Das Universale Haus der Gerechtigkeit | Botschaft vom 28. November 2023 Reflexionen
weiter nach oben ...
0_1
Das Universale Haus der Gerechtigkeit
0_2
28. November 2023
0_3
An die Bahá’í der Welt
0_4
Innig geliebte Freunde,
1
am 27. November 2021, mitten in der stillen, dunklen Nacht, versammelten sich fast sechshundert Vertreter von Nationalen Geistigen Räten und Regionalräten der Bahá’í zusammen mit Mitgliedern des Universalen Hauses der Gerechtigkeit und des Internationalen Lehrzentrums sowie den Mitarbeitern des Bahá’í-Weltzentrums, um in der Nähe Seines Heiligen Schreins mit gebührender Feierlichkeit den hundertsten Jahrestag des Hinscheidens von ‘Abdu’l-Bahá zu begehen. Im Verlaufe dieser Nacht, während sich die Erde einmal um sich selbst drehte, versammelten sich Bahá’í-Gemeinden in aller Welt in Nachbarschaften und Dörfern, Städten und Gemeinden, um in ehrfürchtiger Andacht einer Gestalt zu huldigen, die in der Religionsgeschichte ihresgleichen sucht, und um über das Jahrhundert der Errungenschaften nachzusinnen, das Er Selbst in Gang gesetzt hatte.
2
Diese Gemeinde – das Volk Bahás, inbrünstig Liebende ‘Abdu’l-Bahás – umfasst heute Millionen von Menschen und hat sich auf etwa hunderttausend Orte in 235 Ländern und Territorien ausgebreitet. Sie ist aus dem Verborgenen hervorgetreten und hat ihren Platz auf der Weltbühne eingenommen. Sie hat ein Netzwerk von Tausenden von Institutionen aufgebaut, von der Basis bis zur internationalen Ebene, die verschiedene Völker in dem gemeinsamen Ziel vereinen, Bahá’u’lláhs Lehren für geistigen Wandel und sozialen Fortschritt zum Ausdruck zu bringen. In vielen Regionen hat das Muster des Aufbaus lebendiger lokaler Gemeinden Tausende – in manchen sogar Zehntausende – von Seelen erfasst. In solchen Umgebungen nimmt eine neue Lebensweise Gestalt an, die sich durch ihren Andachtscharakter, das Engagement der Jugend für Bildung und Dienst, bedeutungsvolle Gespräche unter Familien, Freunden und Bekannten über Themen von geistiger und gesellschaftlicher Bedeutung und gemeinsame Bemühungen um materiellen und sozialen Fortschritt auszeichnet. Die Heiligen Schriften des Glaubens sind in mehr als achthundert Sprachen übersetzt worden. Die Errichtung nationaler und örtlicher Mashriqu’l-Adhkárs ist ein Vorbote für das Entstehen Tausender zukünftiger Zentren, die der Andacht und dem Dienst gewidmet sind. Das geistige und administrative Weltzentrum des Glaubens wurde in den heiligen Zwillingsstädten ‘Akká und Haifa errichtet. Und trotz der gegenwärtigen, allzu offensichtlichen Einschränkungen der Gemeinde, verglichen mit ihren Idealen und höchsten Bestrebungen – und trotz der Entfernung, die sie von der Erreichung ihres letzten Ziels, der Verwirklichung der Einheit der Menschheit, trennt –, haben ihre Ressourcen, ihre institutionelle Kapazität, ihre Fähigkeit, systematisches Wachstum und Entwicklung aufrechtzuerhalten, ihre Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Institutionen und ihr Engagement in der Gesellschaft und ihr konstruktiver Einfluss auf sie einen beispiellosen Höhepunkt historischer Errungenschaften erreicht.
3
Wie weit hat sich der Glaube seit jenem Augenblick vor einem Jahrhundert entwickelt, als ‘Abdu’l-Bahá diese Welt verließ! Im Morgengrauen jenes traurigen Tages verbreitete sich die Nachricht von Seinem Ableben in der Stadt Haifa und erfüllte die Herzen mit Trauer. Tausende versammelten sich zu Seiner Beerdigung: Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Würdenträger und Volk – Juden und Muslime, Drusen und Christen sowie Bahá’í – eine Zusammenkunft, wie sie die Stadt noch nie gesehen hatte. In den Augen der Welt war ‘Abdu’l-Bahá ein Verfechter des universalen Friedens und der Einheit der Menschheit, ein Verteidiger der Unterdrückten und ein Förderer der Gerechtigkeit. Für die Menschen in ‘Akká und Haifa war Er ein liebevoller Vater und Freund, ein weiser Ratgeber und eine Zuflucht für alle in Not. Bei Seiner Beerdigung verliehen sie ihrer Liebe und ihrer Trauer leidenschaftlichen Ausdruck.
4
Natürlich waren es jedoch die Bahá’í, die Seinen Verlust am stärksten spürten. Er war das kostbare Geschenk der Manifestation Gottes, sie zu führen und zu beschützen, Er war das Zentrum und der Dreh- und Angelpunkt von Bahá’u’lláhs unvergleichlichem, allumfassendem Bund, das vollkommene Vorbild Seiner Lehren, der unfehlbare Ausleger Seines Wortes, die Verkörperung jedes Bahá’í-Ideals. Während Seines ganzen Lebens arbeitete ‘Abdu’l-Bahá unermüdlich im Dienste Bahá’u’lláhs und erfüllte in vollem Umfang die heilige Aufgabe, die Sein Vater Ihm anvertraut hatte. Er nährte und beschützte treu die kostbare Saat, die gepflanzt worden war. Er schützte die Sache Gottes in der Wiege ihrer Geburt und schuf durch ihre Verbreitung im Westen dort die Wiege ihrer Administration. Er festigte die Schritte der Gläubigen und zog eine Schar von Vorkämpfern und Heiligen heran. Mit eigenen Händen bestattete Er die heiligen Überreste des Báb in dem von Ihm errichteten Mausoleum auf dem Karmel, kümmerte sich hingebungsvoll um die beiden Heiligen Schreine und legte den Grundstein für das administrative Weltzentrum des Glaubens. Er schützte den Glauben vor dessen inneren und äußeren Feinden. Er offenbarte die kostbare Charta für die Verbreitung der Lehren Bahá’u’lláhs unter allen Völkern der Welt, sowie die Charta, die die Prozesse der Administrativen Ordnung ins Leben rief und in Gang setzte. Sein Leben erstreckte sich über den gesamten Zeitraum des Heroischen Zeitalters, das durch die Verkündigung des Báb eingeleitet wurde; Sein Hinscheiden leitete ein neues Zeitalter ein, dessen Merkmale den Gläubigen noch unbekannt waren. Was würde Seinen Geliebten widerfahren? Ohne Ihn, ohne Seine ständige Führung, schien die Zukunft ungewiss und düster.
