besteht darin, zu lernen, die Offenbarung Bahá’u’lláhs in ihrem individuellen und kollektiven Leben und im Leben der Gesellschaft anzuwenden. Durch geordnete Bemühungen und in Zusammenarbeit mit vielen anderen, die sich der Besserung der Welt widmen, bringen die Bahá’í die dem Reifealter der Menschheit entsprechenden Prinzipien zum Tragen, um auf die Lebensumstände der Völker der Welt einzuwirken. Sie bemühen sich um den Wandel der inneren und äußeren Wirklichkeiten des menschlichen Lebens und um die Schaffung geistiger und sozialer Bedingungen, aus denen eine neue Art Mensch und eine neue, auf Einheit gegründete Gesellschaft hervorgehen werden.
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Die Bahá’í gehen diese Arbeit mit Instrumenten und Mitteln an, die der Schaffung einer geeinten Welt förderlich sind. Sie sind sich stets bewusst, dass die Einheit nicht nur das Ziel ist, das sie anstreben, sondern auch das primäre Mittel zur Schaffung einer neuen und reifen Gesellschaft. So arbeiten sie gemeinsam „in geschlossener Front“, „jeder dem anderen untergehakt, jeder seinen Gefährten beistehend“. Sie sind mit reinen Absichten, rechtschaffenen Motiven, aufrichtigen Zielen und treuen Herzen ausgestattet. Sie verbinden sich „in strahlender Freude mit allen Völkern und Geschlechtern der Erde“, in der Gewissheit, dass der Umgang „mit anderen Menschen Einheit und Eintracht schafft“. Sie bemühen sich, ihre Handlungen von jeglicher Feindseligkeit und jeglichem Hass zu befreien, und sind stets bestrebt, am „Seil der Freundlichkeit und des zarten Erbarmens“ festzuhalten. Sie sind sich vor allem bewusst, dass „die Religion Gottes … für Liebe und Einheit“ da ist, und nicht zum Grund für Streit und Feindschaft gemacht werden darf, und dass „das Mittel der Ordnung“ niemals „zur Quelle der Unordnung“ oder „das Werkzeug der Einheit zum Anlass für Zwietracht“ werden darf.
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Nur als geeinte Gemeinde können Sie als Förderer der Einheit der Menschheit Erfolg haben. Es ist daher wichtig, dass Sie Ihr Verständnis dafür vertiefen, auf welche Weise sich Hindernisse für die Einheit in der Gesellschaft zeigen. Wir möchten zwei solcher Hindernisse erörtern: das Verzerren der menschlichen Identität und die Verbreitung von Vorurteilen, insbesondere von ethnischen Vorurteilen.
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Den Spaltungen der heutigen Gesellschaft liegt im Kern eine Identitätskrise zu Grunde. Die Art und Weise, wie Menschen darüber denken, wer sie sind und wie sie ihren Platz in der Welt sehen, bestimmt, wie sie zu anderen in Beziehung treten und was sie als ihre individuelle und kollektive Bestimmung betrachten. Für Bahá’í ist es die Manifestation Gottes, die Stimme Gottes in der Welt, die das Wesen und die Bestimmung des Menschen definiert. Bahá’u’lláh beschreibt den Zweck menschlichen Lebens als seinem Wesen nach von geistiger Art. Das wahre Selbst eines Menschen ist in den Kräften der Seele zu finden, die die Fähigkeit hat, Gott zu erkennen und Seine Eigenschaften widerzuspiegeln. Die Seele hat kein Geschlecht, keine ethnische Zugehörigkeit und keine Rasse. Gott sieht keine Unterschiede zwischen den Menschen, außer in Bezug auf die bewusste Anstrengung jedes Einzelnen, die eigene Seele zu läutern und ihre Kräfte voll zum Ausdruck zu bringen. In den Augen Gottes sind alle Menschen eins und haben die gemeinsame Pflicht, Ihn zu erkennen und anzubeten und zum Fortschritt der Kultur beizutragen. Diese Wahrheit steht in direktem Zusammenhang mit einer anderen – dass die Menschheit eine einzige Familie ist. Ein liebender Gott hat „die ganze Menschheit aus dem gleichen Stamm erschaffen“. Er hat „bestimmt, dass alle der gleichen Familie angehören“. „Da Wir euch alle aus dem gleichen Stoff erschufen“, hat Bahá’u’lláh erklärt, „ziemt es euch, wie eine Seele zu sein, auf selbem Fuße zu wandeln, in gleicher Weise zu essen und im selben Lande zu wohnen, auf dass aus eurem innersten Wesen durch eure Werke die Zeichen der Einheit und das Wesen der Loslösung offenbar werden.“