5
Von der Nachricht vom Tod ‘Abdu’l-Bahás erschüttert, eilte sein Enkel Shoghi Effendi von seinen Studien in England ins Heilige Land, wo ihn ein zweiter betäubender Schlag traf. ‘Abdu’l-Bahá hatte ihn zum Hüter und Oberhaupt des Glaubens ernannt und die Bahá’í-Welt seiner Obhut anvertraut. In Trauer und tiefem Schmerz, aber gestützt durch die unerschütterliche Fürsorge von Bahá’u’lláhs geliebter Tochter Bahíyyih Khánum, legte Shoghi Effendi den schweren Mantel seines Amtes an und begann, den Zustand und die Aussichten der unerfahrenen jungen Gemeinde einzuschätzen.
6
Die Bekanntgabe der Ernennung Shoghi Effendis zum Hüter wurde von der Gemeinschaft der Gläubigen mit Erleichterung, Dankbarkeit und Versicherungen ihrer Treue aufgenommen. Die durch die Trennung vom Meister verursachte Seelenqual wurde durch die Zusicherung in Seinem Testament gemildert, dass Er sie nicht allein gelassen hatte. Einige wenige Abtrünnige stellten jedoch ‘Abdu’l-Bahás auserwählten Erben in Frage und erhoben sich, motiviert durch ihre eigenen Ambitionen und ihr Ego, gegen ihn. Ihr Verrat in diesem kritischen Augenblick des Übergangs wurde durch die neuen Intrigen der erklärten Gegner des Meisters noch verstärkt. Doch obwohl Shoghi Effendi von solch tiefem Kummer und solchen Prüfungen schwer bedrängt wurde und sich anderen gewaltigen Hindernissen gegenübersah, begann er, die Mitglieder der weit verstreuten Bahá’í-Gemeinden zu mobilisieren, damit sie mit der monumentalen Aufgabe anfangen sollten, die Grundlagen der Administrativen Ordnung zu legen. Einzelne, die zuvor durch die einzigartige Persönlichkeit ‘Abdu’l-Bahás aufgerüttelt worden waren, begannen allmählich, ihre Anstrengungen unter der geduldigen, aber entschlossenen Führung des Hüters in einem gemeinsamen Unterfangen zu koordinieren.
7
Als die Bahá’í begannen, ihre neue Verantwortung zu übernehmen, machte Shoghi Effendi ihnen klar, wie rudimentär bisher ihr Verständnis der in ihrem Besitz befindlichen heiligen Offenbarung und wie gewaltig die vor ihnen liegenden Herausforderungen waren. „Wie unermesslich ist die Offenbarung Bahá’u’lláhs! Wie groß ist das Ausmaß Seiner Segnungen für die Menschheit an diesem Tage!“, schrieb er. „Und doch, wie armselig, wie unzureichend ist unser Verständnis ihrer Bedeutung und ihrer Herrlichkeit. Unsere Generation steht einer so gewaltigen Offenbarung zu nahe, um die unendlichen Möglichkeiten Seines Glaubens, den einmaligen Charakter Seiner Sache, die geheimnisvollen Fügungen Seiner Vorsehung voll zu würdigen.“Shoghi Effendi, Brief vom 21. März 1939, in: Die Weltordnung Bahá’u’lláhs 2:22 [Auflage 3.04-online (2022-03-19), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2022]Q „Der Inhalt des Willens des Meisters ist viel zu gewaltig, als dass die gegenwärtige Generation ihn verstehen könnte“, schrieb sein Sekretär in seinem Auftrag. „Es bedarf mindestens eines Jahrhunderts praktischen Wirkens, ehe die in ihm verborgenen Schätze der Weisheit enthüllt werden können.“Shoghi Effendi, Brief vom 7. Dezember 1969 an einen jungen Gläubigen, zitiert in: Ausgewählte Botschaften 1963-1996, S. 55 [Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Ausgewählte Botschaften 1963-1996, Bahá’í-Verlag, Langenhain 1996]Q Um das Wesen und die Dimensionen von Bahá’u’lláhs Vision einer neuen Weltordnung zu begreifen, erklärte er: „Wir müssen auf die Zeit und auf die Führung durch Gottes Universales Haus der Gerechtigkeit vertrauen, um ein klareres und volleres Verständnis ihrer Bestimmungen und Auswirkungen zu gewinnen.“Shoghi Effendi, Brief vom 23. Februar 1924, zitiert in einem Brief des Universalen Hauses der Gerechtigkeit vom 9. März 1965, in: Ausgewählte Botschaften 1963-1996, S.16 Q
8
Nachdem ein ganzes Jahrhundert „praktischen Wirkens“ vergangen ist, bietet der jetzige Augenblick einen günstigen Ausgangspunkt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Und so haben wir diesen Jahrestag zum Anlass genommen innezuhalten, um mit Ihnen über die Weisheit nachzudenken, die in den Bestimmungen von Wille und Testament verwahrt ist, um den Verlauf der Entfaltung des Glaubens nachzuzeichnen und die Kohärenz der Stufen seiner organischen Entwicklung zu betrachten, um die Möglichkeiten zu erkennen, die den Prozessen innewohnen, die den Fortschritt des Glaubens vorantreiben, und um seine Verheißung für die kommenden Jahrzehnte zu würdigen, wenn seine Macht, die Gesellschaft umzugestalten, durch die wachsende Wirkung von Bahá’u’lláhs gewaltiger Offenbarung in der Welt immer deutlicher sichtbar wird.