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Die Kräfte der menschlichen Seele haben sich im Laufe der Geschichte und überall auf dem Planeten in vielen Formen von Bräuchen, Wissen und Kultur manifestiert. Diese Vielfalt verleiht der Menschheitsfamilie Reichtum. So wie verschiedenfarbige Blumen einen Garten bereichern, so bereichert diese Vielfalt die Gesellschaft mit natürlicher Schönheit und Stärke. „Betrachte“, erklärt ‘Abdu’l-Bahá, „die Blumen eines Gartens. Obwohl sie nach Art, Farbe, Form und Gestalt verschieden sind, werden sie doch vom Wasser einer Quelle erfrischt, vom selben Windhauch belebt, von den Strahlen einer Sonne gestärkt, und so erhöht die Vielfalt ihren Reiz und steigert ihre Schönheit“. Und Er fügt hinzu: „Werden verschiedene Schattierungen von Gedanken, Temperamenten und Charakteren unter der Macht und dem Einfluss einer zentralen Kraftquelle zusammengeführt, so wird in gleicher Weise die Schönheit und der Glanz menschlicher Vollkommenheit offenbar und sichtbar.“ Einheit in der Vielfalt, nicht Uniformität, ist also die zentrale Aussage von Bahá’u’lláhs Lehren.
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Aber bedenken Sie, welch schwerwiegendes Hindernis für die Einheit der Menschheitsfamilie darin liegt, die Wahrheit ihrer wesenhaften Einheit nicht zu verstehen! Jedes Gefühl der Einheit, das sich aus der gemeinsamen Identität einer Gruppe speist, wird zur Grundlage für einen Wettkampf mit jenen, die als „anders“ wahrgenommen werden. Die Menschheit ist in konkurrierende Interessengruppen gespalten, von denen viele im Kampf um Vorherrschaft gefangen sind. Vorstellungen von konkurrierenden Interessen hemmen die kollektive Fähigkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern und zum Wohle aller Herausforderungen anzugehen. In den religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen des Lebens werden Konflikte, die von engen Eigeninteressen getrieben werden, als natürlich und unvermeidlich angesehen. Rivalität zwischen Gruppen schadet allen, behindert Gerechtigkeit und unterdrückt die Möglichkeiten von Einzelnen und Gruppen, deren Beiträge für die Besserung der Gesellschaft notwendig sind.
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Die Verantwortung, die die Bahá’í tragen – die Arbeit, die Sie in Ihren Gemeinden, Gruppen und Nationen verrichten –, besteht darin, allen Völkern zu helfen, ihre gemeinsame Identität als Mitglieder der einen Menschheitsfamilie zu erkennen und so gemeinsam geistig und materiell blühende Gesellschaften aufzubauen, die die Einheit in der Vielfalt manifestieren. Jedes Volk hat in diesem Unterfangen eine Rolle zu spielen. Jedes bringt die besten Aspekte seiner Kultur in die breiteren gesellschaftlichen Interaktionen ein und stellt sie in den Dienst aller, während es Aspekte, die dem Gemeinwohl nicht zuträglich sind, verwirft. In diesem Sinne ist die Vielfalt der ethnischen Herkunft und der Traditionen, die die Völker Ihres Landes auszeichnen, ein Schatz, der Ihre Nation und die Welt bereichert. Welch ein Segen kommt ihnen zu – allen und jedem –, wenn sie ihre Loyalität auf die besten Interessen ihrer gesamten Nation und der gesamten Menschheit ausdehnen, damit sie als Mitglieder einer Familie gedeihen und sich entfalten können.