Das Niedergeschriebene in die Wirklichkeit und die Tat umsetzen
9
Bahá’u’lláhs Ziel ist es, eine neue Stufe in der menschlichen Entwicklung einzuleiten – die organische und geistige Einheit der Völker und Nationen der Welt – und damit die Reife des Menschengeschlechts anzukündigen, die zu gegebener Zeit durch das Entstehen einer Weltzivilisation und Weltkultur gekennzeichnet sein wird. Zu diesem Zweck offenbarte Er Seine Lehren für die innere und äußere Wandlung menschlichen Lebens. „Jeder Vers, den diese Feder offenbart hat, ist ein strahlendes, leuchtendes Tor, das die Herrlichkeit eines heiligen, gottesfürchtigen Lebens und reiner und makelloser Taten erschließt“Bahá’u’lláh, in: Ährenlese 43:8 [Bahá’u’lláh, Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs, Auflage 10.01-online (2023-11-07), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2023]Q, erklärte Er. Und in zahllosen Tafeln hat Er, der Göttliche Arzt, die Krankheiten, unter denen die Menschheit leidet, diagnostiziert und Sein Heilmittel für „die Erhöhung, den Fortschritt, die Erziehung, den Schutz und die Wiederbelebung der Völker auf Erden“Bahá’u’lláh, Ishráqát (Die Pracht), in: Botschaften aus ‘Akká 8:62 [Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká, Auflage 3.04-online (2023-09-12), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2023]Q dargelegt. Bahá’u’lláh erklärte: „Der Aufruf und die Botschaft, die Wir gaben, sollten niemals nur ein Land oder ein Volk erreichen oder nur diesem zugutekommen.“Bahá’u’lláh, in: Ährenlese 43:8Q „Es ist die Pflicht eines jeden Menschen mit Einsicht und Verständnis, danach zu streben, das hier Niedergeschriebene in die Wirklichkeit und die Tat umzusetzen. ... Selig und glücklich ist, wer sich erhebt, dem Wohle aller Völker und Geschlechter der Erde zu dienen.“Bahá’u’lláh, in: Ährenlese 117:1Q
10
Die Aufgabe, eine reife, friedliche, gerechte und geeinte Welt aufzubauen, ist ein gewaltiges Unterfangen, an dem jedes Volk und jede Nation in der Lage sein muss, sich zu beteiligen. Die Bahá’í-Gemeinde lädt alle ein, sich dieser Aufgabe als Protagonisten eines geistigen Unternehmens anzuschließen, das die Kräfte des Zerfalls, die die alte Gesellschaftsordnung untergraben, überwinden und einem integrativen Prozess, der zur Entfaltung einer neuen Ordnung an ihrer Stelle führen wird, konkrete Gestalt verleihen kann. Das Gestaltende Zeitalter ist jene entscheidende Phase in der Entwicklung des Glaubens, in der die Freunde zunehmend die Mission erkennen, mit der Bahá’u’lláh sie betraut hat, ihr Verständnis für die Bedeutung und die Auswirkungen Seines offenbarten Wortes vertiefen und systematisch Kapazitäten aufbauen – ihre eigenen und die anderer Menschen –, um Seine Lehren zur Besserung der Welt in die Praxis umzusetzen.
11
Von Beginn seines Wirkens an leitete Shoghi Effendi die Bahá’í in ihren Bemühungen, ein tieferes Verständnis ihrer Mission zu erlangen, die ihre Identität und ihre Bestimmung definieren sollte. Er erläuterte ihnen die Bedeutung von Bahá’u’lláhs Kommen, Seine Vision für die Menschheit, die Geschichte des Glaubens, die Prozesse, die die Gesellschaft umgestalten, und die Rolle, die den Bahá’í dabei zukommt, zum Fortschritt der Menschheit beizutragen. Er umriss das Wesen der Entwicklung der Bahá’í-Gemeinde, um den Freunden bewusst zu machen, dass diese Entwicklung im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte viele, oft unerwartete Veränderungen erfahren würde. Er beschrieb auch die Dialektik von Krise und Sieg und bereitete sie damit auf den gewundenen Pfad vor, den sie würden beschreiten müssen. Er appellierte an die Bahá’í, ihren Charakter zu veredeln und ihren Verstand zu schärfen, um den Herausforderungen beim Aufbau einer neuen Welt gewachsen zu sein. Er rief sie auf, nicht zu verzweifeln, wenn sie mit den Problemen einer aufkeimenden und sich rasch entwickelnden Gemeinde, oder mit den Entbehrungen und dem sich verschlechternden sozialen Umfeld eines stürmischen Zeitalters konfrontiert sein würden, und er erinnerte sie daran, dass die umfassende Erfüllung der Verheißungen Bahá’u’lláhs in der Zukunft liege. Er erklärte, die Bahá’í sollten wie Sauerteig sein – ein durchdringender und belebender Einfluss – der andere dazu inspirieren könne, sich zu erheben und festgefahrene Muster der Spaltung, des Konflikts und des Machtkampfs zu überwinden, so dass die höchsten Ziele der Menschheit letztendlich erreicht werden können.
12
Während er diese umfangreichen Verständnisbereiche konsolidierte, leitete der Hüter die Gläubigen auch Schritt für Schritt dabei an, die strukturelle Grundlage der Administrativen Ordnung wirkungsvoll aufzubauen und Bahá’u’lláhs Lehren systematisch mit anderen zu teilen. Er lenkte ihre Bemühungen geduldig, indem er ihnen allmählich das Wesen, die Grundsätze und Vorgehensweisen verdeutlichte, die diese Ordnung kennzeichnen, während er gleichzeitig ihre Fähigkeit für das Lehren des Glaubens individuell und kollektiv erhöhte. In jeder wichtigen Angelegenheit gab er Orientierung, und die Gläubigen berieten und bemühten sich, seiner Führung zu folgen, indem sie ihre Erfahrungen mit ihm teilten und Fragen stellten, wenn sie auf verwirrende Probleme und Schwierigkeiten stießen. Unter Berücksichtigung der wachsenden Erfahrungen stellte der Hüter dann zusätzliche Führung bereit und erläuterte die Konzepte und Prinzipien, die es den Freunden ermöglichten, ihr Handeln den Erfordernissen anzupassen, bis sich ihre Bemühungen als wirkungsvoll herausstellten und auf breiterer Basis angewendet werden konnten. In ihrer Reaktion auf seine Führung bewiesen die Freunde standhaften Glauben an die Wahrheit des offenbarten Wortes, unbeirrbares Vertrauen in seine Vision und seine unfehlbare Weisheit, und eine unerschütterliche Entschlossenheit, die verschiedenen Aspekte ihres Lebens nach Maßgabe der Lehren zu verändern. Auf diese Weise wurde in der Gemeinde die Fähigkeit, die praktische Umsetzung der Lehren zu erlernen, allmählich kultiviert. Die Wirksamkeit dieser Herangehensweise zeigte sich am deutlichsten auf dem Höhepunkt von Shoghi Effendis Amtszeit, als die Bahá’í-Welt ihre Kräfte zu den beispiellosen Erfolgen des geistigen Kreuzzugs im Zehnjahresplan vereinte.