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Diese Krise der Identität steht in direktem Zusammenhang mit der Verbreitung von Vorurteilen. Heute nehmen Vorurteile aller Art auf der ganzen Welt stark zu, infizieren das Bewusstsein von Millionen und rauben ihnen ihre Energie. Sie polarisieren die Gesellschaften in einer Zeit, in der Einigkeit lebenswichtig ist für die Lösung hartnäckiger lokaler, nationaler und globaler Herausforderungen.
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Die Aussagen in den Schriften des Glaubens über den Schaden, den Vorurteile Einzelnen und der Gesellschaft zufügen, sind sehr nachdrücklich. ‘Abdu’l-Bahá hat erklärt, dass der Mensch erniedrigt wird, wenn er Gefangener seiner eigenen Illusionen und Mutmaßungen wird. Vorurteile beflecken den menschlichen Geist, entwürdigen sowohl den Täter als auch das Opfer, vernebeln die Wahrnehmung und das Verständnis und verhindern das Erreichen jenes erhabenen Maßstabs der Gerechtigkeit, der in den Schriften verkündet wird: „…mit eigenen Augen [zu] sehen, nicht mit den Augen anderer“ und „durch eigene Erkenntnis Wissen [zu] erlangen, nicht durch die deines Nächsten“. ‘Abdu’l-Bahá hat auch deutlich gemacht, dass Vorurteile „den Bau der Menschheit zerstören“, „die Grundlagen der Welt der Menschheit vernichten“ und die Ursache für „die Krankheit der Welt“ sind. Solange das Vorurteil nicht beseitigt ist, „wird und kann die Welt der Menschheit keinen Frieden, keinen Wohlstand und keine Ruhe erlangen“. „Deshalb kann die Menschheit, wie in der Vergangenheit so auch heute, nur dann aus der Finsternis der Erdgebundenheit errettet werden und Erleuchtung empfangen, wenn sie Vorurteile ablegt und die Tugenden des Gottesreiches erwirbt.“
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Unser besonderes Anliegen ist hier, wie wir bereits gesagt haben, das ethnische Vorurteil. Misstrauen, Angst, Hass oder Diskriminierung gegenüber einer anderen Person oder einer ganzen Gruppe aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ist eine spirituelle Krankheit. Es ist auch eine Geißel, die die sozialen Strukturen infiziert und Instabilität verursacht. Vor diesem Hintergrund erfordert die Beseitigung ethnischer Vorurteile einen Wandel sowohl auf der Ebene des Einzelnen als auch des sozialen Umfelds. „Wir können unser Herz nicht von unserer Umwelt trennen, die uns umgibt“, erklärt Shoghi Effendi in einem in seinem Auftrag geschriebenen Brief, „und behaupten, dass alles sich zum Besseren verändert, wenn erst einmal eins von diesen beiden neu gestaltet ist. Der Mensch ist organisch mit der Welt verbunden. Sein inneres Leben gestaltet die Umwelt und wird zutiefst selbst von ihr beeinflusst. Eins wirkt auf das andere, und jede bleibende Veränderung im Leben des Menschen ist das Ergebnis dieser Wechselwirkungen.“
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Für den Einzelnen ist das Bestreben, frei von ethnischen Vorurteilen zu sein, eine tiefe geistige Pflicht, die niemand vernachlässigen kann, der behauptet, ein treuer Anhänger Bahá’u’lláhs zu sein. Jemanden aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit zu diskriminieren, verstößt in schwerwiegender Weise gegen den Geist, der den Glauben beseelt. „Wenn irgendeine Unterscheidung überhaupt geduldet wird“, schreibt Shoghi Effendi, „so sollte es eine Unterscheidung nicht gegen, sondern vielmehr zu Gunsten der Minderheit sein.“ Unabhängig davon, wie stark die öffentliche Meinung ist, sollte ein Bahá’í niemals in einer Weise handeln, die jemanden befremdet. „Niemanden sollten sie als ihren Feind betrachten noch jemandem etwas Böses wünschen“, schreibt ’Abdu’l-Bahá, „sondern in jedem Menschen den Freund sehen, den Fremden als Vertrauten, den Unbekannten als Weggefährten betrachten, frei von Vorurteil und ohne Grenzen.“