13
Die Anstrengungen Shoghi Effendis, die Gläubigen auf einen Pfad des Lernens zu führen, wurden nach seinem Tod unter der Leitung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit ausgeweitet. In den letzten Jahren des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters wurden die wesentlichen Aspekte eines Lernprozesses, der sich zu Beginn dieses Jahrhunderts noch in seinem Anfangsstadium befunden hatte, von den Bahá’í weltweit bewusst wahrgenommen und systematisch in all ihren Bestrebungen umgesetzt.
14
Heute zeichnet sich die Bahá’í-Gemeinde durch eine Arbeitsweise aus, die durch Studium, Beratung, Handeln und Reflexion gekennzeichnet ist. Sie erweitert ständig ihre Fähigkeit, die Lehren in einer Vielzahl sozialer Räume anzuwenden und mit denjenigen in der breiteren Gesellschaft zusammenzuarbeiten, die die Sehnsucht teilen, die materiellen und geistigen Grundlagen der Gesellschaftsordnung neu zu beleben. Im transformierenden Destillierglas dieser Räume wandeln sich Einzelne und Gemeinden so weit wie möglich zu Protagonisten ihrer eigenen Entwicklung, die volle Akzeptanz der Einheit der Menschheit vertreibt Vorurteile und eingebildete Fremdartigkeit, die geistige Dimension des menschlichen Lebens wird durch das Festhalten an Prinzipien und die Stärkung des Andachtscharakters der Gemeinde gefördert, und die Fähigkeit zum Lernen wird entwickelt und auf persönliche und soziale Transformation ausgerichtet. Das Bemühen, die Implikationen dessen, was Bahá’u’lláh offenbart hat, zu verstehen und Sein Heilmittel anzuwenden, ist nun deutlicher und systematischer und zu einem unauslöschlichen Bestandteil der Bahá’í-Kultur geworden. Das bewusste Erfassen des Lernprozesses und seine weltweite Ausdehnung von der Basis bis zur internationalen Arena gehören zu den schönsten Früchten des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters. Dieser Prozess wird in den kommenden Jahren zunehmend die Arbeit jeder Institution, jeder Gemeinde und jedes Einzelnen bestimmen, während die Bahá’í-Welt sich immer größeren Herausforderungen stellt und zugleich die gesellschaftsbildende Kraft des Glaubens in immer größerem Maße freisetzt.
15
In seinem Bemühen, den Freunden zu helfen, die Entwicklung des Glaubens und die damit verbundene Verantwortung zu verstehen, verwies Shoghi Effendi auf „den dreifachen Impuls, ausgelöst durch die Offenbarung von Bahá’u’lláhs Tafel vom Karmel sowie durch Wille und Testament und die Sendschreiben zum Göttlichen Plan, die vom Mittelpunkt Seines Bundes hinterlassen wurden – die drei Chartas, die drei verschiedene Prozesse in Gang gesetzt haben, den ersten im Heiligen Land für die Entwicklung der Institutionen des Glaubens in seinem Weltzentrum und die beiden anderen in der übrigen Bahá’í-Welt für die Verbreitung des Glaubens und die Errichtung seiner Administrativen Ordnung“. Die Prozesse, die mit jeder dieser Göttlichen Chartas verbunden sind, sind voneinander abhängig und verstärken sich gegenseitig. Die Administrative Ordnung ist das Hauptinstrument für die Umsetzung des Göttlichen Plans, während der Plan das wirksamste Mittel für die Entwicklung der administrativen Struktur des Glaubens ist. Die Fortschritte am Weltzentrum, dem Herz und Nervenzentrum der Administration, üben einen ausgeprägten Einfluss auf den Körper der weltweiten Gemeinde aus und werden ihrerseits von deren Vitalität beeinflusst. Die Bahá’í-Welt wächst und entwickelt sich ständig organisch, in dem Maße, wie Einzelpersonen, Gemeinden und Institutionen danach streben, die Wahrheiten der Offenbarung Bahá’u’lláhs in die Tat umzusetzen. Jetzt, am Ende des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters, ist die Bahá’í-Welt in der Lage, die diesen unvergänglichen Chartas innewohnenden Auswirkungen für die Entwicklung des Glaubens besser zu verstehen. Und weil sie ihr Verständnis des Prozesses, in dem sie engagiert ist, gesteigert hat, kann sie ihre eigenen Erfahrungen während des vergangenen Jahrhunderts besser wertschätzen und wirksamer handeln, um in den vor ihr liegenden Jahrzehnten und Jahrhunderten Bahá’u’lláhs Ziel für die Menschheit zu erreichen.
Bewahrung und Fortführung des Bundes
16
Um die Einheit Seines Glaubens zu bewahren, die Integrität und Flexibilität Seiner Lehren aufrechtzuerhalten und den Fortschritt der gesamten Menschheit zu gewährleisten, hat Bahá’u’lláh einen Bund mit Seinen Anhängern geschlossen, der in seiner Autorität und seinem ausdrücklichen und umfassenden Charakter in den Annalen der Religionsgeschichte einzigartig ist. In Seinem Heiligsten Buch und im Buch Seines Bundes sowie in anderen Sendschreiben ordnete Bahá’u’lláh an, dass sich die Freunde nach Seinem Hinscheiden bezüglich der Leitung der Angelegenheiten des Glaubens an ‘Abdu’l-Bahá, den Mittelpunkt dieses Bundes, wenden sollten. In Seinem Wille und Testament hat ‘Abdu’l-Bahá den Bund weitergeführt, indem Er die Bestimmungen für die in Bahá’u’lláhs Schriften verordnete Administrative Ordnung festlegte und damit den Fortbestand von Autorität und Führung durch die Zwillingsinstitutionen des Hütertums und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit sowie ein gesundes Verhältnis zwischen Einzelnen und Institutionen innerhalb des Glaubens sicherstellte.
17
Die Geschichte hat hinreichend bewiesen, dass Religion entweder als machtvolles Instrument der Zusammenarbeit dienen kann, um den Fortschritt der Zivilisation voranzutreiben, oder als Quelle von Konflikten, die unermesslichen Schaden anrichten. Die einigende und zivilisierende Kraft der Religion fängt an zu schwinden, sobald die Anhänger beginnen, über die Bedeutung und Anwendung der göttlichen Lehren zu streiten, und die Gemeinschaft der Gläubigen wird schließlich in widerstreitende Sekten und Konfessionen gespalten. Das Ziel von Bahá’u’lláhs Offenbarung ist es, die Einheit der Menschheit zu errichten und alle Völker zu vereinen, und diese letzte und höchste Stufe in der Entwicklung der Gesellschaft kann nicht erreicht werden, wenn der Bahá’í-Glaube der Krankheit des Sektierertums und der Verwässerung der göttlichen Botschaft erliegt, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt haben. Wenn sich die Bahá’í „nicht um einen Mittelpunkt vereinigen können“, so ‘Abdu’l-Bahá, „wie sind sie dann fähig, die Einheit der Menschheit zustande zu bringen?“ʻAbdu’l-Bahá, in: Briefe und Botschaften 183:2 [‘Abdu’l-Bahá, Briefe und Botschaften, Auflage 4.01-online (2021-09-29), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2021]Q Und Er bekräftigt: „Heutzutage ist die treibende Kraft in der Welt des Seins die Macht des Bundes, die der bedingten Welt wie eine Schlagader im Leibe pocht und den Bahá’í die Einheit sichert.“ʻAbdu’l-Bahá, in: Briefe und Botschaften 183:1Q
18
Die wichtigste Errungenschaft des vergangenen Jahrhunderts ist der Sieg des Bundes, der den Glauben vor Spaltung bewahrt und ihn dazu geführt hat, alle Völker und Nationen liebevoll einzubeziehen und zu ihrer Stärkung beizutragen. Bahá’u’lláhs eindringliche Frage, die im Herzen der Religion liegt – „Wo wirst du das Band deines Glaubens und das Seil deines Gehorsams festmachen?“Bahá’u’lláh, Edelsteine 16 [Bahá’u’lláh, Edelsteine göttlicher Geheimnisse, Auflage 2.03-online (2021-06-12), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2021]Q – erhält eine neue und entscheidende Bedeutung für diejenigen, die Ihn als die Manifestation Gottes für diesen Tag anerkennen. Es ist ein Aufruf zur Festigkeit im Bund. Die Antwort der Bahá’í-Gemeinde war ein unerschütterliches Festhalten an den Bestimmungen von ‘Abdu’l-Bahás Wille und Testament. Im Gegensatz zu weltlichen Machtverhältnissen, in denen eine souveräne Instanz Gehorsam erzwingt, wird die Beziehung zwischen der Manifestation Gottes und den Gläubigen sowie zwischen der durch den Bund bestimmten Autorität und der Gemeinde durch bewusstes Wissen und Liebe bestimmt. Indem der Gläubige Bahá’u’lláh anerkennt, tritt er freiwillig, als ein Akt des freien Gewissens, in Seinen Bund ein, und aus Liebe zu Ihm bleibt er standhaft darin, sich fest an die Vorgaben des Bundes zu halten. Jetzt, am Ende des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters ist die Bahá’í-Welt in der Lage, die Bestimmungen des Bundes von Bahá’u’lláh viel besser zu verstehen und danach zu handeln, und unter den Gläubigen ist ein besonderes Netz von Beziehungen geknüpft worden, die deren Energien in der Verfolgung ihrer heiligen Mission vereinen und lenken. Diese Errungenschaft war, wie so viele andere, die Frucht überwundener Krisen.
19
Die Existenz des Bundes bedeutet nicht, dass niemals jemand versuchen wird, den Glauben zu spalten, ihm Schaden zuzufügen oder seinen Fortschritt zu behindern. Aber der Bund garantiert, dass jeder derartige Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs versuchten einige machtgierige Personen, darunter auch die Brüder ‘Abdu’l-Bahás, die Autorität, die ‘Abdu’l-Bahá von Bahá’u’lláh verliehen worden war, an sich zu reißen, und sie säten die Saat des Zweifels innerhalb der Gemeinde, wodurch die Schwankenden geprüft und zuweilen bewusst in die Irre geführt wurden. Shoghi Effendi wurde während seiner Amtszeit nicht nur von denjenigen angegriffen, die den Bund gebrochen und sich ‘Abdu’l-Bahá widersetzt hatten, sondern auch von einigen Mitgliedern der Gemeinde, die die Gültigkeit der Administrativen Ordnung ablehnten und die Autorität des Hütertums in Frage stellten. Jahre später, nach dem Tod Shoghi Effendis, kam es zu einem neuen Angriff auf den Bund, als eine zutiefst fehlgeleitete Person, obwohl sie viele Jahre lang als Hand der Sache Gottes gedient hatte, einen haltlosen und vergeblichen Versuch unternahm, das Hütertum für sich selbst zu beanspruchen, trotz der klaren Bedingungen, die in Wille und Testament festgelegt waren. Nach der Wahl des Universalen Hauses der Gerechtigkeit wurde auch dieses zur Zielscheibe der aktiven Gegner der Sache. In den letzten Jahrzehnten haben einige wenige aus der Gemeinde, die sich als kenntnisreicher als andere darstellten, vergeblich versucht, die Bahá’í-Lehren in Bezug auf die Bestimmungen des Bundes neu zu interpretieren, um die Autorität des Hauses der Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen und – in Abwesenheit eines lebenden Hüters – bestimmte Vorrechte zu beanspruchen, die es ihnen ermöglichen würden, die Angelegenheiten des Glaubens in eine Richtung ihrer Wahl zu lenken.
20
Im Verlauf eines Jahrhunderts wurde der von Bahá’u’lláh geschaffene und von ‘Abdu’l-Bahá bewahrte Bund auf verschiedene Weise von inneren und äußeren Gegnern angegriffen, doch letztlich ohne Erfolg. Zwar wurden jedes Mal einige Personen in die Irre geführt oder entfremdeten sich, doch konnten die Angriffe die Sache Gottes weder in eine falsche Richtung lenken oder neu definieren noch einen dauerhaften Bruch in der Gemeinde verursachen. In jedem Fall wurden Fragen beantwortet und Probleme gelöst, indem man sich an das zur jeweiligen Zeit vorbestimmte Zentrum der Autorität wandte – ‘Abdu’l-Bahá, den Hüter bzw. das Universale Haus der Gerechtigkeit. In dem Maße, in dem das Verständnis der Gemeinschaft der Gläubigen für den Bund wuchs und ihre Festigkeit darin zunahm, lernte sie, immun gegen Angriffe und falsche Darstellungen zu werden, die in früheren Zeiten das Bestehen selbst und den eigentlichen Zweck des Glaubens bedroht hatten. Die Integrität der Sache Bahá’u’lláhs bleibt für immer gesichert.