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Die Bemühungen des Einzelnen in dieser Hinsicht müssen mit dem ernsthaften Bemühen beginnen, Eigenschaften der Seele wie Liebe, Wahrhaftigkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Großzügigkeit zu entwickeln, das Herz von Selbstsucht, Neid und Hass zu reinigen und den Geist auf Bahá’u’lláhs Prinzipien der Einheit auszurichten. Indem der Einzelne danach strebt, seine Gedanken, Worte und Handlungen von ethnischen Vorurteilen zu befreien, bewahrt er seinen eigenen Adel und den Adel aller Kinder Gottes. Die Freiheit von Vorurteilen muss sich dann in allen Aspekten des Lebens des Einzelnen manifestieren – im privaten und öffentlichen Leben, in der Bahá’í-Gemeinde und in der Gesellschaft insgesamt. Das häusliche Umfeld muss frei sein von Einstellungen, Tendenzen, Äußerungen und Assoziationen, die Raum für Vorurteile geben. Gott bewahre, dass in der Bahá’í-Gemeinde die Teilnahme einer oder eines loyalen Gläubigen an den Wahlprozessen des Glaubens durch enge ethnische Interessen beeinflusst oder dass der Dienst in Ausschüssen, Agenturen und Institutionen durch Parteilichkeit und Bevorzugung beschmutzt wird. In der Gesellschaft muss die Vorurteilsfreiheit eines Gläubigen in allen gesellschaftlichen Räumen, die er oder sie betritt, deutlich werden – in der Schule, am Arbeitsplatz, im Kulturverein, in der Berufsorganisation. Es ist die Pflicht der Gläubigen, zu jeder Zeit die einigende Kraft von Bahá’u’lláhs Lehren zu demonstrieren, indem sie mit einem weiten Herzen, einer allumfassenden Liebe und einem Geist wahrer Freundschaft mit verschiedenen Völkern verkehren. Wie schon ‘Abdu’l-Bahá sagte: „Lasst die Menschen, die ihr trefft, auch ohne besondere Betonung wissen, dass ihr in der Tat Bahá’í seid.“
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Was das gesellschaftliche Umfeld betrifft, so können ethnische Vorurteile viele Aspekte des kollektiven Lebens durchdringen und sich im schlimmsten Fall in wiederkehrenden Zyklen gewalttätiger Konflikte manifestieren. Ethnische Vorurteile werden häufig durch vorherrschende negative soziale Faktoren hervorgerufen oder verstärkt, und die Freunde müssen versuchen, ein reifes Verständnis dieser Faktoren zu erlangen, wenn sie einen sinnvollen Beitrag zur Beseitigung von deren Auswirkungen leisten wollen. Denken Sie zum Beispiel an die Auswirkungen der Unwissenheit und daran, wie sie die Menschen blind macht für die Wahrheit, dass alle Menschen in ihrem Wesen eins, Mitglieder einer einzigen Menschheitsfamilie und Bewohner einer gemeinsamen Heimat sind. Wenn Menschen über die historischen Prozesse, die ihre Gesellschaft geformt haben, nicht informiert sind, können sie sich unter Umständen hartnäckig an trennende Identitäten klammern, die ihre Wurzeln in einer von Unterdrückung geprägten Vergangenheit haben mögen. Politische Aufteilungen zwischen oder innerhalb von Ländern, die lediglich menschliche Erfindungen sind, werden zur Grundlage für irrationales Misstrauen und Angst vor anderen Gruppen. Denken Sie auch an die Folgen einer Tendenz zur blinden Nachahmung und zur unkritischen Fortführung einer trennenden Art und Weise im Denken, Sprechen und im Umgang miteinander. Verzerrte Geschichtsdarstellungen, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, dienen dazu, engstirnige Vorstellungen von Zugehörigkeit zu propagieren, den Anspruch auf Einzigartigkeit zu erheben, alte Rivalitäten zu schüren oder vergangene Ereignisse zu betonen, die eine Opfermentalität hervorrufen. Sprache wird häufig verwendet, um negative Stereotypen zu untermauern, die andere stigmatisieren und schlecht machen. Bedenken Sie auch, wie im Dienste engstirniger Eigeninteressen – ob politisch oder wirtschaftlich – Spaltungen geschürt, Rivalitäten angezettelt und Konflikte aufrechterhalten werden, wie im Grunde die ethnische Zugehörigkeit als Instrument zur Erlangung politischer Macht und wirtschaftlicher Vorteile eingesetzt wird. Bedenken Sie auch, wie der Materialismus die Extreme von Reichtum und Armut vergrößert und wie wirtschaftliche Ungerechtigkeit Gräben entstehen lässt, die Vorurteile verstärken – selbst zwischen ähnlich marginalisierten Völkern. Der Wettbewerb um begrenzte Ressourcen besudelt persönliche und kollektive Motive und erzeugt Feindseligkeiten und Eifersüchteleien, die die Beziehungen verbittern.
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Dies sind einige der Faktoren, die ein gesellschaftliches Umfeld schaffen, in dem sich ethnische Vorurteile ausbreiten. Alle wohlmeinenden Menschen haben die Pflicht, ihr Bewusstsein für solche Faktoren zu schärfen und ihre Fähigkeit zu stärken, ihnen entgegenzuwirken. Auch der Einfluss der Kultur muss beachtet werden. Jede Kultur hat viele heilsame, der Einheit in der Vielfalt förderliche Elemente, die verstärkt werden müssen, sowie andererseits negative, zur Entstehung von Vorurteilen beitragende Aspekte, die allmählich aufgegeben werden müssen. Sinnstiftende Interaktionen zwischen Menschen, die verschiedenen Gruppen angehören, fördern ein Umfeld, in dem sich die Kultur weiterentwickeln kann. Das Beibehalten und Fördern von Bräuchen und Traditionen, die Feindseligkeit erzeugen, ist ein schwerwiegendes Hindernis für die Besserung der Gesellschaft. Eine Bahá’í-Gemeinde wird ihrer Fähigkeit beraubt, die Einheit in der Vielfalt zu fördern, wenn die Freunde, wissentlich oder unwissentlich, in ihrem Umgang miteinander und in ihren gesellschaftlichen Bezügen solche Tendenzen, die Vorurteile schüren, reproduzieren.
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Welche Aufgaben liegen also vor Ihnen? Wie wollen Sie Interaktionsmuster stärken, die die Einheit in der Vielfalt fördern und die vorherrschenden gesellschaftlichen Faktoren beseitigen, die zu Vorurteilen führen? Wie hängt dieses Ziel mit Ihren derzeitigen Bemühungen zusammen, lebendige Gemeinden aufzubauen und im weiteren Sinne zum geistigen und materiellen Wohlstand Ihrer Gesellschaft beizutragen?
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Shoghi Effendi rief die Freunde dazu auf, „edlere Höhen des Heldentums zu erklimmen, während die Menschheit in immer größere Tiefen der Verzweiflung, der Erniedrigung, der Zwietracht und des Elends stürzt“. Die globalen Pläne zielen darauf ab, in jeder menschlichen Gruppe die Fähigkeit aufzubauen, negativen sozialen Kräften entgegenzuwirken, indem sie durch die Anwendung der Lehren des Glaubens zum sozialen Wohlergehen beitragen. Während sich die Pläne stetig entfalten, werden ihre Prozesse allmählich ihr Potenzial realisieren, um jedes Instrument auszuschalten, das sich die Menschheit in der langen Zeit ihrer Kindheit ausgedacht hat mit dem Ziel, dass eine Gruppe eine andere Gruppe unterdrückt und Konflikte und Auseinandersetzungen aufrechterhalten werden. Dies ist von zentraler Bedeutung für die Arbeit, die Sie in Ihren eigenen Gemeinden leisten. Ihre Bemühungen in den Bereichen Gemeindebildung, soziales Handeln und öffentlicher Diskurs sind Mittel und Wege dazu, die in der menschlichen Seele schlummernden Energien zu wecken und sie zum Wohle der Gesellschaft zu kanalisieren.