21
Jede Generation von Bahá’í, wie groß auch immer ihre geistige Auffassungskraft sein mag, wird zwangsläufig nur ein begrenztes Verständnis der vollen Tragweite von Bahá’u’lláhs Lehren haben, auf Grund der Beschränkungen durch ihre eigenen geschichtlichen Umstände und die jeweilige Stufe der organischen Entwicklung des Glaubens. Beispielsweise mussten die Gläubigen im Heroischen Zeitalter des Glaubens ihren Weg durch eine Reihe von Übergangsphasen finden, die sie sicherlich zeitweise als verwirrend und revolutionär erlebten – von der Sendung des Báb zu derjenigen Bahá’u’lláhs und dann zur Zeit des Wirkens von ‘Abdu’l-Bahá – die alle, rückblickend und mit den erhellenden Erklärungen Shoghi Effendis, heute leicht als aufeinanderfolgende Akte in einem einzigen, sich nach göttlichem Plan entfaltenden Drama verstanden werden. So ist es heute, nach der unermüdlichen Arbeit der Gemeinde während eines vollen Jahrhunderts, dem ersten des Gestaltenden Zeitalters, gleichermaßen möglich, die Bedeutung, den Zweck und die Unverletzlichkeit des Bundes – jenes unschätzbaren Vermächtnisses Bahá’u’lláhs an Seine Anhänger – vollständiger zu erfassen. Das hart errungene Verständnis vom Wesen des Bundes und die Festigkeit, die eine solche Einsicht hervorbringt und aufrechterhält, werden auch weiterhin für die Einheit und den Fortschritt im Verlaufe der Sendung Bahá’u’lláhs von wesentlicher Bedeutung sein.
22
Es ist nun offensichtlich und fest begründet, dass der Bund Bahá’u’lláhs zwei autoritative Zentren vorsieht. Das erste ist das Buch: die Offenbarung Bahá’u’lláhs, zusammen mit der Gesamtheit der Werke ‘Abdu’l-Bahás und Shoghi Effendis, die die autoritative Interpretation und Darlegung des Schöpferischen Wortes darstellen. Mit dem Hinscheiden Shoghi Effendis ging die mehr als ein Jahrhundert währende Ausdehnung dieses Zentrums der Autorität zu Ende. Doch das Vorhandensein des Buches gewährleistet, dass die Offenbarung jedem Gläubigen, ja der ganzen Menschheit zur Verfügung steht, und zwar unverfälscht durch menschliche Fehlinterpretationen oder Zusätze.
23
Das zweite Zentrum der Autorität ist das Universale Haus der Gerechtigkeit, das, wie die Heiligen Schriften bekräftigen, unter der Fürsorge und unfehlbaren Führung Bahá’u’lláhs und des Báb steht. „Man darf sich nicht vorstellen, dass das Haus der Gerechtigkeit irgendeine Entscheidung nach seiner eigenen Auffassung und Meinung trifft“, erklärt ‘Abdu’l-Bahá. „Gott bewahre! Das höchste Haus der Gerechtigkeit wird durch die Erleuchtung und Bestätigung des Heiligen Geistes seine Entscheidungen treffen und Gesetze erlassen, denn es steht in der sicheren Obhut und unter dem Schutz und Schirm der Ewigen Schönheit.“ʻAbdu’l-Bahá zitiert in einem Brief des Universalen Hauses der Gerechtigkeit vom 27. Mai 1966 - Hütertum und Universales Haus der Gerechtigkeit, in: Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Ausgewählte Botschaften 1963-1996, S. 22Q „Gott wird ihnen wahrlich eingeben, was Er will“Bahá’u’lláh, Kalimát-i-Firdawsíyyih (Worte des Paradieses), in: Botschaften aus ‘Akká 6:28Q, verkündet Bahá’u’lláh. „Damit sind sie, und nicht die Gesamtheit ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Wähler“, so Shoghi Effendi, „zu Empfängern der göttlichen Führung gemacht, die für diese Offenbarung Herzblut und eigentlicher Schutz zugleich ist.“Shoghi Effendi, Brief vom 8. Februar 1934, in: Die Weltordnung Bahá’u’lláhs 6:120Q
24
Die Befugnisse und Aufgaben, mit denen das Haus der Gerechtigkeit ausgestattet wurde, umfassen alles, was notwendig ist, um die Erfüllung von Bahá’u’lláhs Ziel für die Menschheit zu gewährleisten. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist die Bahá’í-Welt unmittelbar Zeuge von deren Umfang und Ausdruckskraft, darunter die Verkündigung des Gesetzes Gottes, die Bewahrung und Verbreitung der Heiligen Schriften der Bahá’í, der Aufbau der Administrativen Ordnung und die Schaffung neuer Institutionen, die Gestaltung der aufeinanderfolgenden Etappen bei der Entfaltung des Göttlichen Plans, der Schutz des Glaubens und die Wahrung seiner Einheit sowie die Bemühungen, die zur Erhaltung der menschlichen Würde, zum Fortschritt der Welt und zur Erleuchtung ihrer Völker beitragen. Die Erläuterungen des Hauses der Gerechtigkeit lösen alle schwierigen Probleme, Fragen, die unklar sind, Probleme, die zu Meinungsverschiedenheiten geführt haben, und Angelegenheiten, die nicht ausdrücklich im Buch aufgezeichnet sind. Das Haus der Gerechtigkeit wird während der gesamten Sendung Bahá’u’lláhs den Erfordernissen der Zeit entsprechend Führung geben und so sicherstellen, dass die Sache Gottes, einem lebenden Organismus gleich, imstande ist, sich den Bedürfnissen und Anforderungen einer sich ständig verändernden Gesellschaft anzupassen. Und es gewährleistet, dass niemand das Wesen der Botschaft Bahá’u’lláhs abwandeln oder die wesentlichen Merkmale des Glaubens verändern kann.