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Ihre Bemühungen, verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit der Botschaft des Glaubens zu erreichen, fördern ein tiefes interethnisches und interkulturelles Miteinander. Diese machen die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung von Menschen unterschiedlichster Herkunft zu einem charakteristischen Merkmal des Bahá’í-Gemeindelebens. Sie bemühen sich dabei darum, jene lebenswichtige Bahá’í-Haltung zu demonstrieren, die darin besteht, wirklich nach außen zu schauen, aufrichtig offen für alle zu sein und entschlossen alle einzubeziehen. Ihre Bemühungen um die Stärkung der Fähigkeit, die Schriften des Glaubens zu studieren, ermöglicht es einer immer größeren Anzahl von Teilnehmern, Beziehungen zu knüpfen, die den Bahá’í-Standards und -Prinzipien entsprechen. Dies stärkt in allen Teilnehmern den Wunsch und die Fähigkeit, der Gesellschaft uneigennützig zu dienen und ihre Motive zu läutern, während sie lernen, sich für den Fortschritt und das Wohlergehen aller aufzuopfern. Durch Ihr Engagement für eine Arbeitsweise, in deren Mittelpunkt das fortlaufende Studieren, Beraten, Handeln und Reflektieren stehen, können Sie Einzelpersonen und Gemeinschaften von blinder Nachahmung befreien und die sich entfaltenden Lernbemühungen zur Schaffung „neuer Grundlagen für das menschliche Glück“ verankern. Die Energien, die Sie für die geistige Erziehung der Kinder und die geistige Befähigung der Juniorjugendlichen aufwenden, helfen den jüngeren Generationen, das Fundament eines edlen Charakters zu legen, sie vor dem Makel des Vorurteils zu bewahren und ihre aufkeimenden Kräfte auf den Dienst an der Gesellschaft auszurichten. Der Schwerpunkt, den Sie auf die Familie legen, verwandelt dieses grundlegende Element der Gesellschaft in einen Raum, in dem die jungen Menschen den Geist der Einheit verinnerlichen und alle Tendenzen, die zur Spaltung führen, meiden können. Ihre Bemühungen um den Aufbau von Kapazitäten für die Anwendung geistiger Prinzipien und wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen helfen den Volksgruppen, wirtschaftliche Ungerechtigkeit durch gemeinsames Handeln und unter Verzicht auf Konflikte zu bekämpfen. Ihre Beiträge in den verschiedenen Bereichen, in denen Gespräche über verschiedene soziale Probleme stattfinden, stärken die kollektive Fähigkeit zu einem bedeutungsvollen Dialog und helfen den verschiedenen Akteuren, ein einheitliches Denken und Handeln zu erreichen, indem sie auf Erkenntnisse aus den Bahá’í-Lehren und auf Erfahrungen zurückgreifen. Der zentrale Stellenwert, den Sie der Beratung einräumen, erhöht die Fähigkeit zu kollektiver Wahrheitsfindung, befreit Entscheidungsprozesse von Streit und konfliktgeladenen Tendenzen und ermöglicht es Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, ihre Differenzen zu überwinden und Perspektiven zu harmonisieren. Die Wahl- und Verwaltungsprozesse, die Sie fördern, formen ein Denken und Verhalten, das wiederum Führungs- und Verwaltungspositionen von Eigeninteressen und der damit verbundenen Korruption befreit. Indem Sie sich bemühen, in Ihren Gemeinden die Basis für die Beteiligung an allen Aspekten des Lebens zu verbreitern, schaffen Sie Bedingungen, unter denen Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen ihr gemeinsames Menschsein respektieren, ihre gemeinsamen Interessen erkennen und sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Eine solche Beteiligung stärkt die sozialen Bindungen, da die Seelen Seite an Seite für die Besserung der Gesellschaft arbeiten. Ob groß oder klein, Ihre gemeindebildenden Bemühungen sind darauf gerichtet, den Kern und das Muster einer neuen Weltordnung zu schaffen, indem Sie die von Bahá’u’lláh geforderte Art von Beziehungen herstellen. Und unter allen, die gemeinsam arbeiten, entsteht eine Sprache, die alle erhebt und niemanden herabsetzt, eine Sprache, die die Kraft hat, Herzen mit dem unauflöslichen Band der Liebe zu verbinden, und die Macht, Denkweisen im gemeinsamen Streben nach einer Gesellschaft zu vereinen, die wahrhaftig einem Garten überreich an Blüten jeder Form, jeder Farbe und jedes Duftes gleichkommen kann. Auf all diese Weisen sind Sie dabei, neue Gemeinschaften zu schaffen, die als Modell dienen können, und neue Beziehungen, die es Ihnen ermöglichen, als Sauerteig im Leben Ihrer Nation zu wirken.