25
Im Kitáb-i-Íqán fragt Bahá’u’lláh: „Welche ‚Trübsal‘ ist schmerzlicher als die, dass eine nach Wahrheit suchende, sich nach Gotteserkenntnis sehnende Seele nicht weiß, wohin sie sich wenden und wo sie suchen soll?“Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Íqán 1:29 [Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Íqán, Das Buch der Gewissheit, Auflage 6.01-online (2023-04-26), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2023]Q Eine Welt, die das Licht der Offenbarung Bahá’u’lláhs weitgehend noch nicht wahrgenommen hat, sieht sich in Fragen der Wahrheit, der Moral, der Identität und des Ziels zunehmend gespalten und desorientiert und ist verwirrt durch die sich beschleunigende zersetzende Wirkung der Kräfte des Zerfalls. Für die Bahá’í-Gemeinde jedoch bietet der Bund eine Quelle der Klarheit und der Zuflucht, der Freiheit und der Stärke. Jedem Gläubigen steht es frei, den Ozean der Offenbarung Bahá’u’lláhs zu erforschen, zu persönlichen Schlussfolgerungen zu gelangen, Einsichten demütig mit anderen zu teilen und sich zu bemühen, die Lehren Tag für Tag anzuwenden. Die kollektiven Bemühungen werden durch Beratung und die Führung der Institutionen harmonisiert und fokussiert, was die Verbindungen zwischen Einzelnen, innerhalb der Familien und von Gemeinden transformiert und den sozialen Fortschritt fördert.
26
Aus Liebe zu Bahá’u’lláh und gestärkt durch Seine ausdrücklichen Anweisungen finden Einzelne, Gemeinden und Institutionen in den beiden autoritativen Zentren des Bundes die notwendige Führung für die Entfaltung des Glaubens und die Bewahrung der Integrität der Lehren. Auf diese Weise schützt und bewahrt der Bund den Prozess des Dialogs und des Lernens über die Bedeutung der Offenbarung und die Umsetzung ihrer Verordnungen für die Menschheit im Verlauf dieser Sendung und vermeidet die schädlichen Auswirkungen endloser Auseinandersetzungen über Bedeutung und Umsetzung. Infolgedessen werden die ausgewogenen Beziehungen zwischen Einzelnen, Gemeinden und Institutionen gewahrt und entwickeln sich auf ihrem richtigen Weg, während alle in die Lage versetzt werden, ihr volles Potenzial zu erreichen, ihre Handlungsfähigkeit auszuüben und ihre Vorrechte wahrzunehmen. Daher kann die Bahá’í-Gemeinde vereint voranschreiten und zunehmend ihre lebenswichtige Aufgabe erfüllen, indem sie die Wirklichkeit erforscht und Wissen generiert, die Reichweite ihrer Bemühungen vergrößert und zum Fortschritt der Zivilisation beiträgt. Nach mehr als einem Jahrhundert wird die Wahrheit von ‘Abdu’l-Bahás Versicherung immer deutlicher: „Die Achse der Einheit der Menschenwelt ist die Kraft des Bundes und nichts anderes.“ʻAbdu’l-Bahá, Sendschreiben zum Göttlichen Plan 8:7 [abweichende Übersetzung]Q
Die Entfaltung der Administrativen Ordnung
27
Über die Bewahrung des Bundes hinaus legte ‘Abdu’l-Bahás Wille und Testament den Grundstein für eine weitere der bedeutendsten Errungenschaften des ersten Jahrhunderts des Gestaltenden Zeitalters: das Hervortreten und die Entwicklung der Administrativen Ordnung – die Frucht des Bundes. In einem einzigen Jahrhundert wuchs die Administration, die sich zunächst auf die Einrichtung gewählter Institutionen konzentrierte, an Umfang und Komplexität und entfaltete sich in der ganzen Welt, bis sie alle Völker, Länder und Regionen miteinander verband. Die Schriften Bahá’u’lláhs und ‘Abdu’l-Bahás, die diese Institutionen ins Leben gerufen haben, liefern auch die Vision und den geistigen Auftrag für diese Institutionen, die Menschheit beim Aufbau einer gerechten und friedlichen Welt zu unterstützen.
28
Durch die Administrative Ordnung Seines Glaubens hat Bahá’u’lláh Einzelne, Gemeinden und Institutionen als Protagonisten in einem zuvor nie dagewesenen System vereint. Gemäß den Erfordernissen eines Zeitalters der menschlichen Reife hob Er die traditionelle Praxis auf, wonach Geistliche die Zügel der religiösen Autorität in den Händen hielten, der Gemeinschaft der Gläubigen Anweisungen gaben und ihre Angelegenheiten leiteten. Um den Wettstreit konkurrierender Ideologien zu verhindern, zeigte Er die Mittel und Wege für Zusammenarbeit bei der Suche nach Wahrheit und beim Streben nach menschlichem Wohlergehen auf. Anstelle des Strebens nach Macht über andere schuf Er Vorkehrungen für die Kultivierung der verborgenen Kräfte jedes Einzelnen und deren Verwirklichung im Dienst am Gemeinwohl. Vertrauenswürdigkeit, Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit, Nachsicht, Liebe und Einigkeit gehören zu den geistigen Eigenschaften, die die Grundlage für die Zusammenarbeit der drei Protagonisten einer neuen Lebensweise bilden, während Bemühungen um gesellschaftlichen Fortschritt sich auf Bahá’u’lláhs Vision der Einheit der Menschheit gründen.
29
Zur Zeit des Hinscheidens von ‘Abdu’l-Bahá bestanden die Institutionen des Glaubens aus einer kleinen Anzahl örtlicher Räte, die auf grundverschiedene Weise arbeiteten. Nur eine Handvoll Organisationen waren auch über die örtliche Ebene hinaus tätig, und es gab keine Nationalen Geistigen Räte. Bahá’u’lláh hatte vier Hände der Sache im Iran ernannt, und ‘Abdu’l-Bahá leitete ihre Aktivitäten für den Fortschritt und den Schutz des Glaubens, aber abgesehen von vier posthumen Ernennungen erhöhte Er ihre Zahl nicht. Daher musste die Sache Bahá’u’lláhs, so reich gesegnet mit Geist und Potenzial, erst einen Verwaltungsapparat aufbauen, der sie in die Lage versetzen konnte, ihre Bemühungen zu systematisieren.
30
In den ersten Monaten seiner Amtszeit erwog Shoghi Effendi, das Haus der Gerechtigkeit sofort zu errichten. Nachdem er sich jedoch einen Überblick über den Stand des Glaubens weltweit verschafft hatte, kam er schnell zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für die Gründung des Hauses der Gerechtigkeit noch nicht gegeben waren. Stattdessen ermutigte er die Bahá’í überall, ihre Energien darauf zu konzentrieren, Örtliche und Nationale Geistige Räte zu errichten. „Die Nationalen Geistigen Räte gleichen Säulen, die nach und nach in jedem Land auf den starken und tragfähigen Grundmauern der Örtlichen Räte fest errichtet werden. Auf diesen Säulen wird das mächtige Gebäude, das Universale Haus der Gerechtigkeit, errichtet werden und sein edles Tragwerk über die Welt des Seins erhoben.“Shoghi Effendi, Brief vom 27. November 1929 an die Bahá’í des Ostens – übersetzt aus dem Arabischen und Persischen, in: Das Universale Haus der Gerechtigkeit 33:1 [Textzusammenstellung, Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Auflage 1.01-online (2022-04-25), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2022]Q
31
Indem er den Freunden half, ihre Arbeit beim Legen des Fundaments ihrer Gemeinde besser zu verstehen, betonte Shoghi Effendi, dass die Administrative Ordnung kein Selbstzweck sei, sondern ein Instrument, um den Geist des Glaubens zu kanalisieren. Er hob ihren organischen Charakter hervor und erklärte, dass die Bahá’í-Administration „nur die erste Formgebung dessen [ist], was in der Zukunft zum Gesellschaftsleben, zu neuen Gesetzen des Gemeinschaftslebens werden wird“, und dass „die Gläubigen erst damit [beginnen], sie richtig zu erfassen und anzuwenden“Shoghi Effendi, Brief vom 14. Oktober 1941 an einen Gläubigen, zitiert vom Universalen Haus der Gerechtigkeit in einem Brief vom 30. Juli 1972, in: Ausgewählte Botschaften 1963-1996, S. 91Q. Er erklärte auch, dass die Administrative Ordnung „Kern und Muster“Shoghi Effendi, Gott geht vorüber f.1:9 [Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, Auflage 6.03-online (2021-06-12), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2021]Q dessen sei, was schließlich eine neue Ordnung für die Organisation der Angelegenheiten der Menschheit werden würde, wie sie Bahá’u’lláh vorgesehen hat. Und so konnten die Freunde, als sie begannen, die Administration zu errichten, erkennen, dass die Beziehungen zwischen Einzelnen, Gemeinden und im Aufbau befindlichen Institutionen an Komplexität zunehmen würden, was im Laufe der Zeit ein Wachstum an Kapazität zur Folge haben wird, wenn der Glaube sich ausbreitet und ein neues Lebensmuster hervorbringt, das die Völker der Welt immer umfassender einbeziehen kann.
32
Durch einen ständigen Briefwechsel leitete Shoghi Effendi die Freunde Schritt für Schritt in ihren Bemühungen an, die Lehren, die die Administration betreffen, anzuwenden und ihr Verständnis für ihren Zweck, ihre Unerlässlichkeit, ihre Methoden, ihre Form, ihre Prinzipien, ihre Flexibilität und die Art und Weise ihres Wirkens zu vertiefen, wobei er ihnen die ausdrückliche Grundlage für diese in den Bahá’í-Schriften enthaltenen Aspekte bestätigte. Er half ihnen, das Verfahren der Bahá’í-Wahlen zu entwickeln, den Bahá’í-Fonds einzurichten und zu verwalten, die Nationaltagung zu organisieren, die Beziehung zwischen den Nationalen und Örtlichen Geistigen Räten aufzubauen sowie bei einer Vielzahl anderer Angelegenheiten. Er zerstreute die Zweifel und das Zögern derjenigen, die sich schwertaten, die wesentliche Kontinuität zwischen Kultur und Praxis des Bahá’í-Lebens zur Zeit ‘Abdu’l-Bahás und den Schritten zu erkennen, die er als Hüter unternahm, um die administrativen Grundlagen für die nächste Phase der Entwicklung des Glaubens zu legen. Während die Gläubigen ihre administrativen Angelegenheiten organisierten, beantwortete er geduldig ihre Fragen, löste Probleme und förderte das kollektive Leben der Bahá’í-Weltgemeinde. Allmählich lernten die Freunde, harmonisch zusammenzuarbeiten, die Entscheidungen ihrer Institutionen mitzutragen und deren Fortschritt zu unterstützen, und zu erkennen, dass sowohl Verständnis als auch Handlungsfähigkeit mit der Zeit zunehmen würden. Örtliche Räte begannen, nach einheitlichen Verfahren für Wahlen, Beratung, finanzielle Angelegenheiten und Führung des Gemeindelebens zu arbeiten. Nationale Räte wurden zunächst auf den Britischen Inseln, in Deutschland und Österreich, in Indien und Birma, in Ägypten und im Sudan, im Kaukasus, in Turkestan und in den Vereinigten Staaten und Kanada gebildet. In Übereinstimmung mit dem organischen Charakter der Administrativen Ordnung wurden Nationale Räte oft zunächst auf der Ebene einer Region eingerichtet, die mehr als ein Land umfasste, und erst später auf der Ebene einer Nation oder eines Territoriums, als sich die Zahl der Gläubigen und der Örtlichen Räte vervielfachte. Darauf folgend wurde eine Vielzahl verschiedener Ausschüsse gebildet, die sowohl auf örtlicher als auch auf nationaler Ebene ernannt wurden, um die kollektiven Bemühungen in einer Reihe von Bereichen voranzutreiben, darunter Lehren, Übersetzen, Veröffentlichen, Erziehung und Bildung, Pionieren und die Organisation von Neunzehntagefesten und Feiertagen.
33
Nach drei Jahrzehnten, die dem Aufbau der Administration auf örtlicher und nationaler Ebene gewidmet waren, leitete Shoghi Effendi in seinen letzten Lebensjahren eine neue Phase in der Entwicklung der Administrativen Ordnung ein, indem er Institutionen auf internationaler und kontinentaler Ebene ins Leben rief. Es begann mit der „lange erwarteten Entstehung und Einrichtung des administrativen Weltzentrums des Glaubens Bahá’u’lláhs im Heiligen Land“Shoghi Effendi, Cablegram 24 December 1951, in: Shoghi Effendi, Messages to the Bahá’í World: 1950-1957, p. 18 [Shoghi Effendi, Messages to the Bahá’í-World, Wilmette: Bahá’í Publishing Trust, 1971]Q. Im Jahr 1951 verkündete er die Gründung des Internationalen Bahá’í-Rates. Diese neue Institution, so erklärte er, würde verschiedene Stadien durchlaufen, in Vorbereitung ihrer Transformation und ihres Aufgehens im Universalen Haus der Gerechtigkeit.
weiter nach unten ...