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Geliebte Freunde in dieser großen afrikanischen Nation! Wir wissen, dass die gesellschaftlichen Konflikte, inmitten derer Sie arbeiten, zuweilen zerstörerisch und entmutigend sind. Ihre Brüder und Schwestern in vielen anderen Ländern sind ebenfalls mit solchen Bedingungen konfrontiert. Auch wenn es manchmal den Anschein haben mag, dass die Hoffnung auf eine wahrhaft geeinte Gesellschaft von Tag zu Tag schwächer wird, weil die aus Vorurteilen geborenen Konflikte immer wieder aufflammen, muss Ihr Auftrag immer klar sein, Ihre Einstellung immer zuversichtlich und Ihre Hingabe immer unerschütterlich. Sie besitzen die Mittel, um Tausende und Abertausende von Herzen zu vereinen. Sie, die Sie das Lied von der Einheit in Vielfalt anstimmen, müssen in Wort und Tat deren Verkörperung sein. Wenn Ihr Handeln die in der Gesellschaft verbreiteten Tendenzen widerspiegelt, wenn Sie die Grundlagen Ihres Glaubens vernachlässigen, was bleibt dann noch übrig? Das Salz wird seinen Geschmack verloren haben. Legen Sie alle Hindernisse, gedankliche und andere, beiseite und bringen Sie so in diesen neun Jahren einem liebenden Gott einen wahren Sieg für die Einheit der Menschheit dar.
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Abschließend wenden wir uns nun an die Jugend: Die Zukunft liegt in euren Händen. Seid euch dessen gewiss, dass ihr auf dem Fundament, das eure Mütter und Väter gelegt haben, ein Bauwerk errichtet, das ein Zufluchtsort für eure Völker sein wird. Der stetige Fortschritt wird davon abhängen, inwieweit ihr euch dem Aufbau wahrer Einheit widmet und inwieweit ihr die von Bahá’u’lláh vorgeschriebene geistige Disziplin und Übung verstärkt praktiziert, die euch hilft, die Spiegel eurer Herzen zu polieren, um die Eigenschaften Gottes widerzuspiegeln. Wir hoffen, dass ihr dauerhafte geistige Bande untereinander knüpft, die den Kräften der Vorurteile widerstehen. Lasst euch vom Beispiel ‘Abdu’l-Bahás leiten – wie Er Sein Leben in täglicher Aufopferung für die Sache der Einheit der Menschheit lebte, wie Er mit selbstloser Liebe alle Menschen umarmte, die Seinen Weg kreuzten, wie Er in jeder Seele das Ebenbild eines liebenden Gottes sah. So sollt auch ihr alle eure Landsleute sehen. In diesem „erleuchteten Zeitalter“, sagte Er, wird die „Einheit der Welt der Menschheit“ bestätigt. „Jede Seele, die dieser Einheit dient, wird zweifelsohne unterstützt und bestätigt.“ Wir hegen die Hoffnung, dass ihr in eurem Bemühen, Lebenspartner zu finden, allen Einflüssen, die der ethnischen Zugehörigkeit Vorrang einräumen, widersteht, dass ihr Häuser baut, in denen jede Seele willkommen ist, und dass ihr Kinder aufzieht, die zu Verfechtern der Einheit werden. Wir sind überzeugt, dass ihr im Leben eurer Nation als Wohltäter aller, als Diener aller und als Einiger aller erstrahlen werdet. Lasst eure Taten das nächste Kapitel der Geschichte eures Landes schreiben, ein Kapitel, das frei von Vorurteilen und Konflikten ist. So werden eure Völker, jedes wie ein kraftvoller Fluss, zu einem mächtigen Strom zusammenfließen, dessen wogende Wasser sich in den Ozean einer einzigen Menschheitsfamilie ergießen werden.
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Wir werden die Gesegnete Schönheit an der Heiligen Schwelle Seines Schreins anflehen, dass Er die Völker Ihrer hochgeschätzten Nation immer fester in Liebe verbinden möge.
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[gezeichnet: Das Universale Haus der Gerechtigkeit]
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